

»Die Gene wissen, was sie fürchten müssen.« - Peter Watts' »Blindflug« (#34 Rezension)
Peter Watts Science Fiction Blindflug blindsight Rezension Besprechung Vampire Erstkontakt

Beurteilung
Die Handlung des Hard-SF-Romans »Blindflug« des kanadischen Autors und Meeresbiologen Peters Watts setzt in medias res ein. Die menschliche Welt ist im späten 21. Jahrhundert zu einer Welt der Simulationen geworden; der künstlich-intelligente Maschinenapparat ermöglicht eine Existenz in der Virtualität, im sogenannten »Himmel«, die viele Menschen der Wirklichkeit vorziehen. Im Jahre 2082, kurz vor der »Ankunft des Großen Digitalen Uploads«, wird die Menschheit jedoch von einem höchst realen Ereignis aus ihrem digitalen Freudetaumel geholt: Rund um den Erdball erscheinen feuerwerkähnliche Irrlichter in der Atmosphäre und geben Anlass zu den wildesten Spekulationen, etwa dass es sich um eine Fotoaufnahme der Erde handele, die eine außerirdische Macht zu einem unbekannten Zweck angefertigt habe. Zwei Jahre später werden erneut ähnliche Signale aus der Oort†™schen-Wolke, jenseits der Plutobahn, empfangen. Das hochentwickelte Raumschiff Theseus wird zu der Signalquelle entsendet. Es ist vollautomatisiert und hat nur deswegen eine fünfköpfige Besatzung an Bord, »weil bislang noch niemand eine geeignete Software für den Erstkontakt entwickelt hatte.«
Wie in Watts Tiefsee-Thriller »Abgrund« (1999), dessen Protagonisten sich ebenfalls aus Psychopathen rekrutieren, besteht auch in »Blindflug« die Mannschaft aus menschlichen Grenzgängern. Ihr Anführer ist der Vampir Jukka Sarasti - in der Zukunft sind Vampire aus uraltem Genmaterial rekonstruiert worden -, der als einziges Besatzungsmitglied im direkten Kontakt mit Theseus steht. Die Funktion jedes Einzelnen an Bord ist klar umrissen: »Isaac Szpindel, der die Fremden erforschen sollte. Die Vierergang - Susan James und ihre Sekundärpersönlichkeiten -, um mit ihnen zu sprechen. Majorin Amanda Bates, um im Notfall gegen sie zu kämpfen. Und Jukka Sarasti, mit dem Oberbefehl über uns alle, um uns wie Schachfiguren auf einem mehrdimensionalen Spielbrett hin und her zu schieben, das nur ein Vampir sehen konnte.« Die Handlung des Romans wird aus der Ich-Perspektive des sogenannten Synthesisten Siri Keeton vermittelt, der vor der Mission als KI-Forscher am Kurzweil-Institut angestellt war. Nach einer schweren Gehirnoperation in seiner Kindheit ist er zu der Empfindung von Gefühlen nicht mehr in der Lage. Gleichzeitig kann er dank besonderer Fähigkeiten zur Mustererkennung sowohl menschliches Handeln deuten als auch die Konsequenzen wissenschaftlicher Entdeckungen vorhersehen, - ohne diese selbst verstehen zu müssen. Die Forscher stoßen auf ein unförmiges Objekt nicht-irdischen Ursprungs in der Nähe eines Planeten: »Rundungen und Zacken waren zu erkennen, keinerlei glatte Kanten. Ich konnte nicht genau sagen, was von der Gestalt echt war und was von den Brechungen der Wolkendecke darunter herrührte. Doch das Objekt schien die Form eines Torus zu besitzen. [†¦] Dieses Ding, das sich im Schatten von zehn Jupitermassen verbarg, hatte etwa dreißig Kilometer Durchmesser.« Der Linguistin Susan James gelingt eine Kontaktaufnahme mit dem Objekt, das sich scheinbar mühelos des menschlichen Begriffs- und Vorstellungssystems zur Kommunikation bedient und sich selbst »Rorschach« nennt. Obwohl es ihnen verständlich macht, dass sie sich ihm lieber nicht weiter nähern sollen, betreten die Astronauten Rorschach und stoßen dort sogleich auf die »Scrambler«, menschengroße Tentakelwesen, die ihr Selbstvertrauen einer harten Belastungsprobe aussetzen. Die Riesen-»Blutkörperchen mit Armfortsätzen« leben in einer Symbiose mit Rorschach und sind in der Lage, die menschlichen Sinnesorgane zu stören. Die Gefangenahme zweier Scrambler führt zu einer gefährlichen Kettenreaktion, in der schließlich nicht nur das Alien-Artefakt, sondern auch der Super-KI Theseus den Machbarkeitswahn und die Kontrollillusion der menschlichen Konquistadoren ad absurdum führen. Der Synthesist Siri stellt sich im Laufe der Handlung als höchst unzuverlässiger Erzähler heraus, der überdies in der Begegnung mit dem Ganz-Fremden schnell seiner Rolle als nicht-teilnehmender Beobachter verlustig geht.
Auf ungewöhnliche Art spielt Watts Roman mit dem Motiv der Konfrontation mit Außerirdischen und erinnert dabei an die berühmten Lem-Romane »Stimme des Herrn« und »Der Unbesiegbare«, und vor allem »Solaris«, in dem ein absolut fremdartiger Ozeanplanet die menschlichen Forscher zum Narren hält. Wie Lems Ozean ist auch Rorschach in der Lage menschliches Bewusstsein zu manipulieren, obwohl er selbst aus Einheiten besteht, die kein eigenes Bewusstsein haben und aus dem Zusammenspiel von physischen und chemischen Strukturen entstanden sind.
Ungewöhnlich ist natürlich auch die Verwendung von Vampir-Figuren im Weltraum. Ohne über Gebühr die Pseudowissenschaft zu bemühen, versteht es Watts vorzüglich das dramatische Potential der Vampir-Mensch-Polarität auszuloten und so dem altbekannten Erst-Kontakt-Szenario seinen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. Bereits in der Exposition der Mannschaftsmitglieder aus der Sicht Siris wird die evolutionäre Dimension des Antagonismus deutlich, der über den harmlosen Grusel vieler Gothic-Romane hinausgeht: »Wenn Sarasti mich mit blossen Augen ansah, die nicht von einem Visor verdeckt wurden, schienen sich eine halbe Million Jahre einfach in Luft aufzulösen. Die Tatsache, dass seine Spezies ausgestorben war, spielte dann keine Rolle mehr. Dass wir so weit gekommen und in der Lage waren, unsere schlimmsten Albträume aus dem Grab wiederaufstehen zu lassen †¦ bedeutete nichts. Die Gene lassen sich nicht täuschen. Sie wissen, was sie fürchten müssen.«
Wie Lem macht es Watts Spaß die Grenzen der menschlichen Wahrnehmungskraft aufzuzeigen, die auch vom modifizierten Menschen nicht überschritten werden können. Sein Roman überzeugt vor allem in der faszinierenden Diskussion der Möglichkeiten fremder Intelligenzformen, die ausdrücklich nicht auf Bewusstsein fußen und sich wie die Scrambler ohne Gene entwickelt haben. So phantastisch diese Alien-Phantasien manchmal sind, bleiben sie dennoch - dies ist das erklärte Ziel von Watts - »in biologischer Hinsicht plausibel« und werden in sinnvoller Weise mit der spannenden Rahmenhandlung verbunden. Auch die insgesamt recht pessimistisch anmutende Extrapolation der sozialen und psychologischen Facetten des Kurzweilschen Menschen, der trotz seiner künstlichen Bauteile und chirurgischen Modifikationen im Kosmos das Scheitern lernt, kann man als überaus gelungen bezeichnen. Spaß macht die Lektüre schließlich dank vieler literarischer und cineastischer Querverweise innerhalb und außerhalb des SF-Genres. Diese Inspirationsquellen und Referenzen mindern dabei keineswegs die Tatsache, dass Watts einen eigenen Stil gefunden hat, der auf weitere SF-Meilensteine hoffen lässt. (bf)
Gesamteindruck: ++++ (4,5 / 5)
Bibliografische Angaben: Peter Watts: Blindflug [Blindsight]. Übers. aus dem Englischen von Sara Riffel. München: Heyne, 2008. 494 S. ISBN: 978-3453523647. EUR 9,99.
[Rezension zuerst erschienen im Heyne Science Fiction Jahr 2009.]

Peter Watts kommt übrigens am 03.05 ins Berliner Otherland.