@Mods: wenn es eine passendere Rubrik gibt, verschiebt diesen Faden gern weiter.
Tod im Briefkasten
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Missmutig betrachtete ich den Briefkasten für mein Apartment. Schon wieder hatte der Postbote versucht, einen viel zu dicken Umschlag durch den schmalen Schlitz zu quetschen, und nun durfte ich versuchen, diesen irgendwie herausgezerrt zu bekommen. Wie oft hatte ich schon darum gebeten, solche Sendungen doch lieber beim Nachbarn abzugeben?
Oder war wieder einmal eine Aushilfe unterwegs?
So oder so: Hier bleiben konnte der Umschlag nicht. Also packte ich ihn von zwei Seiten und zerrte.
Er gab nach, ich hörte ein Reißen, und dann hielt ich den Rest des braunen Papiers in der Hand, während etwas Schweres zu Boden polterte.
Ich sah hinab. Vor meinen Füßen lag ein kleines Tonbandgerät, in Bläschenfolie eingewickelt. Wer verschickt denn so was? dachte ich und drehte den Umschlag um. Meine Adresse, gedruckt auf einen Aufkleber, aber kein Absender.
Ein antiquiertes Gerät und ein anonymer Umschlag ohne sonstigen Inhalt -- das wird ja immer mysteriöser, dachte ich. Dann hob ich das Folienpäckchen auf. Nach einem kurzen Blick in meinen ansonsten leeren Briefkasten wandte ich mich zur Treppe.
Meine Handtasche flog in die Ecke, ich kickte die Slipper von meinen Füßen, dann eilte ich in die Küche. Zuerst kam der gewohnte Druck auf den Schalter meines Kaffeeautomaten, dann holte ich eine Schere hervor und schnitt die Folie auf.
Auf dem Tonbandgerät klebte ein kleiner gelber Zettel:
V.
Ein Knopf war mit einem roten Lackpunkt markiert. Leute, den Startknopf finde ich auch noch selbst, sagte ich mir, dann ließ ich das Band loslaufen.
"Guten Morgen, Frau Long", sagte eine Männerstimme. "Ihr Ziel, sollten Sie diesen Auftrag annehmen, heißt Jonathan Smithson. Herr Smithson wird heute Abend mit dem letzten Flug aus Paris eintreffen und die Nacht im Sheraton am Flughafen verbringen, bevor er am nächsten Tag nach Dubai weiterreist. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass er dort niemals eintrifft und keine Gelegenheit mehr hat, mit jemandem zu sprechen. Alle übrigen Details überlassen wir Ihren kundigen Händen."
Das klang wie ein Mordauftrag -- aber wieso ich? Das Band war an mich gerichtet, keine Frage, aber Mord? Wer beauftragte denn eine Schriftstellerin? Und was sollte der Satz mit den kundigen Händen?
"Sollten Sie bei der Erfüllung Ihres Auftrags entdeckt werden, müssten wir jede Verbindung zu Ihnen leugnen. Sie sind auf sich allein gestellt. Dieses Band wird sich in fünf Sekunden selbst zerstören. Viel Glück, Frau Long."
Ein leises Zischen und ein kleines weißes Rauchwölkchen zeugten vom Erfolg der angekündigten Maßnahme. Ich starrte auf das antiquierte Gerät in meiner Hand. Was passierte hier gerade?
2
Die Wärme des Kaffeebechers in meinen Händen tat gut. Doch hatte ich vergeblich gehofft, dass der aromatische Duft mich auf andere Gedanken bringen würde. Immer wieder wanderte mein Blick zu dem jetzt nutzlosen Tonbandgerät.
Wer war der Absender? Warum ich? Warum ein Mordauftrag? Warum hatte man diese Methode der Benachrichtigung gewählt, die mich sicher nicht zufällig an eine alte Fernsehserie erinnern sollte? War allein dies schon ein Hinweis?
Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Aber wie viele Personen mit meinem Namen gab es in Wiesbaden und Umgebung schon?
Konnte das Ziel meines Auftrags mir mehr Aufschluss geben? Wer war dieser Jonathan Smithson? Was wusste Herr Smithson, das nicht weitererzählt werden durfte? Und wieso glaubte mein unbekannter Auftraggeber, dass dieser Name mit der sehr knappen Angabe zu Flug und Hotel mir reichen würde, diesen Mann zu identifizieren?
Was sollte ich jetzt tun?
Natürlich konnte ich die Nachricht einfach ignorieren. Vielleicht war es ja einfach nur ein schlechter Scherz, auch wenn ich dies nicht lustig fand. Oder es war kein Scherz, sondern ein geplantes Verbrechen, und Herr Smithson hatte Glück, dass ich eben keine Berufskillerin war.
Oder war es doch eine Geheimdienstmaßnahme, die gut begründet war? Was, wenn Herr Smithson ein Verbrecher war? Dann war es immer noch Aufgabe der Polizei, sich um ihn zu kümmern.
Nur war es nicht strafbar, mit einem Kopf voller Geheimnisse von Paris über Frankfurt nach Kairo zu fliegen. Wenn überhaupt, war erst die Weitergabe von Geheimnissen strafbar, aber erst, nachdem sie erfolgt war – und dann wäre es zu spät.
Überhaupt, die Polizei. Sollte ich mich nicht dorthin wenden? Nur womit? Das Band war zerstört. Der Mordauftrag existierte nur noch in meinem Kopf, ich hatte also keine Beweise. Man würde mir womöglich nur eine blühende Fantasie vorwerfen. War das der Grund für die Fernsehserienmethode?
Zu wenig Input. Ich stellte meinen Kaffee ab und zückte mein Smartphone. Was wusste das Internet denn über einen Herrn Jonathan Smithson?
Der Mann hatte sogar einen eigenen Wiki-Eintrag. Physiker, Science-Fiction-Autor, geboren 1929, gestorben 1983. Erschossen nach der Ankunft am Frankfurter Flughafen während einer Reise von Paris nach Kairo.