Wie entwickelt sich die Anonymität im Internet?
#1
Geschrieben 09 Juli 2010 - 09:38
Anlass jenes Anlasses: Umstellung der Blizzard-Foren auf Realnamen
Das Internet ist irgendwie anders als die Wirklichkeit.
In beinahe jedem realen Geschäft kann ich anonym einkaufen. Ich lege meine Geldscheine auf die Theke und niemand, der nicht zufällig mein Gesicht meinem Namen zuordnen kann, weiß, wer ich bin.
Im Internet kaufe ich mit PayPal, per Überweisung oder Kreditkarte. In jedem Fall sind meine persönlichen Daten mit dem Einkauf verbunden (einzige Ausnahme: PaySafeCard).
Wenn ich in der Realität den Typ in der S-Bahn neben mir wüst beschimpfe, weil er stinkt oder zu laut Musik hört oder weil ich gerade schlechte Laune habe, kann ich mich auf eine handgreifliche Retourkutsche einstellen, deshalb lasse ich es bleiben.
In Internet-Foren kann ich mich mit einer irgendwo registrierten Email-Adresse (die sogar temporär sein kann) unter dem Namen "Volltroll" registrieren und Leute beleidigen, Orgonstrahlern medizinische Wirkung zusprechen und behaupten, ich wäre Experte in Sachen Egalwaseinfachalles - und bleibe dabei anonym und gefeit vor etwaigen ärgerlichen Folgen.
Niemand kommt auf die Idee, sich ins Düsseldorfer FKK-Freibad zu stellen, die nackten Besucher zu begaffen und sich dabei einen runterzuholen. Naja - fast niemand, nehme ich an. Aber täglich suchen Millionen Menschen (davon 90% Männer, denen die Evolution nun einmal mehr Wollust zugewiesen hat als dem starken Geschlecht) Pornoseiten im Internet auf, klicken sich durch gephotoshoppte Tussis und stöhnende Filmchen und verspritzen ihren überschüssigen Samen, der für die Zeugung von Nachkommen im Augenblick nicht benötigt wird.
Komisch - auf Facebook berichten junge Menschen frei von Sorge über ihre Privatsphäre der Welt, dass sie sich gestern sinnlos besoffen haben, ihr blöder Stecher nun eine andere hat oder auf der Arbeit eh nur youtube-Filmchen gucken und lastFM hören.
Und jetzt kommt ein großer, einflussreicher Spielekonzern daher und will, dass seine Kunden im Internet unter ihren echten Namen verkehren (zumindest, was das hauseigene Forum angeht) - das Geschrei könnte kaum größer sein! Ein Mitarbeiter, der mit gutem Beispiel voran ging und seinen echten Namen verriet, wurde so lange terrorisiert, bis er seinen Telefonanschluss kappte. Und die Täter verstecken sich hinter ihrer Anonymität, genau wie beim beliebigen Bashing im Forum.
Freilich gibt es noch einen weiteren Aspekt: Natürlich hat Blizzard mit der Verwendung der echten Namen irgendwelche monetären Interessen im Sinn. Dass eine ohnehin schon ordentlich zur Kasse gebetene Community sich dagegen wehrt, verwundert kaum, zumal sie nicht gefragt wurde. Niemand sollte gezwungen werden, sich zu identifizieren, sondern jeder sollte selbst entscheiden können, ob er das tut. Ferner gehört es zu einer Rollenspielwelt dazu, sich einen anderen Namen zuzulegen und auch aus dem Mund des Fantasiewesens zu sprechen. Seltsam mutet es dann allerdings an, wenn diese Wesen hrrrrrg, hassenichgesehn oder hoppla*3 heißen und sich im zugehörigen Forum nicht über die neuesten Elfengedichte oder Magiersünden unterhalten, sondern Filme raten, Bundesliga tippen oder einfach nur den längsten Thread aller Zeiten generieren.
Was genau ist der Vorteil der Anonymität im Internet? Dass wir unsere Gefühle ohne Angst um die Folgen ausleben können? Nun, die Entwicklung der Zivilisation hatte durchaus etwas damit zu tun, dass wir unsere Gefühle im Zaum halten, dass wir unseren Nachbarn nicht gleich lynchen, bloß weil er samstags um 8 den Rasen mäht. Wir haben etwas weniger Kriege als früher, und die Lebensbedingungen der meisten Leute sind ziemlich angenehm, jedenfalls im Vergleich zu Zeiten von Pest, Hexenverfolgung und Reviergemetzel von Urmenschen. Weil wir ein Gehirn haben und es erfolgreich nutzen, um unsere tierischen Instinkte zu kontrollieren (Fälle, in denen das unter Einfluss von zuviel Alkohol, nächtlichen S-Bahnen oder zuwenig Bildung schiefgeht, sind höchst erschreckende Rückblicke in barbarische Vergangenheit).
Offen gesagt finde ich das Benehmen der Menschheit im Internet verbesserungswürdig. Überall da, wo jemand aktiv wird, sollte er den Mut haben, mit seinem echten Namen einzustehen, und solange er sich nicht daneben benimmt, wird ihm niemand einen Strick draus drehen. Das hat nichts mit Angst zu tun, sondern mit dem Selbstbewusstsein, als erwachsener Mensch den Unterschied zwischen richtig und falsch zu kennen und sich dementsprechend zu verhalten.
Vor einer ganzen Weile hat mich ein Autor gebeten, eine negative Kritik zu einer von ihm verfassten Geschichte aus diesem Forum zu entfernen, weil er Angst hatte, dass das negativen Einfluss auf Bewerbungen (in einem Berufsfeld, das mit Schreiben nichts zu tun hat) haben könnte. Ich habe ihm geantwortet, dass sich kein Arbeitgeber für solche Nebensächlichkeiten interessiert, sondern nur für seine Qualifikation und seine Teamfähigkeit. Und wenn, dann ist es kein Arbeitgeber, bei dem man arbeiten möchte. Vielleicht leicht gesagt, wenn man selbst einen sicheren Job hat - aber ich hab mal irgendwo gelesen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und dass er seine Persönlichkeit frei entfalten darf... sogar, man mag es kaum glauben, um schlechte Kurzgeschichten zu schreiben.
Ich plädiere dafür, unter echtem Namen im Internet zu verkehren: In Foren, in Blogs, in Kommentaren. Überall, wo man aktiv wird. Als passiver Konsument kann man natürlich anonym bleiben, wie beim Fernsehen oder Lesen eines Buchs: Beim Surfen, Lesen von Blogs, Ansehen von Filmen mit und ohne Haut. Und beim Bezahlen bitteschön!
Aber überall, wo ich aktiv eine Spur hinterlasse, kann die gerne mit meinem Namen versehen sein, denn ich stehe zu dem, was ich tue und sage, sonst würde ich die Klappe halten. Es ist meine Meinung, die ich vertrete, nicht die irgendeines Anus Anonymous.
Namentlich unterzeichnet:
Uwe Post
#2
Geschrieben 09 Juli 2010 - 10:55
#3
Geschrieben 09 Juli 2010 - 11:09
Ich plädiere dafür, unter echtem Namen im Internet zu verkehren: In Foren, in Blogs, in Kommentaren. Überall, wo man aktiv wird. Als passiver Konsument kann man natürlich anonym bleiben, wie beim Fernsehen oder Lesen eines Buchs: Beim Surfen, Lesen von Blogs, Ansehen von Filmen mit und ohne Haut. Und beim Bezahlen bitteschön!
Hallo Uwe,
meinst du damit, dass man eine reele Person hinter dem Namen erkennen kann oder dass man unbedingt den eigenen Namen verwenden muss?
Wenn ich statt meinen Namen ein Pseudonym wie Mammut benutze, ändert sich doch überhaupt nichts. Wenn ich allerdings in diesem Forum unter meinem Namen und Mammut aufkreuze und niemand weiß, dass ich ein und dieselbe Person bin, sieht das natürlich anders aus.
Mein Name ist jetzt wie ein Pseudonym. Wo zeige ich da die reele Person? Es gibt allein in meiner Kleinstadt drei Michael Schmidts und deutschlandweit werden da einige zusammen kommen.
Wenn ich letztendlich ein Arschloch bin, ist es egal, ob ich ein Pseudonym oder den Realnamen verwende. Trolle gibt es auch im wahren Leben.
Ich sehe da keinen Unterschied, ob man den richtigen Namen oder einen Nickname verwendet.
Dagegen macht es schon einen Unterschied, ob ich Spuren hinterlasse (Internetkäufe, EC Käufe im realen Leben, wobei im realen Leben sich die wenigsten Gedanken darüber machen und oft die bequeme bargeldlose Variante verwenden) oder dies anonym tätige. Im realen Leben habe ich durch die Barzahlung eine gute Möglichkeit, unerkannt in den Buchladen zu gehen um mir einen SF Roman zu kaufen.
Amazon dagegen weiß immer, was ich zuletzt gekauft und angeschaut habe.
Das Benehmen der Menschen ist immer verbesserungswürdig. Ich glaube nicht, dass sich das durch das Internet sehr viel ändert. Manche trauen sich dort, die es im realen Leben nicht tun, das ist richtig. Aber die gehen dann halt in den Puff und zahlen Geld, um mal bei deinem plastischen Vergleich zu bleiben.
Oder belästigen Minderjährige, da sie sich bei Erwachsenen nicht trauen.
Einen großen Unterschied zum wahren Leben sieht man im Internet schon: Wenn ich im Freundeskreis meine Meinung abgebe, ist die irgendwann vergessen. Im Internet dagegen steht sie, wobei man auch dort editieren kann und somit tricksen.
So pauschal leuchtet mir der Unterschied zwischen virtueller Welt und Wirklichkeit nicht so unbedingt ein.
Bis bald,
Michael
http://defms.blogspo...blick-2023.html
#4
Geschrieben 09 Juli 2010 - 11:30
Überall da, wo jemand aktiv wird, sollte er den Mut haben, mit seinem echten Namen einzustehen, und solange er sich nicht daneben benimmt, wird ihm niemand einen Strick draus drehen. Das hat nichts mit Angst zu tun, sondern mit dem Selbstbewusstsein, als erwachsener Mensch den Unterschied zwischen richtig und falsch zu kennen und sich dementsprechend zu verhalten.
Hallo Uwe,
ich sehe ein Problem: ich kann bei den Rezipienten meiner Meinungsäußerung nicht das gleiche Emfpinden für richtig und falsch voraussetzen wie bei mir. Weil ich die Rezipienten meiner Meinungsäußerung nicht nur nicht kenne, sondern noch nicht einmal wahrnehme.
Du schreibst selbst:
Wenn ich in der Realität den Typ in der S-Bahn neben mir wüst beschimpfe, weil er stinkt oder zu laut Musik hört oder weil ich gerade schlechte Laune habe, kann ich mich auf eine handgreifliche Retourkutsche einstellen, deshalb lasse ich es bleiben.
In der realen Welt muss ich mich sogar auf handgreifliche Retour- oder sogar Präventivkutzschen einstellen, wenn ich mich nicht über meinen Nachbarn oder Mitfahrer beschwere. Nur weil der sich gerade in einem Rückfall in die barbarische Vergangenheit der Menschheit befindet.
Aber in der realen Welt habe ich den Vorteil, den potentiellen Barbaren wahrzunehmen, ihn als solchen (hoffentlich) zu erkennen und die Situation zu vermeiden. Wenn du willst, dann nenne das ruhig Angst.
Wie gesagt, im Internet weiß ich nicht, wer meine Äußerungen liest; und ihre Lesbarkeit beschränkt sich auch nicht nur auf einen kurzen Augenblick. Woher soll ich denn wissen, dass sich nicht in drei Monaten ein Leser im Barbarenmodus über meine Äußerung aufregt und sich sonstwelche Reaktionen einfallen lässt. (Was das für mögliche Konsequenzen haben kann, haben wir ja in der c't 13 gelesen, womit sich der Kreis zu dem Anlass deines Beitrags geschlossen hätte )
Nur, um nicht falsch verstanden zu werden: alles was ich ano-/pseudonym im Internet von mir gebe, würde ich genauso auch in der Realität sagen, soviel Selbstbewusstsein und Integrität traue ich mir schon zu. Jedoch traue ich mir auch so viel Vernunft zu, in der Realität situationsabhängig lieber nichts zu sagen.
Vielleicht bin ich da (über-)ängstlich, aber: homo homini lupus.
Aber auf jeden Fall ein denk- und diskussionswürdiges Thema.
Biom Alpha ist im Sonnensystem angekommen. Jetzt auf eigener Seite und auf Twitter @BiomAlpha
#5 Gast_Frank Böhmert_*
Geschrieben 09 Juli 2010 - 11:58
Sehe ich auch so.Ich habe ihm geantwortet, dass sich kein Arbeitgeber für solche Nebensächlichkeiten interessiert, sondern nur für seine Qualifikation und seine Teamfähigkeit. Und wenn, dann ist es kein Arbeitgeber, bei dem man arbeiten möchte.
Und vor dem Internetzeitalter gab es unglaublich viele Tipps, welche Hobbies man in Bewerbungsunterlagen am besten angibt. Vielleicht erinnern sich Leute meines Alters noch daran.
Meine Devise war immer: Wenn du fleißig bist, dazulernen willst und dich möglichst wenig verstellst, wirst du auf genau den Arbeitsplätzen landen, an denen du zufrieden sein kannst.
Frank, der schon immer überall unter seinem Klarnamen aktiv gewesen ist und ansonsten seit Jahren damit rechnet, dass es innerhalb seiner Lebenszeit nur noch Inseln der Anonymität im Internet geben wird.
#6
Geschrieben 09 Juli 2010 - 15:19
Bearbeitet von Bungle, 09 Juli 2010 - 15:20.
#7
Geschrieben 09 Juli 2010 - 15:39
Mein Blog: http://translateordie.wordpress.com/ Meine Buchbesprechungen: http://lesenswelt.de/
#8
Geschrieben 09 Juli 2010 - 20:54
besser ist das auch
-TFA- (andreas r. aus berlin btw. )
#9
Geschrieben 10 Juli 2010 - 11:15
#10
Geschrieben 10 Juli 2010 - 13:04
#11
Geschrieben 10 Juli 2010 - 14:10
Vielen Dank für eure interessanten Diskussionsbeiträge!
Jetzt würde mich mal interessieren, wie ihr die Entwicklung von Anonymität und Privatsphäre im Internet in der Zukunft prognostiziert!
Gute Frage, über die ich aber erst einmal nachdenken muss.
Solange hier ein interessanter Nebenaspekt der Thematik Anonym wider Willen. (Zumindest das grundlegende Problem finde ich interessant.)
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#12 Gast_Michel_*
Geschrieben 10 Juli 2010 - 19:47
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