Der Scherenbaum erwachte zu neuem Leben.
Paul fröstelte. Er liebte diesen Platz, tagsüber und am Abend, während die Sonne langsam unterging. Bevor es gefährlich wurde.
Es begann mit einem feinen Klicken, kaum hörbar. Die Blätter raschelten, erst leise und sanft, dann lauter werdend. Dann berührten sich die Äste, zögerlich, fordernder, schließlich schlugen sie hart aufeinander. Sie klangen nicht wie Holz. Sie hörten sich an, als seien sie aus Metall. Wie Scheren, die sich rasend schnell öffneten und schlossen. Ein bedrohliches Geräusch. Eine Warnung, die so unmissverständlich war, dass sie jeder begriff.
Auch Paul wusste, dass es Zeit war, für heute Abschied zu nehmen. Es fiel ihm schwer. Er schaute noch einmal hinüber zum Grab, zu dem schlichten Holzkreuz, dass die Männer in die frisch aufgeschüttete Erde gebohrt hatten. Der Pater war tot. Und er selbst musste nun gehen. Obwohl es ihn schmerzte, mehr als alles andere.
Er war so sehr in sich versunken, dass er die leichte Berührung zunächst kaum bemerkte. Das Klappern der Äste hatte sich längst zum Inferno gesteigert. Es klang, als tobe über ihm ein wilder Sturm, eine Urgewalt, die alles an sich riss und es mit Wucht wieder von sich schleuderte. In diesen Momenten wirkte der Scherenbaum auf Paul immer wieder wie ein Lebewesen, dass sich in einem unkontrollierten Wutausbruch die Seele aus dem Leib schrie.
Er blickte noch einmal zum Grab des Paters, auf das Ende seines bisherigen Lebens. Paul schämte sich nicht, als er die Tränen spürte. Sie waren angebracht. Später würde keine Zeit mehr für Trauer bleiben.
Dann spürte er auch den anderen Schmerz. Ein Stich in seiner Schulter, so winzig, dass er kaum in seine Gedanken durchgedrungen war. Doch jetzt bohrte sich etwas tiefer in die Wunde hinein, alarmierte ihn, weckte ihn aus der Lethargie. Paul erschrak. Schnell wischte er sich mit der Hand über die Schulter. Die Bewegung war energisch genug. Ein harter Ruck ließ seinen Körper erzittern. Der Schlag hatte die kleine Kugel wieder von ihm getrennt.
Hoffentlich rechtzeitig, durchfuhr es Paul.
Er sprang auf, weil er endlich begriffen hatte, was geschah. Der Scherenbaum hatte ihn als Opfer auserkoren. Er griff erbarmungslos an, Paul blieb nur die Flucht. Im tosenden Lärm, den die hektisch aufeinander einprügelnden Äste verursachten, rannte er davon, so schnell er konnte. Er merkte noch, dass ihn eine weitere der Kugeln am Rücken berührte, doch der neuerliche Schmerz blieb aus. Die Fruchtkapsel des Baums hatte es offensichtlich nicht geschafft, den Stoff seiner Jacke zu durchdringen und ihre feinen Tentakel in seine Haut zu schlagen. Paul rannte weiter, zwanzig, dreißig, fünfzig Meter weit. Vorbei am Grab, nur weg von diesem Ort.
Sobald die Sonne untergegangen war, wurde es ratsam, die Nähe der Scherenbäume zu meiden. Denn dann jagten sie ihre Kugeln auf alles, was sich bewegte. So befahl es ihnen die Natur. Paul wusste das, deshalb war ihm etwas Ähnliches wie eben auch noch nie passiert, obwohl er schon oft hier gewesen war, fast jeden Abend und eigentlich immer bis Sonnenuntergang. Aber er war auch jedes Mal rechtzeitig wieder aufgebrochen. Nur heute hatte er sich vergessen. Der Tod des Paters und der Anblick des Grabes, die Endgültigkeit dessen, was geschehen war, hatten ihn den klaren Kopf verlieren lassen. Er war erst in letzter Sekunde geflüchtet, fast zu spät.
Vielleicht doch zu spät, dachte Paul. Er hielt keuchend an, weit genug vom Scherenbaum entfernt. Doch der Schmerz brannte wütend in seiner Schulter. Paul wurde schwarz vor Augen. Er musste sie schließen, um sich konzentrieren zu können. Etwas ist zurückgeblieben, wurde ihm klar. Er spürte ein Pochen, ein leises Vibrieren. Es kam aus ihm, aus seinem Körper.
Paul biss auf die Zähne, um nicht schreien zu müssen. Zwar hatte er die Kugel heruntergeschlagen, aber damit ganz offensichtlich nicht mehr rechtzeitig reagiert. Der Tentakel, nichts anderes konnte sein, steckte in seiner Schulter. Und er bohrte sich immer tiefer in sein Fleisch hinein. Breitete sich aus. Irgendwann würde er überall sein. Paul hatte von solchen Fällen gehört. Wenn der Pater davon erzählte, wollte er eigentlich nie zuhören und hing doch fasziniert an den Lippen des Mannes, der für ihn wie ein Vater gewesen war. Die Anschaulichkeit, mit der der Pater die Leiden beschrieb, ließ ihn frösteln. Doch das war meist schon wenig später vergessen. Trotzig sagte er dann, dass ihm das nie passieren würde. Der Scherenbaum war sein Baum, bei ihm fühlte er sich geborgen.
Jetzt war der Pater tot und Paul würde es vielleicht auch bald sein.
Er kämpfte gegen den Schmerz an, verdrängte die Gedanken an die Vergangenheit. Er musste in die Mission. Dort mochte es Hilfe geben. Ein Medikament. Etwas, das †¦
Es ist zu spät, hämmerte es in Pauls Kopf. Du stirbst.
Der Schmerz wurde mit jeder Sekunde stärker. Paul zitterte. Vor seinen Augen tanzten bunte Farbexplosionen, die seine Sicht behinderten. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper. Trotzdem bemerkte er, dass sich seine Beine noch bewegten. Er konzentrierte sich auf sie, versuchte, sie an den richtigen Ort zu lenken.
Es war nicht weit. Der kleine Friedhof, an dessen Rand Pauls Scherenbaum wuchs, lag nur wenige Meter hinter den letzten Häuserblöcken von Basis-2. Die Mission befand sich ebenfalls in diesem Bezirk. Paul, der fühlte, dass er schläfrig wurde, wehrte sich mit Macht dagegen. Er erinnerte sich, wie das kleine Heim des Paters mitten zwischen die Unterkünfte der Militärs gepflanzt worden war. Damals war er noch ein kleiner Junge gewesen. Es hatte es ihn gleich wie magisch angezogen. Dass er dann dort eine Heimat fand, war ein Zufall gewesen. Eigentlich wollte er den Pater nur bestehlen. Doch statt ihn streng zu bestrafen oder gar den Behörden zu übergeben, hatte der Mann mit ihm geredet. Lange und mit einer tiefen Ernsthaftigkeit, die Paul bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand geschenkt hatte. Also war er geblieben.
Eine neue Schmerzwelle ließ Paul aufstöhnen. Er schwankte, fiel, rappelte sich wieder auf. Lief weiter, fiel erneut. Kam auf die Knie, schließlich auf die Füße. Stöhnte, schrie. Lief.
„Verdammt. Was ist mit dir?“
Die Stimme kam Paul vertraut vor, dennoch konnte er sie keinem Gesicht zuordnen. Und er sah längst nur noch wabernde Schlieren, die sich vor seinen Augen einen bizarren Wettlauf lieferten.
„Was ist mit dir?“, fragte die Stimme wieder.
Er wusste, dass er antworten sollte. Aber er konnte es nicht. Seine Zunge war unendlich schwer geworden. Der Schmerz verhinderte, dass er die Worte formen konnte, die er sagen wollte.
„Bist du auf Glas?“
Paul mobilisierte seine letzten Kräfte. Wenn der andere glaubte, dass er lediglich unter Drogen stand, würde er ihn ignorieren und hier auf der Stelle liegen lassen. Er sah es klar und deutlich: Das würde seinen sicheren Tod bedeuten.
„Der Scherenbaum“, krächzte er. „Ich †¦“
Dann drehte sich alles um ihn herum. Oben war unten und umgekehrt. Er fühlte sich wunderbar leicht. Paul spürte nicht mehr, wie sein bewusstloser Körper auf dem Boden aufschlug.
Spannend wird es, den Textauszug dann mit dem zu vergleichen, was im Buch letztlich gedruckt wird!