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»Endstufe« von Thor Kunkel


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8 Antworten in diesem Thema

#1 molosovsky

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Geschrieben 30 Juni 2004 - 14:25

Hallo alle beieinander. Ha, mein erster Thread. Seit einigen Monaten beschäfigt mich der »Endstufe«-Skandal. Ich selbst habe das Buch schon deslängeren erwartet, und meine Reaktion auf die Denunziationenn und Empörungen vor Buchveröffentlichung, kann man in meinem Blog-Eintrag »Verlag mag nicht« nachlesen. In den letzten Tagen hat der durchaus klasse Phantastik/SF-Autor Alban Nicolai HerbstThetis.Anderswelt) eine beachtenswerte, gerechtere, unaufgeregte Kritik zum Roman von Kunkel bei sich ins Netz gestellt. Ich selbst schätze Thor Kunkel seit »Das Schwarzlicht Terrarium« sehr und entsprechend ungestresst und unverwirrt war mein Zugang zur »Revanchisten-Fiktion«. Meine Lesehaltung ist (naja) von Phantastik geprägt und in »Endstufe« wird nicht wenig und nicht sachte gewoben mit Themen wie Technik, Fortschritt, Wissenschaft, Unterhaltung, Pornographie usw. Nun ja, ein wilder Punsch eben, für micht nicht ganz unverständlich, daß manche da paranoid erschrocken reagieren. »Endstufe« (wie alle Kunkel-Bücher) legt inhaltlich, stilistisch/dramaturgisch und vom Themen-Material durchaus immer wieder ein wenig SF-Charakter an den Tag, und sei es, daß die zugrundeliegenden Sachsenwald-Naziporno-Filme nicht authentisch, also nur in der Fiktions(spiegel)welt des Romans »echt« sind. Nun ja, es steht »Roman« vorne drauf. Zudem leiste ich mir als Privatmann den Luxus, Wirbel und Reibungen im Medienbetrieb von den Produkten desselben zu unterscheiden und genieße Fiktionen und Nachrichten entsprechend unaufgeregter als termin- und auflagenverpflichtete Lohnschreiber. Sicherlich stellten die Macher (Rowohlt, Kunkel, Eichborn) sich nicht immer ganz geschickt an. Die ekstatische moralische Entrüstung und Aburteilung des Romans (wenn nicht als Werk des Bösen, so doch des gründlich Danebengegangenen) durch die meisten Rezensenten und Kritiker hat sich kaum je wirklich auf den Stoff eingelassen. Zudem stellt ein - in meinen Augen - anspruchsvolles und herausforderndes Narrationsprodukt wie »Endstufe« das Grosse der Kritikerschaft anscheinend vor unüberwindbare Verständnisprobleme. Nun ja, ich will hier und jetzt auch gar nicht im Einzlenen das Gewese kommentieren. Wollte mal kund geben, daß dieser Roman durchaus eine aufregende, interessante und ideenreiche Lektüre für Phantastik/SF-Leser bietet (Herr Herbst schreibt das besser als ich hier). Wie ist Eurer Standpunkt (so vorhanden) zu dem Skandal, und dem Buch? Grüße Alex / molosovsky

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#2 Henrik Fisch

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Geschrieben 30 Juni 2004 - 18:22

Hallo molosovsky,interesant, was Du da schreibst. Ich hatte beim Lesen des Spiegel.de-Verisses zu "Endstufe" auch den Eindruck, dass hier ein Autor ein Thema zum Thema macht, weil sonst weit und breit nichts in Sicht ist. Man kann durchaus sagen, dass man das Buch nicht mag. Aber so weit unter die Gürtellinie wie bei Spiegel.de kommen nur selten Texte vor.Im übrigen bin ich der Meinung, dass der Skandal eher durch eine in den letzten Monaten vielleicht übertriebene - ich drücke das hier bewusst vorsichtig aus - Empfindlichkeit gegenüber unsensiblem Umgang mit der Deutschland-Vergangenheit und dem Antisemitismus herrührt. Pornographie und Nazium sind halt sowieso zwei Reizworte und wenn die dann auch noch zusammenkommen, dann passiert das was passiert ist; egal ob die Geschichte erfunden ist oder nicht.Ich habe mir Herrn Kunkels Erstlingswerk "Das Schwarzlicht-Terrarium" ganz bewusst aufgrund des Skandals zu seinem aktuellen Buch gekauft. Die letzte Seite habe ich heute umgeblättert und bin, wenn auch nicht begeistert, so doch einigermaßen beeindruckt. Ich habe mir schon überlegt, ob ich hier im Forum einen entsprechenden OT-Thread zu dem Buch starten soll. Denn eigentlich muss das jeder Literaturbegeiserte, und dazu zähle ich unsere illustre kleinen Gemeinde, einmal gelesen haben. Jedenfalls habe ich den Eindruck, das jemand mit diesem Schreibstil und seiner Wahl sich auszudrücken kaum einen Nazi-Roman schreiben kann. Und wenn dann doch wohl eher um zu schockieren; im positivsten Sinne.Aber wir leben ja in einem Land, in dem "Mein Kampf" verboten ist (wenn ich mich nicht irre), auf dass kein Bundesbürger selber und legal die Chance hat zu erkunden, wie schwachsinnig der damalige stärkste Mann Deutschlands war. Armes Deutschland."Endstufe" steht jedenfalls auf meiner Leseliste. ^_^Bis dennen,Henrik Fisch
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#3 molosovsky

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Geschrieben 02 Juli 2004 - 14:24

Hallo Henrik,

Jedenfalls habe ich den Eindruck, das jemand mit diesem Schreibstil und seiner Wahl sich auszudrücken kaum einen Nazi-Roman schreiben kann. Und wenn dann doch wohl eher um zu schockieren; im positivsten Sinne.

Interessant †¦ ging mir ähnlich, wenn vielleicht auch mit mehr Vorfreude. Wenn man Stil unterscheidet in vormodern (klassisches Erzählen - heute noch dominierend auf dem Romansektor) und modern (kein objektiver Halt mehr, ergo Formkrassheit), dann ist Kunkel sicherlich einer unserer besten modernen Autoren. Das »Schwarzlicht Terrarium« hat für mich als Horrorshow der Diskoära in der Verwöhnungsblase der späten Siebziger in Frankfurt hervorragend funktioniert. »Enstufe« ebenso, wenn hier auch die Absurditäts- und Bad-Taste-Schraube weiter getrieben wurde. Einen (OT-)Thread von Dir dazu würde ich gerne sehen, allein schon, wie Du das Buch hier vorstellen würdest macht mich neugierig. Gruß alex / molosovsky P.S.: Henrik, auf Deiner Leseliste sehe ich, daß Du »The Scar« (deutsch: »Die Narbe« und »Der Leviathan«) durch hast. Wie in einem anderem Thread schon von jemand anderem geäußert, überrascht auch mich die bisherige Stille zu China Miévelles Romanen in deutschen SF/Phantastik-Foren ein wenig. Wie schauts, wollen wir uns vornehmen das bald mal zu ändern? Ich selbst hielt mich bisher zurück, weil ich den extrem hohen Lesegenuß niemanden mit meinem pedantischen Ästhetikgeschwätz vergällen mochte. Inzwischen dürfte aber genug Zeit rum sein, um »Perdido Street Station« und »The Scar« anzugehen.

Bearbeitet von molosovsky, 02 Juli 2004 - 14:26.

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#4 Henrik Fisch

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Geschrieben 08 Juli 2004 - 11:54

@molosovsky:

Einen (OT-)Thread von Dir dazu würde ich gerne sehen †¦

Na, dann werde ich noch einmal in meinen Erinnerungen schwelgen und mir einen Buchbesprechung aus den Fingern quetschen. Vor dem Wochenende wird das aber nichts.

Wenn man Stil unterscheidet in vormodern (klassisches Erzählen - heute noch dominierend auf dem Romansektor) und modern (kein objektiver Halt mehr, ergo Formkrassheit) †¦

Diese Einstellung, die von Dir als „modern“ bezeichnete, ist, glaube ich, der Schlüssel für das Lesevergnügen zum ersten Kunkel-Buch. Mich hat der Schluss dann doch etwas verwundert, denn irgendwie hatte ich mir mehr erhofft. Mehr dazu aber dann in der eigentlichen Buchbesprechnung.

Wie schauts, wollen wir uns vornehmen das bald mal zu ändern?

Jepp, auch dazu sollte einer von uns beiden einen Thread starten. Mal sehen, womit ich zuerst anfange †¦ *uff* †¦ :lol:

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#5 molosovsky

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Geschrieben 09 Juli 2004 - 09:00

Hallo Henrik,also abgemacht, Du machst »Schwarzlicht Terrarium« und ich bereite was zu Miéville und seine Welt Bas-Lag vor.Grüßemolosovsky / alex

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#6 molosovsky

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Geschrieben 18 Juli 2004 - 18:54

So, inzwischen habe ich eine allgemeine Betrachtung zu »Endstufe« fertig und in mein Blog gestellt.

An Trailer gibts hier nur den Schluß meiner Betrachtung: »Endstufe« von Thor Kunkel, oder: An welcher Form von inverser Eitelkeit krankt Molosovsky, wenn er gerne in solch einen schwarzen Spiegel schaut?, und damit sich-Fragende hier ersehen können, weshalb dieser Roman durchaus in den Bereich SF gehört (wenn auch nicht ins Zentrum, ehr in den Graubereich am Rande).

BEGINN TRAILER
Mit dem Fiktionsvertrag ins Dritte Reichâ„¢
Vielleicht hätten mehr Rezensenten eine wohlwollendere Haltung gegenüber »Endstufe« gefunden, wenn der Roman sich weniger auf die Kokurrenz mit grellen und überzeichneten Narrationswelten, weitestgehend schon gewöhnlich bei Filmen, Bildliteratur und PC-Spielen, eingelassen, und sich zudem eines gemäßigteren oder erhabenerem Tons bedient hätte. Da mir das Buch gefallen hat, darf ich vielleicht eine Erklärung anbieten, warum der Autor mit seinem Buch und die Kritiker mit ihren Erwartungen sich beim Aufeinandertreffen weitestgehend mißverstehen mußten: Kunkel und Eichborn wiesen zu wenig auf den Komik- und Satireaspekt hin, wo die Kritiker doch einem Tatsachen-Enthüllungsroman entgegengefibbert haben. Bei solchen Ausgangspositionen nimmt es nicht wunder, daß faire Formen des Fiktionsvertrages nur selten zustande, und bislang kaum zur Sprache gekommen sind.

Betrachtet man eine Romanlektüre unter dem Gesichtspunkt des Fiktionsvertrages, wird Vertrauen zu einer entscheidenden Bedingung, und die Kontroverse um »Endstufe« stellt sich dann vor allem als aufgeregte Verunsicherung darüber dar, welche narrativen Bespiegelungen des Dritten Reiches zulässig sind und welche eben nicht. »Endstufe« bietet sich als Provokationsfiktion an, die als ernsten Basso Continuo die monströsen Diskurse zur Biopolitik und Anthropotechnik brummen, andererseits sprachparodistisch und thriller-komödiantisch Trivialgenre-Register präludieren läßt. Das Panorama, das »Endstufe« entfaltet, paart Zynik mit Slapstik, reiht Monströses an Haarsträubendes, jongliert mit Zitaten unterschiedlichster Herkunft und ratlos machenden Hinweisen. Selbst aus einer Nasenklammer - ohne die im Schlaf zu ersticken sich der Protagonist Fußmann panisch ängstigt -, wird ein Symbol des technikvertrauenden Menschen.

Es gehört zu den Fähigkeiten von Romanen, den Lesern Trost und Hoffnung zu spenden, Halt und Rat zu bieten, oder auf sinnlich-touristische Gedankenreisen mitzunehmen, und wie bereitwillig wird den Autoren denen solche Bücher gelingen Respekt und Lob entgegengebracht. Fern von solchen Annehmlichkeiten, kann man in »Endstufe« schon ziemlich vergeblich nach unbedenklichen Identifikationsfiguren für entspannungsbedürftige Leser suchen (abgesehen vielleicht von einem Frankfurter Privatdetektiv, dessen Recherchen nach dem in Amerika verschollenen Fußmann das Buch abschließen {oder für die ganz Abgebrühten: vielleicht Heinz Rühmann mit seinen Cameoauftritten als Spanner?}).
Keine Helden, keine poetische Moral, nur menschliche Abgründe und moralische Sprengsätze. Wer Fiktionsverträge mit »Endstufe« eingegangen ist, die zu Interpretationen führen, daß Kunkel den Holochaust nichten wolle, hat zum Beispiel die Furcht des Protagonisten vor dem KZ, daß ihm als kapitaler Sittenstrolch droht überlesen (S. 180), wie auch auffälligere Hinweise auf die Selektions- und Todespolitik des NS-Regimes. Thor Kunkel stellt noch vor Handlungsbeginn die Höllenfahrtscharakteristik und die auf den Kopf gestellten Konvention des Buches klar, beginnend mit hybriden Widmungspersonal

Für Jesus, Nietzsche, Mohammed{†¦}

fortfahrend mit punkderber Oswald Spengler-Zitatverfremdung als eines der beiden Motti

Das Geld wird nur vom Blut {durchgestrichen, darüber:} Sex überwältigt und aufgehoben.

bis zum zweiseitigen Vorspann mit einer Opiumrauschvision über das heutige Berlin des Lebensborngynäkologen Pfister {Fickprotokollautor der Sachsenwaldfilme}, nebst seinen alternativen Rassegesetzten

1: Legislativ richtig ist, was evolutionär richtig ist.
2: Keine Jurisdiktion ohne genetisches Zeugnis.
3: Ist die Exekutive sexy, freut sich der Exekutierte.

Zumindest ich konnte mich nicht hineinsteigern in die Annahme, daß »Endstufe« beansprucht, eine argumentativ wohlbesonnene und beruhigend dargebrachte Narration zu sein.

Als Comicleser habe ich schließlich anerkennend genickt, als im Lauf des Handlungshollerdimott sogar auf das Superheldenmotiv und seine Herkunft (Doctor Magneto - Seite 487) angespielt wurde. Indem der Schluß ambivalente Lesarten zuläßt - entweder als Fußmanns Sehnsuchtshalluzination nach seiner toten Angebeteten, oder als indirekte Schilderung einer science-fictionhaften Begegenung der »elektrozoischen« Art -, lädt »Endstufe« seinen letzten Spott auf Humanismusutopien ab, in denen man für sich zwar beansprucht wie ein Vegetarier zu denken, sich aber wie ein Fastfoodkunde benimmt.
ENDE TRAILER

Grüße
molosovsky / alex

Bearbeitet von molosovsky, 18 Juli 2004 - 18:57.

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#7 Henrik Fisch

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Geschrieben 19 Juli 2004 - 10:22

@molosovsky:

»Endstufe« bietet sich als Provokationsfiktion an, die als ernsten Basso Continuo die monströsen Diskurse zur Biopolitik und Anthropotechnik brummen, andererseits sprachparodistisch und thriller-komödiantisch Trivialgenre-Register präludieren läßt.

Brmpfsklmph?!? Ich bitte um eine Übersetzung. :confused:

Nichts desto trotz denke ich mal, dass ich das Buch demnächst angehen muss.

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Geschrieben 19 Juli 2004 - 12:02

Hallo Henrik.

Provokationsfiktion: ausgedachte Geschichte, die als Herausforderung daherkommt.

Basso Continuo: wie bei Passacaglia von J.S. Bach oder anderer entsprechender Barock-Musik (Händel, Purcell). Ein ständig sich wiederholendes Grundthema über dem die anderen Stimmen sich frei bewegen.

Biopolitik: positive Bezeichnung von dem, was man auch Todespolitik nennen könnte. Was darf Leben, was soll ausgemerzt werden? Auch: Politik darüber, wie man Lebendes manipulieren darf. Trivial gesprochen, ist z.B. ein Kammerjäger der Vollstrecker des biopolitischen Imperativs, daß Schaben in menschlichen Wohnräumen nicht leben dürfen. Bei Pflanzen- und Tierzucht noch nicht sooo heikel besetzt, aber dann bei†¦

Anthropotechnik: Begriff wurde geprägt von Sloterdijks Rede über Regeln für den Menschenpark der sehr nüchtern und vorsichtig war und auch schon viel »Wollen wir gar nicht zur Kenntnis nehmen«-Hysterie entfachte.
Bedeutet: Eingriffe in die (evolutionäre) Entwicklung des Menschen. Im weitesten Sinne gehört dazu schon die Erziehung (»Zucht und Anstand«) - so ist die antiautoritäre Erziehung eine Gegenpendelbewegung zu den rigiden Pädagogiken der Schulmeisterzeit. Siehe Hitler-Jugend oder auch Burgess/Kubriks »Uhrwerk Orange« oder Kubriks »Full Metall Jacket«. Bei letzterem heißt es ganz deutlich: aus Menschen werden Killermaschinen GEMACHT.
Spätestens mit der Gentechnik wird es richtig unheimlich. Also pränatale Diagnostik und Selektion (verwerfend oder bevorzugend) oder Klonung von menschlichen Leben. Siehe auch: Jesusgleichheit des geklonten Mensch, da er durch technisches nicht sexuelles Schöpfungshandwerk (wenn man Gott man als Evolutions-Prorammierer versteht, der den Jesus-Code direktemang in Maria initialisiert hat) ins Leben gerufen wird (= Wahrwerden der Macht-Phantasie vom Homunukulus oder Golem).
Siehe auch den Film »Gattacca« und die Gen-Analyse-Schalter im Restaurant, damit Partner sich vergewissern können, ob der/die PartnerIn wertvolle oder mindere Anlagen weiterzugeben hat. Monströse Problematik dabei: wer entscheidet über den Un-Wert?
Auch die direkte Datenbuchse ins Hirn (noch weitestgehend fiktiv) fällt darunter, sowie die jetztigen Vorstufen von IT-Hilfmitteln z.B. für Shut-In-Kranke (Kommunikation durch Abtasten von Augenbewegung oder Cursor-Steuerung durch Schluckmuskelabtastung; denk an Steven Hawking).
Nicht zuletzt gehört auch der Komplex der Sportmedizin und der Schönheits-OP in diesen Bereich.

Sprachparodistisch: Im Wald und auf der Heidi; Sieg Geil!; Kein Schw*nz ist so hart wie das Leben, und viele andere (imho die Nazis bloßstellenden) Phrasenverdrehungen, vor denen der Roman überquillt.

Thriller-komödiantisch: Auf der Plot-Ebene haben wir einen Thriller (Korruption, Erpressung, Verfolgung, Flucht, gegenseitiges Abmurksen und Hintenrumm-Machenschaften der Pornoproduzenten), obwohl das Spannungs-Element in den Provokationen ein wenig untergeht. Dabei hatte zumindest ich oft den Eindruck, daß Kunkel diese Ebene nicht ernst aufspannt (so a la Grisham oder le Carre), sondern mit ätzenden Anklängen auf Beziehungs- und Situationskomödien.
Beispiel: Als Protagonist Fußmann (SS-Hygieneinstitut-Wissenschftler und Stiefelfetischist) zum ersten Mal seine Sex-»Göttin« Lotte trifft, schlägt er hochgestresst von ihrer Aura die Hacken zusammen und grüßt zackig mit »Sieg Heil!«; Lotte mustert ihn und meint als erstes »Schöne Stiefel«. Wer da noch glaubt, daß Kunkel die Nazis verherrlicht oder relativiert, hat IMHO ein weitaus problematischeres Verhältnis zum Dritten Reich, als der »respektlose« Autor.

Trivial-Genre-Register: Register hier: verschiedene Klang-Einstellungen einer (Fabulations-)Orgel.
Bei »Endstufe« vor allem: Trash, Porno (wobei sich der Roman als Wichsvorlage so wenig eignet wie die 120 Tage von de Sade) und Äktschn-Krimi, am Ende auch deutlich Phantastik. Da läuft z.B. ein Soldat in Nordafrika mit Granatsplitter im Kopf herum, durch den er zum menschlichem Magneten wurde (Löffel pappen an ihm fest und er kann gefahrenlos durch Minenfleder navigieren; vergleichbar der Sonaroptik in »Daredevil« oder Spider-Sense in »Spiderman«).

Ist mein Schwafel für Dich nun etwas klarer?
Grüße
molosovsky & alex

P.S.: Erledigt in Paris und London †¦ toll, daß Du den ließt. War mein erster Orwell.

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Geschrieben 20 Juli 2004 - 12:50

Ja, klarer. Ich bin als Ex-Journalist halt anderes gewöhnt. :) :DMein Einstieg in Orwell war damals übrigens - wie bei so vielen - „1984“, leider bei einem unfähigen Lehrer im Deutschunterricht. Danach hatte ich erst einmal die faxen von SF dicke. Auf „Erledigt in Paris und London“ bin ich durch Anthony Bourdain gekommen. Der erwähnte das Buch in einem Interview und †¦ *schwups* †¦ schon war es gekauft.Bis dennen,Henrik Fisch
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