Hallo zusammen,
bevor ich meine Gedanken zum Essay wiedergebe, möchte ich mich kurz vorstellen.
An und auch für sich heiße ich Martin, nehme mir jetzt endlich die Zeit, in diesem wunderbaren Forum zu lesen und zu diskutieren, obwohl ich schon einige Jahre angemeldet bin, und freue mich auch auf meine ersten Lesezirkel.
Den Artikel fand ich ziemlich interessant und lesenswert. Typisch Essay, spiegelt er wunderbar die Meinung des Autors, teils überspitz, wider und hat mich auf jeden Fall schün zum sinnieren angeregt, auch wenn ich anderer Meinung bin.
Wie schon etliche geschrieben haben, sehe ich Kulturgut ebenfalls als etwas an, was nicht persönlich aufgenommen oder aufgestellt wird, sondern als Konsens einer großen Gruppe oder gar Gesellschaft, die gleiche Werte leben, die eben in den zahlreichen Schaffenswerken, eben der Kulturgüter, resultieren.
Interessant finde ich zum Thema Kultur grundsätzlich immer, den Unterschied, aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen Kultur und Zivilisation. Im Deutschen sind die Leistungen einer Zivilisation ja zunächst mal wertungsfrei zu betrachten, wie beispielsweise naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Bauwerke ganz aus der Sicht der Ingenieure betrachtet, auch Geschichte als Fachwissenschaft gesehen und ähnliches. Erst die Kultur erstellt doch eine Wertung dieser Dinge und innerhalb einer Lebensgemeinschaft wie einer Gesellschaft, wird bewertet, wie und ob diese Errungenschaften verwendet werden. Als enormes Beispiel sehe ich hier immer die Kernphysik. Zivilisatorisches gesehen zunächst einmal Erkenntnisgewinn. Erst die Kultur einer Gesellschaft macht sie zu etwas vermeindlich bösem oder gutem. Und auch werten unterschiedliche Kulturen das gleiche womöglich vollkommen unterschiedlich. Ob die Atombombe gut oder schlecht ist, lässt sich doch eigentlich nur im Kontext bewerten. Wer ihre Folgen direkt erlebt hat, urteilt doch höchst wahrscheinlich anders, als derjenige, der durch die Bedrohung für den Gegner sich in Sicherheit wähnt. Als meine Frau vor etlichen Jahren an Krebs erkrankte, waren wir jedenfalls sehr froh darüber, dass die Cobaltstrahlung soweit erforscht wurde, um zu heilen.
In den meisten anderen Sprachen, zumindest aber im Englischen sind die Bedeutungen der Begriffe Kultur - Zivilisation bzw. culture - civilization, im Vergleich zum Deutschen ja vertauscht, was auch immer wieder zu Übersetzungsfehlern führt. Der "Clash of Civilizations" ist eben der "Kampf der Kulturen".
Ich jedenfalls verstehe unter Kulturgütern eben jene Werke, welcher Art auch immer, die Werte und auch Normen, auch wenn letzterer Begriff ja oft ungern verwendet wird, einer Gesellschaft als Kultur widerspiegeln oder dazu anregen, zu entwickeln, in welche Richtung auch immer. Kulturell wertvoll bedeutet in diesem Sinne für mich, dass das Werk (Literatur, Gemälde, Komposition, was auch immer) mich oder denjenigen, der sich mit ihm auseinandersetzt, bildet. Und dieser Begriff der Bildung ist ja ebenso schwer wieder zu beschreiben. Ein Roman, der unterhalten soll, bildet doch letztendlich den Leser nicht - was den Roman überhaupt nicht bewerten soll - bedeutet doch überspitz, wenn man diesen Roman liest, ist man letztlich noch der selbe Mensch, geistig und philosophisch gesehen. Ein Bildungsroman, als Teil welcher Kultur auch immer, verändert den Leser nachhaltig, in seiner Haltung, in seiner Wertung der Dinge, in seiner Moral,in seinem künftigen Handeln.
So gesehen hat Gelfert recht, wenn er schreibt, dass in den letzten Jahrzehnten die Kultur von der Mehrheit konsumiert wird, also nichts oder wenig hängen bleibt, die Leute eben nicht sich bilden konnten. Übrig bleibt nach diesem Konsum nur Unverwertbares, also Müll. So weit so gut.
Aber: war das denn jemals anders? Ich glaube kaum, dass Mozarts Zeitgenossen seine Musik besser oder anders verstanden haben, ebenso wenig wie ich. Ich versuche bis heute dahinter zukommen, was genau damit gemeint ist, eine Musik zu verstehen. Im Moment glaube ich, dass verstehen bedeutet, dass man gelernt haben muss, sie aufzunehmen, ihre verschiedenen Klänge zu unterscheiden, um sie zu mögen oder sie abzulehnen. Trotzdem liebe ich Mozarts Musik. Und mit gutem Heavy Metal ist es eigentlich nicht anders, aber nun endlich zurück zum Thema.
Ich kann mir also beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Zeitgenossen von, aus heutiger Sicht, hoher Kultur schaffender Menschen, sich mehr mit den Werken ernsthaft beschäftigt haben, als heute. Glaubt Gelfert denn, dass die Bauern Preußens am Abendtische über Kants Abhandlungen oder Sachsens Bergleute über Goethes Werther diskutiert haben?
Dass etliche Musikaufführungen damaliger Zeit auch schon ein Event darstellten, haben ja schon viele geschrieben.
Ich glaube, dass viele in den Medien Tätige - wer Wortspiele mag, spricht vielleicht auch von Tätern - vergangene Zeiten gerne überhöhen, indem sie die paar wenigen, die damals herausragten, noch weiter emporheben. In diesem Fall die angeblichen Massen, die sich kulturell gebildet haben, statt nur zu konsumieren. Das zum Einen.
Zum Anderen denke ich, dass uns westlichen Gesellschaften einfach auch der historisch herausragende, aktuelle Anlass fehlt, um hohe Kulturgüter zu schaffen. Ohne die Gegenwart herunterspielen zu wollen, aber was ist denn in den letzten Jahrzehnten Großartiges geschehen. Na klar, uns Deutschen wurde die Wiedervereinigung beschert, letztlich das große politische und gesellschaftliche Ereignis. Aber was ist sie denn gegen Ereignisse oder Prozesse, wie die Französische Revolution, die Aufklärung und die Befreiung der Stände. Im 19. Jahrhundert und bis zur ersten Hälfte des 20. gab es doch weit größere Umwälzungen, als die der letzten Jahrzehnte, da wäre doch eine Wiedervereinigung zwischen einem Teil der deutschsprachigen Staaten nur ein Ereignis von vielen gewesen. Gelfert schreibt von Kafka und Brecht, außer Acht lässt er einfach mal die gesellschaftlichen Umstände deren Zeit. Exzessive Monarchien, ein verkrüppelter Versuch der Demokratie und ein beispielloses Führertum und fast wie nebenbei zwei Weltkriege. Die Bedeutung der Wiedervereinigung und auch Kriege wie in Afghanistan, deren Opfer ebenso beklagenwert sind, kann nicht nur im Vergleich mit der von Gelfert herangezogenen Zeit heruntergespielt werden, sie erledigen das durch ihr Wirken von ganz allein.
Solch eine vergleichsweise reizarme Zeit schafft bringt einfach keine bedeutsamen kulturellen Werke hervor, denke ich.
Zu dieser Denkweise hat mich mein früherer Geschichtslehrer geprägt, der in den Neunziger Jahren sagte, dass die damals aktuellen Krawalle und Ausschreitungen rechter und linker Gruppierungen, wie Kinderspiele gegen die regelrechten Schlachten gleicher Parteien in den Zwanzigern wirkten, und er froh sei, in der heutigen Zeit zu leben.
Vielleicht Herr Gelfert, ist die Zeit, in der wir Leben, gar nicht so schlecht, man muss jedoch auch erkennen.
Es grüßt Euch,
Martin
Bearbeitet von Typus, 30 April 2015 - 19:11.