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Die auszugsweise Live-Lesung in Second Life kürzlich (in einem wunderbaren Lavendel-Feld) war absolut überzeugend!
MfG
BTB
Ich danke dir, BukTom - spät , aber aus tiefstem Herzen!
Und dann möchte ich gleich zwei Rezensionen präsentieren, eine, die ich schon etwas länger goutieren durfte und eine, die frisch hereingeflattert ist. Lest einfach und fragt Euch dann nicht, warum mein Lachen meinen Kopf gerade gleich zwei Mal umkreist.
Die erste ist von fancy und lautet wie folgt:
Douglas und Kaynee sind die Hauptakteure in Gabriele Behrends Roman, der in einer Zukunft spiel, in der jeder Mensch sich aufgespaltet hat. Es gibt einen Organisator, einen Beschützer und mehr, die Dämonen werden sicher weggesperrt. Das, was die Psychotherapie uns als »Inneren Helfer« empfiehlt, wird hier exzessiv ausgelebt.
Aber auch in dieser fernen Zukunft gibt es Licht uns Schatten, so kann sich nicht jeder die Wartung seines in den Kopf eingelassenen Sockets leisten, wodurch es zu Fehlfunktionen und Aussetzern kommt.
Douglas stößt scheinbar ohne jeglichen Grund eine Person vor einen Zug. Diese Person überlebt den Anschlag nicht.
Er kommt darauf hin in das Zentrum der Professorin, die die Aufspaltung erfunden und für dessen Einführung gesorgt hat. Douglas, der in einem Heim aufgewachsen ist, soll hier getunt werden, damit er wieder ins System passt und möglichst schnell seine Arbeit weiter verrichten kann. Aber auch bei Kaynee kommt es in letzter Zeit immer wieder zu Aussetzern, so übernehmen Teile ihrer selbst ungefragt die Herrschaft.
Douglas und Kaynee lernen sich im Zentrum kennen und verlieben sich.
Die Autorin erzählt ihre Geschichte im Präsens und im ersten Moment kommt einem das ungewohnt vor, aber Gabriele Behrend kann so gut mit Sprache umgehen, dass man sich schon auf Seite zwei dran gewöhnt hat. Sie skizziert in ihrem Roman mehr die Menschen als die Umwelt oder die Art zu wohnen und zu arbeiten. Der Leser erfährt, dass es Gefährte gibt, die autonom fahren, aber auch manuell gesteuert werden können, aber die Autorin verliert sich nie in technischen Raffinessen. Auch die Apparate zur Persönlichkeitsaufspaltung werden nur grob äußerlich beschrieben. Insgesamt scheint das Leben für die Menschen in den großen Metropolen nicht besonders erbaulich zu sein. Die Arbeit, die verrichtet wird, muss sehr monoton sein und die Freizeit am Wochenende macht einen tristen Eindruck, die Wohnverhältnisse sind sehr beengt. Ohne die »Anpassung« durch die Persönlichkeitsspaltung, die den Menschen zu einem funktionierenden Rädchen im System machen soll, wäre das Leben wohl nur schwer erträglich. Leider hat auch dieses vermeintlich perfekte System Fehler und so kommt es zu »Aussetzern« und »Unfällen«, denn trotz allem sind diese optimierten Wesen immer noch Menschen.
Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass es durchaus auch so sein darf. Jeder darf seine Fehler haben, muss nicht massenkompatibel sein. Ganz im Gegenteil: Wer als »Einheitsmensch« droht, in der Masse unterzugehen, der darf sich ganz individuelle Lebensräume schaffen, in denen er glücklich leben kann. Jeder Mensch ist anders gestrickt und die, die keine Normalbürger sind, haben auch ihre Daseinsberechtigung.
Douglas und Kaynee sagen sich von der unmenschlichen Gesellschaft, in der jeder Mensch lediglich funktionieren soll, los und suchen ihr individuelles Glück abseits davon.
Man kann das Ende des Romans sicher verschieden deuten. Die einen werden glauben, die Liebenden suchten ihr Glück in einem Leben nach dem Tod, aber ich sehe die beiden abseits der Metropolen in einem kleinen Dorf, in dem sie sich mit ehrlicher Handarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen und gemeinsam alt werden. Womöglich gibt es sogar weitere Sichtweisen.
Für mich ist dieser Roman einer, der Hoffnung macht. Er ist liebevoll und gekonnt verfasst. Ich kann die Lektüre nur empfehlen und verteile fünf von fünf Sternchen.
Die zweite ist von Angelsammy und liest sich wie folgt:
Wie multipel darf es denn sein?
Was das Genre Science Fiction angeht, kursieren noch immer zahllose Klischees. Eines davon lautet, daß es ein "maskulines" Genre, von Männern hauptsächlich dominiert und Frauen unterrepräsentiert.
Tatsache ist, daß viele Frauen SF schreiben, aber in der Rezeptionsgeschichte hauptsächlich Männer die Meriten eingestrichen haben. Arthur C. Clarke, Philipp K. Dick, Isaac Asimov, usw. Daß aber auch Doris Lessing SF verfasst hatte, wissen viele gar nicht.
Eine deutsche SF - Autorin hatte bei Wikipedia einen Artikel über die Geschichte deutscher SF - Autorinnen veröffentlicht. Ein männliches Mitglied der deutschen Sektion von Wikipedia hat den Artikel als irrelevant gelöscht. Frechheit! Wie überhaupt Wikipedia in Deutschland überwiegend von Männern beherrscht wird.
Dies hier ist das erste Buch von Gabriele Behrend, das ich gelesen habe. Ich bin über alle Maßen begeistert! Ich bin darüber sehr froh, daß mir dieses Juwel nicht durch die Finger geschlüpft ist.
Sie schreibt elegant, komplex, verständlich, mit poetischem Impakt gesellschaftskritisch. Ihre Charaktere besitzen Tiefe, haben Ausdruck und sind äußerst facettenreich. Die Möglichkeiten der Technik, wie sie sich weiterentwickeln könnte, hat sie konsequent weitergedacht. Deswegen ist diese Geschichte durchaus auch eine Dystopie, aber nicht nur. Diese Kategorisierung würfe dem Werk nicht annähernd gerecht werden.
Ihr Figurenensemble und das Setting, die interpersonellen Dialoge sind sehr authentisch.
Aber um was geht es überhaupt?
Erst einmal etwas zur Erläuterung. Multiple Persönlichkeitsstörung, das ist jetzt, in unserer Zeit, eine ernsthafte psychische Störung, die infolge schwerer Traumatisierung getriggert wird, um zu überleben. Ein Zustand also, der nicht wünschenswert ist.
In jenem London der Zukunft, das der Schauplatz ist, ist aber genau dieses Multiple förder - und wünschenswert. Denn diese Prozedur erfolgt kontrolliert. Bereits bei den Kleinsten. Sie bekommen ein Implantat verpflanzt, das seinen Sitz im bzw. am Hirn hat.
Das Ich des normalen Menschen stellt eine unifizierte Einheit dar, aber natürlich mit Facetten. Der arbeitssame Kollege, der Fürsorger, der Wächter, das sexuelle Ich, das Kind in einem selbst, der Organisator usw.
Beim Menschen der Zukunft, der als lebendes, atmendes Wesen eine Entität darstellt, bekommt ein gesamtes Persönlichkeitsset verpasst. Die eben erwähnten Facetten und noch andere werden mit High Tech abgespalten und werden zu einem eigenen "Ich", das aber der Entität untergeordnet bleibt. So wird der Mensch zur multiplen Persönlichkeit, aber eben kontrolliert, zivilisiert und effizient, ohne lästige Ausfälle.
Es gibt dafür Zentren, Behörden und Gesetze, die den Prozess durchführen, überwachen und Mißbrauch vorbeugen bzw. bestrafen. Die ganze Gesellschaft ist nur noch auf Effizienz getrimmt und die wenigen, die nicht dergestalt konditioniert wurden, gelten als potentiell unkontrollierbar, als sogenannte "Wilde".
Genau das passiert Douglas Hewitt, als Kind bereits zur Vollwaise geworden, in seinen Dreißigern und Datenarchäologe von Beruf. Er hat zwar im Waisenhaus lebend, noch als Heranwachsender nachträglich das Implantat, das Socket bekommen, aber eben nur die Basisbehandlung.
Er hat sein archaisches Privatich, von seinen inneren Dämonen geplagt und sein effizientes Arbeitsich. Und das ist alles.
Eines Tages tickt er scheinbar aus, als er einen Mann, den er nicht kennt, vor die U-Bahn schubst und dieser daraufhin stirbt. Doug besitzt jedoch keinerlei Erinnerung an den Vorfall.
Er hat großes Glück, daß sich Professorin Claire Paulson sich seiner annimmt. In ihrem progressiven Zentrum soll er ein ganzes Persönlichkeitsset erhalten. Eine Chance auf Bewährung, eine Chance, rehabilitiert zu werden, eine Chance, nicht inhaftiert zu werden.
Der Prozess klappt zunächst erstaunlich gut. Kaynee ist seine Patin im Zentrum, eine charmante, bezaubernde, junge Frau, mit komplettem multiplen Set. Sie verstehen sich gut - zu gut?
Sanders, der Techniker, der für Doug zuständig ist, generiert immer destruktivere Eifersucht. Mit Kaynee selbst scheint etwas nicht zu stimmen, weil sie scheinbare Fehlfunktionen bemerkt, Claire gegenüber aber verschweigt, aus Angst um ihren Job.
Bald schon überschlagen sich die Ereignisse mit unvorhersehbaren, weitreichenden Folgen. Wird es am Ende nur Verlierer geben?
Das Buch ist emotional packend, rührt tief an, in all den Aspekten der eigenen Seele und Psyche, sympathische Protagonisten und teils undurchsichtige Antagonisten. Eine durch durch humanistische Claire. Schwanger von Melancholie, tieftraurig, aber auch nicht einer gewissen Hoffnung entbehrend.
Mit wirklich überraschenden Aha- Wendungen und einem bittersüßen Ende. Poetisch gefärbt, niveauvoll und hypnotisch geschrieben.
Es gibt technische Details im Buch. Diese werden indes aber derart gut integriert und unaufdringlich erläutert, so daß das weder den Lesefluss stört und alles verständlich macht. Eine erschreckende Vision der Zukunft. Dieser "Fortschritt" sorgt zwar dafür, daß die Menschen friedlicher sind, also das Zusammenleben wesentlich besser funktioniert. Aber zu welchem Preis?
Gabriele Behrend schreibt ungeschönt über die Schattenseiten und schlimmen Folgen, ohne daß sie jemals belehrend oder moralistisch wird. Sie versinkt ebensowenig in endlosem Pessimismus. Sie läßt dem Leser genug Spiel- und Freiraum sich selbst eine Meinung zu bilden. Ich jedenfalls würde solch ein Implantat nicht haben wollen. Eine Gesellschaft, die nur noch auf Effizienz konditioniert ist, wird schnell inhuman und seelenlos, verliert ihre einzigartige Esssenz.
Ein weiteres absolutes Highlight, dieses kongeniale Meisterwerk, sehr intelligent und mehr als "nur" Unterhaltung. Ich mußte auch weinen und werde zum intensiven Reflektieren angeregt. Danke, Gabriele Behrend!!!