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Fingerübung 7 - Belohnungssysteme


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6 Antworten in diesem Thema

#1 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 19 Oktober 2025 - 14:08

Gestern auf dem Bucon wurde der DSFP vergeben (sowie der Bucon Ehrenpreis). Preise sind begehrt, Auszeichnungen sowieso und Belohnungen sind das Salz in der Suppe.
Da kann man sich vielfältige Belohnungssysteme vorstellen und daher heißt das Thema dieser Runde:

Der Preis ist heiß!

Bearbeitet von Mammut, 21 Oktober 2025 - 19:58.


#2 Tse-Eh

Tse-Eh

    Nanonaut

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Geschrieben 08 November 2025 - 15:34

In Karls langsam zurückkehrendes Bewusstsein drangen verwirrende Sinneseindrücke. Er lag auf etwas hartem. Ein Stimmengewirr drang an sein Ohr. Die Stimmen waren offensichtlich sehr nah und nicht gerade leise, dennoch konnte er nichts verstehen. Das lag wohl an was auch immer ihn betäubt hatte. Er fühlte sich nackt. Was war passiert?

 

Er versuchte, die Fetzen seiner Erinnerung zusammenzusetzen. Er hatte im Park gejoggt, daran konnte er sich erinnern. Aber soweit es seine Erinnerung betraf, war alles ganz normal gewesen. Er war seine übliche Runde gelaufen. War es seine übliche Runde? Ja, die Erinnerung verfestigte sich, es war alles wie immer gewesen. Es hatte schon gedämmert. Karl liebte es, in der Dämmerung zu joggen, denn da war der Park leer, es gab keine Radfahrer, denen man ausweichen musste, keine unangeleinten Hunde, deren Jagdtrieb durch einen vorbeirennenden Jogger ausgelöst werden konnte, und keine Massen von Parkbesuchern, die aus dem Joggen einen Hürdenlauf machten.

 

Aber was war dann passiert? Und wo war er überhaupt? Langsam begann er, einige Sprachfetzen zu verstehen. "Mach dir keine Hoffnungen, du gewinnst nie." sagte eine tiefe Männerstimme. Ein anderer Mann, der seiner Stimme nach zu urteilen, mindestens 70 sein musste, meinte: "Es wird langsam Zeit, dass ich gewinne. So lange habe ich nicht mehr." Und ein weiterer Mann, wahrscheinlich um die 40, meinte: "Ich habe wesentlich weniger Zeit. Immerhin hat die Polizei schon ein Phantombild und die Fingerabdrücke von mir."

 

All das gab keinen Sinn. Halluzinierte er? Karl wurde bewusst, dass er die Augen noch immer geschlossen hatte. Er öffnete sie, musste aber feststellen, dass er die Umgebung nur verschwommen wahrnahm. Er war offensichtlich von vielen Menschen umgeben, die ihn alle anschauten.

 

"Sieh an, er wacht auf." sagte einer. "Dann können wir ja bald mit der Verleihung beginnen." Ein anderer sagte: "Schau mal, blaue Augen. Ich wollte schon immer blaue Augen haben." Worauf ein anderer entgegnete: "Nun, wenn du blaue Augen haben willst, damit kann ich dienen. Meine Fäuste sind gut trainiert. Aber mach dir keine Hoffnung auf ihn da." Karl sah verschwommen, wie eine der Gestalten offensichtlich auf ihn zeigte.

 

Karl versuchte,sich aufzusetzen. Dieser Versuch wurde jäh durch eine Kette um seinen Hals beendet, der er sich bis dahin nicht bewusst gewesen war. Auch seine Hände und Füße waren in Ketten, wie er jetzt bemerkte. Und ansonsten war er in der Tat komplett nackt. Ihm wurde erst jetzt bewusst, was das bedeutete: Er war von Leuten umringt, die neugierig seinen nackten Körper betrachteten. Unwillkürlich regte sich dadurch etwas zwischen seinen Beinen.

 

"Sieh an, das da unten funktioniert offenbar auch" sagte eine der Stimmen, und jemand griff nach seinem Geschlechtsteil. Worauf eine andere Stimme scharf sagte: "Finger weg, sonst wirst du disqualifiziert! Du kennst die Regeln. Solltest du gewinnen, kannst du den Körper befingern, so viel du willst, aber bis dahin gilt, schauen erlaubt, anfassen nicht."

 

Wo war er da hin geraten? War das eine Perversen-Sekte, und er wurde als Sexobjekt verlost? Er versuchte sich zu befreien, aber die Ketten hielten. Und die Menge, die ihn begaffte, schien sich über seine vergeblichen Aktionen zu amüsieren.

 

So langsam klärten sich seine Sinne. Er konnte jetzt die Männer erkennen, die ihn umringten. Es waren an die zwanzig, und sie begutachteten ihn wie ein Tier am Markt, murmelten Bemerkungen über seine blonden Locken, seinen gut durchtrainierten Körper oder seine leicht krumme Nase. Nebenbei sprachen sie miteinander über die bevorstehende Preisverleihung, deren Preis er offensichtlich sein sollte. Er lag auf irgendetwas hartem, erhöhtem, vielleicht ein Tisch, offenbar um den umstehenden Männern die Begutachtung zu erleichtern.

 

Die Stimme, die den handgreiflichen Mann vorher zurechtgewiesen hatte, meldete sich wieder: "Genug geschaut, jetzt wird es Zeit für die Preisverleihung. Karl sah, dass sie zu einem etwa dreißigjährigen Mann mit schwarzen Haaren gehörte, der einen dunkelgrauen Anzug trug. An diesem war eine Anstecknadel angebracht mit einem Logo, das Karl seltsam bekannt vorkam, wenngleich ihm nicht einfallen wollte, woher. Es handelte sich um ein Dreieck, in dem drei Kreise eingeschrieben waren. Karl war sich sicher, dieses Logo erst vor kurzem gesehen zu haben. War es vielleicht ein Erinnerungsfetzen an die ansonsten in seinem Kopf fehlende Zeit zwischen seinem abendlichen Joggen und seiner Wiederbewusstwerdung hier auf diesem Tisch?

 

Die anderen Männer verließen den Bereich um den Tisch, und der Mann mit der Anstecknadel ging zu einem Mikrofon. Jetzt, wo er freien Blick hatte, konnte ich Karl etwas im Raum umsehen, soweit es seine Situation zuließ. Er befand ich offenbar auf eine Bühne, mit einem kleinen Zuschauerraum davor, in dem die Männer jetzt saßen. Vielleicht ein kleines Theater, das für diese perverse Preisverleihung missbraucht wurde? Oder diente dieser Raum ausschließlich diesem Zweck?

 

Karl erinnerte sich plötzlich, dass er vor etwa einem Jahr in den lokalen Nachrichten von einem verschwundenen Jogger gehört hatte. War dieser Jogger ebenfalls hier gelandet? War dies hier eine regelmäßige Veranstaltung? Der Jogger damals war laut dem Bericht 20 Jahre alt gewesen. Karl war vor kurzem ebenfalls 20 geworden. Ein Zufall? Andererseits war der Jogger anscheinend später wieder aufgetaucht, auch wenn die Frage, was passiert war, nie geklärt wurde. Hieß das, Karl durfte sich auch Hoffnung machen, hier lebend wieder herauszukommen? Oder war das mit dem anderen Jogger nur eine Koinzidenz?

 

Der Mann mit der Anstecknadel begann eine Ansprache: "Im Namen des Vereins zur Förderung des Verbrechens darf ich alle Anwesenden herzlich willkommen heißen. Ich darf Ihnen versichern, dass die Polizei auch dieses Jahr nichts von unserem Verein oder dieser Veranstaltung weiß. Einen Schnüffler, der der Wahrheit gefährlich nahe gekommen ist, konnten wir rechtzeitig beseitigen."

 

Soviel also zu Karls Hoffnung, er würde hier lebend herauskommen. Wenn er es nicht doch irgendwie schaffte zu fliehen, würde der Verein sicher dafür sorgen, dass er nichts verraten konnte. Und die Tatsache, dass sie ihn hören ließen, was nicht nach außen dringen durfte, zeigte, dass sie sich sehr sicher waren.

 

"Lassen Sie mich erst ein paar Worte zur aktuellen Situation des Vereins sagen. Vor drei Jahren haben wir ja über Strohmänner die Krankenversicherung Aifam erworben, damals ein im Vereinsvorstand durchaus umstrittenes Geschäft. Aber das Geschäft hat sich ausgezahlt. Nicht nur hat es die finanzielle Ausstattung des Vereins stark verbessert, ein Spielraum, der es uns erlaubt hat, die Verbrechensstatistik deutlich nach oben zu treiben …" An diesem Punkt erzwang frenetischer Applaus eine Pause. "Es hat uns auch ermöglicht, qualitativ hochwertige Preise für unsere Preisverleihung sicherzustellen."

 

Die Krankenversicherung Aifam. Jetzt dämmerte es Karl. Er hatte erst vor Kurzem einen Vertrag mit dieser Versicherung abgeschlossen. Ein unglaublich günstiges Angebot, nur verfügbar für Personen bis 20 Jahren. Einzige Bedingung war die Untersuchung in einem Vertrags-Krankenhaus der Versicherung, auf deren Kosten, und ein Termin mit einem Psychologen, der ebenfalls einen Vertrag mit der Aifam hatte. Und eine weitere Bedingung war ein Nachweis, dass er sich fit hielt, was er ohnehin immer getan hatte, daher war es kein Problem für ihn gewesen. Er musste natürlich nachweisen, dass er regelmäßig etwas für seine Fitness tat, dafür musste er der Versicherung Zugriff auf die Daten seines Fitnesstrackers geben. Was für ihn kein Problem gewesen war. Es waren ja nur Fitnessdaten.

 

Fitnessdaten und Ortskoordinaten. Über den Fitnesstracker konnte die Krankenkasse nicht nur feststellen, dass er regelmäßig joggte, sondern auch wann und wo. Und wenn sie diesem Verbrecherverein gehörte, hieß das auch, dass dieser wusste, dass er regelmäßig in einem Park joggte zu einer Zeit, als dieser praktisch leer war. Was ihn zu einem leichten Opfer gemacht hatte. Und jetzt fiel ihm auch wieder ein, wo der das Logo gesehen hatte: Das Logo der Aifam war eine leichte Abwandlung davon. Was ihm aber immer noch nicht klar war, war, was sie von ihm eigentlich wollten. Vielleicht sollte er besser weiter zuhören, statt sich in eigenen Gedanken zu verlieren.

 

"Dank unseres Zugriffs auf die Gesundheitsdaten, sowie auf das Gespräch mit dem Psychologen, können wir nicht nur garantieren, dass der Gewinner einen kerngesunden Körper erhält, sondern auch, dass die Gefahr einer ungeplanten Erkennung gering ist. Zumal wir auch dank unserer zahlreichen Maulwürfe bei der Polizei ausschließen können, einen polizeibekannten oder gar gesuchten Körper zu verwenden."

 

Nun, das war jetzt eher verwirrend, als erhellend.

 

"Kommen wir also nun konkret zum diesjährigen Hauptpreis. Sie haben ihn ja schon gesehen, daher nur die wichtigsten Eckdaten. Es handelt sich um einen Studenten aus dem Ausland, der hier bisher noch wenige Kontakte hatte, und insbesondere noch keinen Kontakt mit der Polizei. Zudem kommt er aus einem kleinen Dorf, die Kontakte in seiner Heimat waren also auch eher beschränkt. Wie aus seinem Gespräch mit dem Psychologen hervorgeht, ist er auch online nur unter Pseudonym unterwegs und hat immer vermieden, identifizierbar zu sein. Auch ist er in keiner festen Beziehung. Die medizinische Untersuchung hat ergeben, dass er kerngesund ist, weder akute noch chronische Krankheiten sind festgestellt worden. Dank des obligatorischen Fragebogens zur Aufnahme in der Krankenversicherung wissen wir auch, dass er in dieser Hinsicht nicht erblich vorbelastet ist. Sie sehen also, Sie bekommen einen einwandfreien Körper."

 

Nun, sie wussten wirklich gut über ihn Bescheid. Dass sie auch über den Inhalt des Gesprächs mit dem Psychologen unterrichtet waren, hatte er nicht erwartet, denn solche Details durften eigentlich nicht an die Krankenkasse weitergeleitet werden. Aber vielleicht war der Psychologe selber Teil des Verbrechervereins. Aber warum interessierte sie seine Gesundheit so sehr? Statt Klarheit hatte er nur neue Fragen.

 

"Nun noch zur Prozedur selbst. Wir können versichern, dass sie für den Empfänger des Körpers absolut schmerzfrei ist. Sie werden im alten Körper einschlafen und im neuen aufwachen. Für den Alteigentümer des Körpers wird die Prozedur hingegen recht schmerzhaft sein. Diejenigen, die nicht gewinnen, dürfen sich also zumindest auf eine gute Unterhaltung freuen."

 

Wieder gab es Applaus, gemischt mit offensichtlichen Freudenbekundungen. Was waren das nur für Menschen, die sich darüber freuten, andere leiden zu sehen? Jedenfalls war jetzt klar, welches Schicksal ihm bevorstand. Er versuchte noch einmal, sich zu befreien. Zwecklos. An der Qualität der Ketten hatte der Verein jedenfalls nicht gespart.

 

"Und damit kommen wir jetzt zum Hauptpunkt unseres heutigen Abends, der Verleihung des Preises für das grausamste Verbrechen des Jahres ..."



#3 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 08 November 2025 - 17:42

Den letzten Satz: Bekommt dejrenige den Körper, der das grausamste Verbrechen begangen hat? Ich dachte, der Körper sollte genutzt wetden, um eines zu begehen.

Bearbeitet von Mammut, 08 November 2025 - 17:42.


#4 Tse-Eh

Tse-Eh

    Nanonaut

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Geschrieben 08 November 2025 - 18:53

Den letzten Satz: Bekommt dejrenige den Körper, der das grausamste Verbrechen begangen hat?

 

Ja, das war die Idee.

 

Ich dachte, der Abschnitt über "die Prozedur selbst" wäre ausreichend, um das zu kommunizieren. Hätte ich das noch deutlicher machen sollen?



#5 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 08 November 2025 - 21:16

Ja, man könnte das etwas ordnen und klarer darstellen. Der Infoblock ist schon lange genug, mir dünkt, der ganze Text braucht mehr Raum um alles vernünftig darzustellen.

#6 Stahlelefant

Stahlelefant

    Ufonaut

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Geschrieben 08 November 2025 - 21:35

Hm, ja, und wenn die einen Wettbewerb haben, wer das grausamste Verbrechen begeht, was für die offensichtlich eine Ehre ist – wäre es dann naheliegend, dass ein alter das schafft? Es könnte doch sehr gut auch ein junger, gesunder sein, der gewinnt, und warum sollte der scharf auf einen Körpertausch sein?


Nautron respoc lorni virch.

  • (Buch) gerade am lesen:J. G. Ballard: The Day of Creation

#7 Michael Fallik

Michael Fallik

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Geschrieben Heute, 15:48

Karma gehört unterhaltungstechnisch zu einem der beliebtesten Belohnungssystemen, wer schaut sich nicht von Zeit zu Zeit einen der unzähligen YT`s  an, in denen der Pöbler sich mit dem Falschen anlegt. Hier meine Interpretation:

 

Don’t mess with Nerds, sagte mein Alter immer. Nicht, dass er Ahnung von irgendwas gehabt hätte. Er war weder ein Nerd noch jemand, der wusste, wie es ist, so richtig in die Scheiße zu geraten. Ich schon. Ich stecke bis zur Unterkante der Nase drin, und meine Knie werden allmählich weich. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihn fragen, wie er das gemeint hatte, ob er so ein verdammter Hellseher gewesen war. Aber er hatt die Biege gemacht, den Löffel abgegeben, seinem Leben ein Ende gesetzt – so nennt man das taktvoll. Vielleicht war es keine schlechte Wahl, wenn ich es mir aus heutiger Sicht anschaute.
 
Ich hätte ihn fragen sollen. Bei den wenigen Küchentischgesprächen oder im Flur, wenn er sich den Mantel überstreifte und den Schlüssel wie nebenbei in die Schale fallen ließ, bevor er für Monate verschwand. Seine Sätze hatten diese Proll-Lebensweisheit, halb Witz, halb Drohung. Ich hatte sie abgetan wie Gelaber übers Wetter. Jetzt klebten sie an mir wie Kaugummi an der Turnschuhsohle.
 
In den letzten Wochen wandelte ich sein Motto ab: I messed with Nerds. Der Satz schwebt nun wie ein neonfarbenes Warnschild nur für mich sichtbar über meinem Kopf. Er flimmert, selbst wenn ich die Augen schließe. Dabei fing alles harmlos an. Harmloser als das Verwechseln einer Pillendose oder ein gehauchtes Ja zur falschen Zeit. Runtergebrochen: Ich zuckte mit dem Finger auf die falsche Schaltfläche:
 
Ich klaute einem chinesischen Gaming-Clan die Assets. Virtuell … dachte ich. In manchen Online-Spielen ist so etwas fast Disziplin. Die werben regelrecht damit: Vertrau niemandem, bau dir ’ne Community, pass auf, wem du dein Vertrauen schenkst – all so’n Scheiß. Ich schlich mich rein: immer zur richtigen Zeit im Voice, ein passendes „gg, bro“, ein „nice pull“, nie ein „lol“ zu viel. Ich plante Raids, pflegte Kalender, hielt die Stimmung hoch. Langsam verwandelte ich mich vom Nachtschattengewächs in die Schaltzentrale der Gilde.
 
Es dauerte, bis ich die Permissions für die richtig guten Sachen hatte. Dann war die Gildenbank offen: die seltenen Skins, Mats, Schlüsselkarten – alles hübsch sortiert mit Schloss-Icons. Ein Klick – und alles war meins. Die Schlösser führten einen winzigen Ballettreigen auf und öffneten brav ihre Ärmchen. Ich räumte fett ab und machte es sofort publik. Zwei Wochen war ich der Held in den Foren. Haufenweise DMs von großen Accounts, Memes, „OP!“-Rufe unter Clips. Ein Interview im Magazin „Play-ground“. Ich grinste aus einem anonymisierten Profilbild. Das Leben war schön wie eine frisch entstaubte Grafikkarte.
 
Dann bröckelte alles. Erst ein Flattern auf der Leitung, dann fror sozusagen der Ladebildschirm ein. Mein Zugang zum Game wurde gesperrt. Grund: keiner. Ich schrieb dem Support ... Worte wie „Versehen“, „verzeihlich“, freundlich, aber bestimmt. 
 
Am nächsten Tag war der komplette Account weg! Drei Jahre Arbeit – Erfolge, Listen, Skins, die man um drei Uhr morgens feierte – weg, als hätte jemand die Platte mit einem Magneten geküsst.
 
Kurz darauf zog der Provider nach: Kündigung wegen angeblichen Vertragsverstoßes. Router-LEDs, die früher beruhigend blinkten, starrten mich tot an. Kein Internet. Kein Telefon. Kein TV. Schlimmer als Stromausfall; da sah man wenigstens Kerzen in Fenstern. Hier war ich allein. Und immer dieses Gefühl, dass jemand an meinem Leben herumklickte. Ich war hundertpro sicher, dass der chinesische Clan dahintersteckt. Nicht, dass ich was gegen Chinesen hätte – die waren für mich einfach nur die Gegenseite, damals ein leichtes Opfer. Jetzt bin ich es.
 
Mein Briefkasten füllte sich mit Zahlungsaufforderungen, als hätte jemand ein Abo auf Mahnungen abgeschlossen. Alles dabei: ausstehende Monatsgebühr für Pornhub, Premium-Upgrade für einen Dienst, den ich nicht kenne, Mahnungen für Versicherungspolicen gegen Datenklau und Cyberkriminalität – Witzbolde. Irgendwo lachte jemand. Ich hörte es nicht, ich sah nur Zahlen, Fristen, Drohungen in Schriftgröße 16.  
 
Ich versuchte, mich zu wehren. Prepaid-Handy, bar gekauft, SIM eingelegt, dreißig Minuten Hoffnung. Dann war das Datenvolumen weg, als hätte jemand mit einem Strohhalm daran gezogen. Jemand saugt an meinem Leben wie an einer Sinalco an einem lausigen Augustabend. Ich lud nach, wieder dreißig Minuten, wieder weg. Batteriestand 92 Prozent, Privatsphäre null.
 
Mein Privatleben klappte zusammen wie ein Turm aus Bierdeckeln. Meine Freundin machte Schluss. Sagt man das so, wenn sie die Wohnung verwüstet und ein Fake-Fick-Foto von mir mit einer anderen liegen lässt? Ich hätte das klären können, aber es kam dicker. Es kam wie ein Armageddon aus tausend präzisen Nadelstichen.
 
Ich irrte weiter auf der Suche nach mir, verließ zögernd die Wohnung, landete in einer Straßensperre. Vor dem Rathaus demonstrierten Mittelständler: keine krawallige Wut, eher das übliche beharrliche Drängen. Bäckerjacken neben Kfz-Overalls, Steuerberatermäntel neben neonfarbenen Westen. „Mehr digitale Sicherheit!“, „Gebt uns mehr Volumen!“ Echt jetzt? Ein Gabelstapler mit Paletten drängte mich zur Seite und sein Motor brummte wie ein gereiztes Tier. 
 
Die Straße führte am Fluss entlang. Hinter der Absperrung stand die Pagode im Park, rot lackiert, die Dächer geschwungen, die bronzenen Glöckchen wie Fixpunkte gemalt. Bei jedem Windstoß klangen sie leise an, mir fielen meine asiatischen Opfer ein. Zwischen Diesel und Espresso hing ein Hauch Räucherwerk in der Luft, herübergetragen von der Pagode. Ein Mönch in orange starrte mich an, als erkenne er in mir das Prinzip der Kausalität. 
 
Ich suchte die Lücke in der Absperrung, wollte nur rüber auf die andere Seite. 
„Ausweis, bitte“, sagte ein Polizist, nicht grob, aber auch nicht freundlich. Ich gab ihm den Perso. Er blinzelte, tippte, wartete. Das Funkgerät knackte. Es sagte etwas, das wie mein Nachname klang und gleichzeitig nicht. Er hob die Braue, seine Stimme bekam einen bedauerlichen Unterton: „Laut unserer Datenbank sind Sie tot.“ Die Glöckchen der Pagode antworteten leise. 
„Dann bin ich’s wohl“, sagte ich, und es klang, als müsste ich mich selbst davon überzeugen. 
„Schon klar“, sagte er, während sein Blick am Display klebte. Irgendwie kannte mich gerade jeder, nur ... ich war es nicht. Mein Name verheddert sich in falschen Profilen, meine Bilder in fremden Timelines, meine Stimme in Voicemails, die ich nie gesprochen habe. Es fühlt sich an wie ein Fehler 403 – aber für Menschen.
„Ne Menge Leute bekommen noch ne Menge Geld von nem Toten“, philosophierte der Polizist und betrachtete mich neugierig. 
 
Sie nahmen mich mit, zur Identitätsklärung, sagten sie. Auf meinen falschen Namen laufen inzwischen Anzeigen: Abo-Betrug, Einkäufe, die ich nie getätigt habe. Untersuchungshaft, bis die Daten geradegezogen sind, bis irgendwer entscheidet, wer ich bin.
 
Jetzt sitze ich hier im Knast vor dir und denke nur an meinen Daddy, an das, was er so von sich gab, mit den vielen losen Schrauben in seinem Kopf. 
Die Besuchszeit ist gleich vorbei. Kalter Kunststoffstuhl, Schrauben am Boden, Neonlicht, das Gesichter ausspült. Du gibst diesen Zettel weiter, ja? An irgendeine offizielle Stelle, die meinen richtigen Namen noch in ihren Datenbanken findet. Irgendwo muss er doch noch existieren, zwischen lauter Aliasen und angegriffenen Profilen. 
 
Versprochen? 

Bearbeitet von Michael Fallik, Heute, 16:32.

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