Andrade - Leseprobe Kapitel 1 (6/7)
VERÖFFENTLICHUNGEN
Du solltest dich nicht selbst belügen. Freda schüttelte den Kopf. Es würde kein nächstes Mal geben.
Sie blickte hinüber zum Scherenbaum, der am Rand des Friedhofs stand, und musste an Paul denken, der eine ganz besondere Beziehung zu diesem Baum gehabt hatte. Ob er jemals wieder erwacht?, fragte sie sich. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie den Glauben daran fast verloren. Natürlich wollte sie, dass er endlich das Bewusstsein wiedererlangte. Aber die Hoffnung hatte sie eigentlich längst aufgegeben.
„Paul †¦“
Er war immer ein bisschen seltsam gewesen. Von seinen Eltern hatte er nie gesprochen. „Ich kenne sie nicht“, sagte er stets, wenn sie ihn danach fragte. Freda glaubte, dass das gelogen war. Aber mehr ließ er sich nicht entlocken. Da half alles Drängen nichts.
Paul war in der Mission aufgewachsen, der Pater war ihm Mutter und Vater zugleich gewesen. Freda wusste es nicht genau: Doch aus dem Wenigen, was ihr Paul und der Pater erzählt hatten, war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass Paul mit sieben Jahren in der Mission gelandet sein musste. Als das Unglück geschah, war er zehn Jahre älter gewesen. Doch statt sich freiwillig zur Flotte zu melden, mit den Rikern das Abenteuer im All zu suchen oder irgendeinen anderen Unsinn anzustellen, lag er im Koma. Seit einem Jahr. Nichts hatte sich an seinem Zustand verändert. Nicht das Geringste. Und niemand wusste, was eigentlich genau geschehen war. Fredas eigene Untersuchung hatte ergeben, dass Paul von einer Fruchtkapsel des Scherenbaums getroffen worden war. Eine Verletzung, die eigentlich tödlich sein musste. Paul war nicht bei Bewusstsein, aber er lebte. Was unterschied ihn von den anderen Opfern des Scherenbaums? Darüber hatte sie nichts herausfinden können.
„Paul †¦“, sagte sie wieder. Ihre ganze Hilflosigkeit lag in diesem einen Wort. Er würde sterben, und sie konnte nichts dagegen tun.
Sie schloss die Augen, dachte noch einmal kurz an den Pater, drehte sich dann um und ging. Freda Bendit hatte die Mission einst aus reiner Neugier aufgesucht. Sie war nie besonders gläubig gewesen, aber dieser Ort hatte sie auf eine Art und Weise angezogen, die auch für sie selbst nur schwer in Worte zu fassen war. Der Pater hatte sie in seiner Mission empfangen, wie er das mit jedem anderen tat, und keine überflüssigen Fragen gestellt. Seine Art, wie er mit ihr gesprochen hatte, war immer unaufdringlich gewesen. Sie hatte aus diesen Gesprächen Kraft geschöpft, die ihr im Alltag half. Bald hatte sich Freda in der Mission heimisch gefühlt. Der Pater lag ihr am Herzen, weil sie ihm dankbar war. Sie unterstützte ihn, wo sie konnte. Und natürlich war auch Paul ein Grund für ihre regelmäßigen Besuche dort. Der stille Junge, der am liebsten gedankenverloren in den Himmel starrte. Freda wollte herausfinden, was in ihm vorging. Sie hatte es nie erfahren. Nicht einmal andeutungsweise.
Der kleine Friedhof befand sich nicht weit hinter den letzten Häuserblöcken von Basis-2. Dort lag auch die Mission, zu der sie jetzt ging. Vielleicht mein letzter Besuch. Sie fürchtete sich davor. Der Abschied von Paul war auch ein Abschied von dieser Stadt und dem ganzen Planeten - von ihrem kompletten bisherigen Leben.
Geboren in Basis-2, gelebt in Basis-2 †¦
Immer mehr Truppen wurden von dieser Welt abgezogen, hin zu den neuen Krisenpunkten draußen im Weltall, an denen das Militär dringlicher benötigt wurde. Jetzt war auch Freda Bendit an der Reihe. Im Hospital, in dem sie arbeitete, gab es ohnehin praktisch nichts mehr zu tun. Anderswo schon.
Sie hatte versucht, sich zu trösten: Auf dieser Welt wurde es ohnehin zu gefährlich. Nicht wegen der Kotmun. Die hatten in diesem Sektor der Galaxis lange nichts mehr von sich hören lassen. Die Fronten des Krieges befanden sich heute weit weg. Viele Menschen sorgten sich wegen des Todesmondes. Eines Tages würde er das Leben auf diesem Planeten auslöschen. So hieß es, auch von offizieller Seite. Trotzdem konnte sich Freda nicht mit dem Gedanken anfreunden, von hier Abschied zu nehmen. Sie wollte bleiben, war aber in ihrer Entscheidung nicht frei.
Freda ging langsam durch den stetig herabfallenden Regen, ließ den Friedhof hinter sich, erreichte den Rand der Stadt. Ihr wurde bewusst, wie sehr sich Basis-2 verändert hatte. Sie konnte sich noch gut an früher erinnern. Damals waren hier praktisch nur Soldaten gewesen, außer ihnen und ihren Familien hatte niemand auf dem Planeten gelebt. Das war auch einige Zeit nach dem einzigen Angriff der Kotmun auf das System noch so geblieben. Doch dann häuften sich die Meldungen aus anderen Krisenregionen, dass dort erbittert gekämpft wurde. Ein Soldat nach dem anderen wurde abgezogen, ein Schiff nach dem anderen verließ Basis-2 und verschwand auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Alls. Dafür kamen andere. Die Riker, die das Abenteuer und den Nervenkitzel suchten. Hier fanden sie ihn. Nichts war so gefährlich wie ein Flug zum Todesmond.