Mich würde in dem Zusammenhang zwei Fragen interessieren, die eventuell zusammenhängen:
1. Ist die Situation in den verschiedenen Ländern gleich oder haben wir in Deutschland ein spezielles Problem?
2. Wird der Mangel an postmoderner SF primär durch die Interesselosigkeit bei den Autoren oder bei den Lesern induziert?
Mein persönlicher Eindruck ist, daß wir in Deutschland durch die scharfe U/E-Trennung Berührungsängste haben, die sowohl U- von E-Leser wie auch die Autoren voneinander trennen.
Dadurch werden Grenzgänger, die neue Ideen in den anderen Bereich einbringen könnten, stärker ausgebremst als z.B. in den USA.
Wobei es so ausschaut, als ob die Übernahmebereitschaft im E-Bereich was SF-Themen angeht zumindest momentan höher ausfällt, als die Übernahmebereitschaft im SF-Genre was moderne literarische Ausdrucksformen angeht.
Es gibt im SF-Genre so eine latente trotzige Ignoranz, nach dem Motto, wir wissen zwar, daß das alles altbacken ist, aber es ist unsere gewollte SF-Altbackenheit.
Ich denke, wenn man einen Vergleich zum englischsprachigen Raum zieht, muss man immer mitbedenken, dass dort auch Nischenprodukte einen zahlenmäßig ausreichend großen Markt haben, damit ein Verlag sich mit deren Publikation über Wasser halten kann. Wenn ein UK-Autor wie Hal Duncan den Sprung in die USA schafft, dann springen mit Sicherheit selbst bei seinem randständigen, nichtlenearen, schwulen, pulpigen, mythologischen Randerscheinungsbuch noch ein paar Tantiemen raus. Und jemand wie Delany, der insbesondere auch von den AkademikerInnen gelesen und anerkannt wird, hat damit natürlich noch mal einen eigenen Markt hinzugewonnen. Und dadurch, dass relevante SF/Fantastik-Werke der eher abgefahrenen Sorte in den USA nicht nur erscheinen, sondern durchaus auch über längere Zeiträume lieferbar bleiben, können sie natürlich auch einen bleibenderen Eindruck in der Szene hinterlassen. Und schließlich sind an den US-Unis eben sonderbare Spezialfächer (Gender Studies, Postcolonial Studies, Science Fiction Studies) viel etablierter als hier, und dort wird eben auch tedenziell dann und wann SF der "postmodernen" Variante rezipiert, allein schon, weil man sich in diesen Fächern selbst den "Randgestalten" zugehörig fühlt und oft eine gewisse Grundsolidarität für eine Literatur aufbringt, die tendenziell marginalisiert ist.
Schließlich habe ich auch den Eindruck, dass im englischssprachigen Raum sehr viel mehr Bereitschaft besteht, eine eigenwillige Ästhetik als "anspruchsvoll" und durchaus auch politisch relevant zu schätzen. In der deutschen SF-Szene habe ich den Eindruck, dass als anspruchsvoll und relevant immer nur klar benennbare und meistens möglichst eindeutige Inhalte gewertet werden - in deutschen Rezensionen liest man ja immer wieder abschreckende Sätze wie "XYs Roman warnt davor" oder "eine beißende Satire auf" "XY zeigt uns eine Welt, die näher an der unseren ist, als uns lieb sein kann", was alles gut gemeint sein mag, in mir aber den Verdacht auf moralinvergiftete texte weckt. Geschichten und Romane, die inhaltlich schwerer zu fassen sind, dafür aber ästhetisch radikal - mir fällt z.B. Tobias O. Meißners "Starfish Rules" ein - werden, soweit ich das mitbekomme, eher wenig gewürdigt. Gewollt wird doch scheinbar - selbst bei den "anspruchsvollen" Lesern - zumeist das formal und inhaltlich transparente, anderes steht in den Verdacht, Geschwurbel zu sein, mit dem der Autor sich über seine Leser erheben will. Das mag dann doch wieder was mit deutscher Ideengeschichte zu tun haben ...
Letztlich finde ich es vor allem schade, dass ästhetische Radikalität, wie man sie bei Delany, Duncan und anderen "Postmodernen" findet, kaum als etwas der Leselust potentiell zuträgliches aufgefasst wird, sondern eher als zusätzliche Arbeitsanforderung bei der Textentschlüsselung. Selten beschreibt mal jemand die Lust daran, durchgerüttelt und vor den Kopf gestoßen zu werden, wie ich sie z.B. bei Dhalgren verspürt habe. Sehr oft steht, soweit ich das mitkriege, bei der Rezeption entweder die höfliche Anerkennung im Vordergrund ("Das ist ein hochintellektuelles Werk, ich bin mir nicht sicher, ob ich es ganz verstehe") oder die Kränkung ("Der will sich doch nur auf Kosten der leser schlautun!"). Ich empfinde bei in meinen Augen guten "postmodernen" Werken sehr oft erst mal eher ein verblüfftes: "Wahnsinn! was ist denn DAS jetzt?", und das ist erst einmal eine Lustreaktion, keine Kopfreaktion, die nichts damit zu tun hat, ob ein Text "anspruchsvoll" oder politisch relevant ist.