

Descender. Sterne aus Blech (Lemire / Nguyen 2015, Bd. 1; Rezension, #43)
Comic Science Fiction Descender Splitter Roboter Roboterkind Androiden
Rezension
Der nunmehr auf Deutsch vorliegende erste Band des SF-Comics »Descender« von dem US-amerikanischen Autor Jeff Lemire war nach den Maßstäben der Bücherwelt bereits überaus erfolgreich. Denn kaum war die Originalausgabe in den Läden, bekamen Lemire und sein Zeichner Dustin Nguyen Besuch von Hollywood-Vertretern, die sich um die Filmrechte bewarben. Sony Pictures erhielt den Zuschlag und es verdichten sich seitdem die Gerüchte, dass tatsächlich irgendwann ein Film unter der Ägide des Produzenten Josh Bratman in die Kinos kommt. Diese Vorgeschichte ist recht ungewöhnlich, bedenkt man, dass nicht erst seit Steven Spielbergs Spielfilm »A.I. - Künstliche Intelligenz« Geschichten mit einem Roboterkind als Hauptfigur alles andere als neu sind. Somit stellt sich die Frage, ob und wie es dem Duo Lemire und Nguyen gelungen ist, der Roboter-Thematik neue Facetten abzugewinnen.
»Descender« spielt in einem fernen Sternensystem mit dem Planeten Niyrata als seinem kulturellem Mittelpunkt. Die Menschheit und diverse Alien-Völker haben sich in dem Vereinten Galaktischen Rat zusammengeschlossen. Als eines Tages gigantische Roboter-Raumschiffe - Harvester genannt - über den Hauptwelten der Menschen auftauchen und sogleich zum Angriff übergehen, sind diese trotz ihrer fortgeschrittenen Technik machtlos. Da die Harvester so schnell verschwinden, wie sie gekommen waren, richtet sich der Hass der überlebenden Menschen gegen die eigenen Roboter als Sündenböcke. In der Folge werden sie in einer als Robocaust bezeichneten Vergeltungsmaßnahme vollständig ausgelöscht - beinahe vollständig. Denn zehn Jahre später - hier setzt die Handlung des Comis ein - erfährt der Roboter-Forscher Dr. Quon von Militärs der Regierung, dass ein Abgleich von Maschinencodes einen Zusammenhang zwischen den Harvestern und seinen eigenen Geschöpfen, den Tim-Androiden, hergestellt hat. Zudem soll ein junger Androide namens Tim-21 noch existieren. Er soll Lebenszeichen von dem Bergbau-Planeten Dirishu gesendet haben, obwohl dort alle Kolonisten bei einem Gas-Unfall umgekommen sein sollen. Bevor die Regierungsagenten den Androiden bergen können, wird Tim-21 von sogenannten Schrottern, radikalen Roboterfeinden, aufgespürt. Schwer verletzt überlebt der Android ihren Angriff, weil ihm der Bergbau-Droide ›Bohrer‹ - deus ex machina - zu Hilfe kommt. Der zwischenzeitlich eingetroffene Dr. Quon vermag Tim-21 zu reparieren und für Tesla, die Anführerin des Rettungskommandos, besteht die Hoffnung, dass sie von Tim erfährt, »was die Harvester sind - oder ob sie zurückkommen«. Doch kaum treten der Android und seine Retter die Rückreise an, werden sie von einer Elite-Einheit der Schrotter abgefangen: Tim-21 ist wieder mal in höchster Gefahr.
Diese Inhaltsangabe macht deutlich, dass Lemire auf der narrativen Ebene des Comics auf wichtige Motive der Science Fiction, aber auch Kinderliteratur - zum Beispiel das unschuldige Kind als Menschheitsretter - Bezug nimmt. Da Hintergrundinformationen meistens über die Dialoge vermittelt werden, ist die Erzählweise flüssig und stellenweise humorvoll. So kann Bohrer, der Beschützer von Tim-21, sicherlich nicht für sich beanspruchen, die hellste ›Glühbirne‹ im Weltraum zu sein. Und doch sorgt er durch wortkarge wie glasklare Ansagen à la Bud Spencer für manch einen Lacher. Besonders gelungen ist »Descender« auf der grafischen Ebene. Nguyens originelle Aquarellzeichnungen werden sicherlich bei vielen, nicht zuletzt erwachsenen SF-Fans gut ankommen. Die Bildgestaltung setzt zudem inhaltliche Akzente, wenn z.B. durch eine rosafarbene Tönung des Panelhintergrunds kritische Zustände und Emotionen der Hauptfigur zur Geltung gebracht werden. Und als Tim-21 nach einem Laserangriff der Schrotter mit einem Systemschaden k.o. geht, spiegelt sich sein bisheriges Leben in kleinen wabenförmigen Bildern wider, die über seinem Kopf aufsteigen. Schließlich entwickelt Nguyen in der Darstellung der Schrotter eine eigene Ästhetik der Hässlichkeit, die die klare Gut-Böse-Unterscheidung der Handlung durch die Groteske des anspruchsvollen Horrors bereichert. Es sind neben der Grundthematik des Bandes solche gestalterischen Umsetzungsideen, die neugierig machen auf den Fortlauf der »Descender«-Serie. (bf)
Gesamteindruck: ++++ (4 / 5)
Bibliografische Angaben: Jeff Lemire (Text), Dustin Nguyen (Zeichnungen): Descender. Sterne aus Blech. Übers. von Bern Kronsbein. Bielefeld: Splitter, 2015. 144 S.. 22,80 EUR. ISBN-13: 978-3958391666.
(Erstveröffentlichung dieser Rezension in: Sascha Mamczak und Hannes Riffel (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr 2016, Berlin: Golkonda 2016.)
