BoD Norderstedt, ISBN 978-3-8334-9712-4
195 S, Euro 12.90
Matthias Falke stellt mit Harey seinen vierten Kurzgeschichtenband vor, eigentlich seinen fünften, wenn man die Abenteuer im Episoden-Roman Explorer Enthymesis dazurechnet. Alle, einschliesslich zweier weiterer Romane, sind als BoD erschienen bis auf einen Band, den der EDFC herausbrachte. Die vorliegende Sammlung vereint sieben Erzählungen, die zwischen 2000 und 2007 entstanden sind und von denen eine in »Fantasia« und zwei im »Story Center« veröffentlicht wurden. Obwohl der Autor auch in diversen EDFC-Anthologien von Schröpf und jenen von Haubold vertreten war, scheint er immer noch ziemlich unbekannt zu sein, was umso mehr verwundert, als er - so komme ich nach Lektüre dieser Storys zum Schluss - ein von Stil und Intellekt her bemerkenswertes Talent darstellt. - Soll das wirklich die Zukunft sein: BoD auf der Kriechspur?
In Der Schirm - eine Art Tor in den Cyperspace - zeigt der Autor, dass er auch Humor besitzt und den Schalk im Nacken - vergnüglich der Technojargon, mit dem ein Jugendlicher den Trip in eine virtuelle Welt beschreibt, die, wenn man zu lange darin verweilt, den Besucher vereinnahmt und allenfalls als Schemen in die alte Wirklichkeit entlässt.
Ein quantenphysikalisches Experiment soll in Die Katze am Beispiel dieser, eingesperrt in eine Box, demonstrieren, für welchen Zustand - tot oder lebendig - , die Entscheidung nach Öffnung der Box fällt. Dabei werden die Beobachter des Experiments zu unfreiwilligen Versuchsobjekten. Leider ist die Idee ungenügend ausgearbeitet.
Der Savant erzählt berichtartig von einem Jungen, dessen aussergewöhnliche Begabung, sich alles Wissen dieser Welt anzueignen, verbunden mit einer Ganzkörperprothese, als seine organische Hülle verkümmert, ihn nach der Weltherrschaft greifen lässt, ohne ein Gespür dafür zu entwickeln, was das menschliche Wesen ausmacht und was es antreibt. Sprachlich auf hohem Niveau, erfreut der Autor mit Vergleichen wie: »Wir gleichen, so gesehen, Leuten, die fünfhundert PS unter der Haube haben und im Schrittempo über die Landstrasse tuckern. Jorge.(der Savant nahm sich die Freiheit, das Gaspedal einmal ganz durchzudrücken. Dabei kam ihm einiges unter die Räder. Er glich Platos Wissendem, der so lange in die Sonne der Erkenntnis gesehen hat, bis er fürs Alltagsleben blind war.«
Harey, vom Umfang her eine Novelle, ist die Titelgeschichte. Sie handelt von dem Experiment, eine virtuelle Welt zu begehen und von dort aus virtuell in weitere Daseinsebenen überzuwechseln, und sie endet in der verstörenden Frage, was Realität ist und wer ihr Schöpfer. Komplex konstruiert, die Sprache manchmal spröde, manchmal farbig, erinnert die Erzählung stellenweise an Kafka und Poe, mit philosophischem Anflug: das Highlight dieser Sammlung. Die Erzählung ist übrigens 2008 im Story Center 2007 des SFCD erschienen und hat mich auf diesen Autor aufmerksam gemacht.
Einem Komplizen das Geheimnis, wo dieser die Beute versteckt hat, zu entreissen, artet in einem Blutrausch aus, in welchem Das Wahrheitsserum eine gänzlich unbeabsichtigte Wirkung entfaltet. Etwas splatterig, keine SF, ein Fremdkörper in dieser Sammlung, sieht man davon ab, dass auch in dieser Story die Frage nach der subjektiven Wahrnehmung gestellt wird. Speziell hier hätte der Sprache ein Lektorat gut getan, dem Satz ein Korrektorat.
Im Äther befindet sich letztlich ein Schriftsteller, nachdem er durch einen Unfall erst ein Bein verloren und sich dann in der Folge konsequenterweise aller Gliedmassen und zuletzt auch der restlichen Physis einschliesslich der Sinnesorgane entledigt hat, beseelt von dem Wunsch, als kybernetisches Wesen, befreit von allen organischen Irritationen, das ultimative Werk zu schaffen: »Den Euphorien seiner Inspiriertheiten stehen die Wüsten seiner Niedergeschlagenheit entgegen, deren schwarzes und endloses Geröll er oft für Wochen oder Monate durchwandern muss, ohne einen Strich aufs Papier zu bringen †¦ Die wenigen Nadelstiche der Begeisterung wiegen die Ozeane der Bedrängnis nicht auf.« Stilistisch hervorragend führt uns der Autor die Absurdität dieses Strebens vor Augen. - Die Erzählung wurde in seinen Roman »Die Bibliothek des Holländers« integriert.
Den Abschluss bildet Deus Absconditus. Dies ist keine eigentliche Story, es ist vielmehr ein philosophischer Diskurs darüber, wie eine Geschichte auszusehen habe, die Gott provozieren würde, aus seiner Deckung hervorzukommen und sich apokalyptisch zu offenbaren - durch etwas, das Clarkes berühmte Geschichte The Nine Billion Names of God (hier fälschlicherweise als »Die zehn Billionen Namen Gottes« angegeben; zudem heisst »billion« im Deutschen Milliarde) noch übertrifft. Abgesehen von diesem Lapsus und dem Fehlen eines SF-würdigen Abschlusses (das wäre das i-Tüpfelchen gewesen!), ist die »Geschichte« einer Geschichte wortgewaltig formuliert, hochintellektuell und philosophisch; hier schöpft der Autor davon, was er nach eigenen Angaben studiert hat, nämlich, neben Musik- und Literaturwissenschaft, Philosophie, und zeigt, dass wir noch viel von ihm erwarten dürfen.
Das macht Lust auf mehr. Ich werde mir die früheren Story-Bände zu Gemüte führen und bin gespannt auf neue Veröffentlichungen. Sollten sie wieder als BoD erscheinen, wünschte ich mir Silbentrennung im Satz und - etwas mehr Lektorats-, bzw. gründlichere Korrektoratsarbeit.
Bearbeitet von Helmuth W. Mommers, 18 Januar 2009 - 10:59.