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<em>Osama</em> ist der erste Roman von Lavie Tidhar, den ich gelesen habe (seine <em>Bookman-Histories</em>-Reihe habe ich wegen meiner ausgeprägten Steampunk-Abneigung bereits links liegen lassen), und es wird nicht der letzte bleiben.
Der Roman spielt in einer Alternativwelt, die technologisch und kulturell irgendwo zwischen den 30ern und 50ern hängengeblieben ist. Islamistischer Terrorismus existiert in dieser Welt nicht, und auch sonst scheint das 20. Jahrhundert hier einen weltpolitisch milderen Verlauf genommen zu haben. Privatdetektiv Joe, der in Laos' Hauptstadt Vientiane wohnt, erhält von einer ihm seltsam vertraut erscheinenden Frau den Auftrag, einen geheimnisumwitterten Autor zu finden, der unter dem Pseudonym Mike Longshott Schundromane über einen Vigilanten namens Osama Bin Laden verfasst. Joe selbst ist ein Leser dieser Romane, in denen nüchtern und in allen makaberen Einzelheiten die grausamen Terrorattacken von Osamas Mitstreitern geschildert werden. Die Hintergründe der Anschläge bleiben in Longshotts Büchern nebelhaft, er deutet lediglich an, dass sie Teil eines verwirrenden globalen Krieges sind.
Joes Suche nach Longshott führt in über Paris, London, New York bis nach Afghanistan. In ihrem Verlauf begegnet er immer wieder den "Refugees", melancholischen Gespenstern, die von einem unnennbaren Schmerz erfüllt durch die Welt geistern - und auch seine Auftraggeberin gehört offenbar zu dieser rätselhaften Gruppe. Gleichzeitig ist ihm eine zwielichtige Regierungsbehörde auf den Fersen, die mit allen Mitteln in Erfahrung bringen will, wie viel Wahres an Longshotts Osama-Romanen ist, an dem Krieg, von dem sie handeln, aber auch an den futuristischen Technologien, die in ihnen geschildert werden ...
Die nebulöse Krimi-Verschwörungshandlung des Romans hat mich anfangs irritiert und macht das Buch im Mittelteil für meinen Geschmack etwas zäh: Immer wieder geht Joe Spuren nach, die sich in Herrenclubs oder Opiumhöhlen verlieren oder läuft seinen Verfolgern in die Arme, die ihn mit Schlägen und kryptischen Warnungen traktieren, um ihn dann wieder laufen zu lassen. Die Handlung tritt lange auf der Stelle, und ich habe ein Weilchen gebraucht, um zu kapieren, dass es Tidhar hier offenbar überhaupt nicht darum geht, eine vertrackte Krimigeschichte zu erzählen, sondern die Atmosphäre des Unwirklichen zu verdichten. Sobald mir das klar geworden war, hat der Rest dieses melancholischen Romans für mich wunderbar funktioniert.
Interessanterweise betrifft die zunehmende Irrealität beide Wirklichkeitsebenen - also die Alternativwelt, in der Joe lebt, und unsere Welt, wie sie in den Osama-Romanen von Mike Longshott beschrieben wird. Die Welt der Romanhandlung erkennen wir schnell als eine eine Art Film-Noir-Pastiche, die mit ihrem Schwarzweiß-Casablanca-Charme vielleicht nicht gänzlich heil, aber doch zumindest tröstlich erscheint. Unsere eigene Wirklichkeit, auf die wir nur dann und wann in Form reportageartiger Ausschnitte aus Longshott-Romanen einen Blick erhaschen, wirkt dagegen grell und überdreht.
Zwischendurch gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass die sanfte Noir-Welt uns als das Ergebnis einer historischen Entwicklung verkauft werden soll, in deren Verlauf "der Westen" sich ein bisschen weniger imperialistisch gebärdet hat und die Hauptursachen des globalen Terrors damit weggefallen sind. Doch diese Terrorismus-apologetische Herleitung der Alternativwelt bleibt diffus, und schließlich zeigt sich, dass die besondere Beschaffenheit der in <em>Osama</em> geschilderten Alternativwelt keine historischen oder politischen Gründe hat. Es handelt sich viel mehr um genau die Welt, die Joe als Protagonist braucht, um sich aus ihr heraus den grellen, kaum fassbaren Terror auseinanderzusetzen. Deshalb beinhaltet diese Welt in entschärfter Form Versatzstücke dessen, was uns aus den Medienberichten über den "War on Terror" hinlänglich bekannt ist. Joe wird in einem dunklen Raum verhört, und man denkt an Folter; Joe sitzt im Flugzeug (jeder Flug ist ein eigenes kleines Unterkapitel mit dem wiederkehrenden Titel "In Transit") und spürt die Ahnung einer Katastrophe, eines Verlusts; Joe erlebt eine apokalyptische Vision vom Krieg in Afghanistan (obwohl Afghanistan in seiner Welt ein scheinbar recht gemütliches Königreich und beliebtes Reiseland für Touristen ist). Tidhar fängt hier das verwirrende Gefühl, dass Terrorismus und der "War on Terror" etwas Unwirkliches sind, das ständig in unsere Welt einzubrechen droht, exakt ein.
Tidhar stellt also zwei Zerrspiegel auf, die beide eine gleichsam unwahrscheinliche Wirklichkeit zeigen. Ein schlauer Einfall, bei dem offenkundig Philip K. Dicks <em>The Man in the High Castle</em> Pate gestanden hat (und weniger offenkundig Dicks <em>Ubik</em>). Im Raum zwischen diesen beiden Spiegeln wird vieles blass und diffus, einschließlich der Hauptfigur Joe, die streckenweise jede Identität verliert. Genau wie die geisterhaften Refugees irrt er umher und hat dabei nur den fiktiven Vigilanten Osama als Leitstern, eine strenge, grausame Heilsgestalt, die den Weg ins Paradies weist. Diese Heilssuche erweist sich ist das eigentliche Kernmotiv des Romans. Doch Joe und den verlorenen Refugees bleibt unklar, ob es sich beim Paradies um die Welt handelt, die Mike Longshott in seinen Romanen schildert, oder um den Ort, an dem sie sich bereits befinden. Da beide als Visionen entworfen werden, gewinnt die Suche einen zunehmend mythisch-verbrämten Charakter, den Tidhar mit leisem Witz aufs Korn nimmt (wunderbar: Die Fans der Longshott-Romane treffen sich bei einer piefigen kleinen Convention mit lebensgroßem Osama-Pappaufsteller). Die Antwort, die Tidhar letztlich auf Joes Wahrheitssuche gibt, ist sehr einfach und sehr humanistisch - dass nämlich kein Mythos und kein Paradies das Glück ersetzen können, das sich im Leben finden lässt (womit sich auch der Verdacht erledigt hätte, dass der Autor billige Provo-Punkte durch Terror-Apologetik sammeln will). <em>Osama</em> ist eigentlich kein besonders politisches Buch, sondern ein trauerndes Buch über die Ungeheuerlichkeit dessen, dass aufgrund religiöser oder politischer Wahnvorstellungen Menschen sterben.