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Klassische Erzählweise vs Postmoderne in der SF


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214 Antworten in diesem Thema

#61 Naut

Naut

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 14:09

Trotzdem halte ich das immer noch für eine marginale Unterscheidung.
Dieselbe Erscheinung gibt es auch beim Erzähler.
Wer kennt nicht in einer Unterhaltung den "Autisten", der sich gerne selber zuhört?
Ich glaube nicht an eine Entfremdung der Kommunikation durch eine "externe Speicherung" des Textes.

Es geht auch nicht um eine Unterscheidung, sondern um ein Kontinuum. Jeder Text hat beide Aspekte, aber in verschiedenen Anteilen. Extrempole sind der "autistische" Lyriker, der nur für ihn selbst verständliche Lautfolgen produziert und der (vermeintlich) objektiv-berichtende Journalist (hier sieht man schon, dass man nicht kommunizieren kann, ohne etwas "von sich" einzubringen, aber wir reden ja von Extremen). Alles andere bewegt sich dazwischen.

Ich würde dann die Mittel der Klassik, Moderne und Postmoderne als einen Werkzeugkasten sehen, mit dessen Hilfe ich mich auf dieser Achse bewegen kann. So hat Frank das auch formuliert: Der "Künstler" wählt die Werkzeuge, die zur Externalisierung seines "Innen" am passendsten sind, der "Erzähler" wählt nur diejenigen, die seinen Rezipienten am wenigsten irritieren.
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#62 Jim

Jim

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 14:24

Warum wird in der aktuellen SF eine konservative Erzählweise bevorzugt? Oder anders gefragt: Warum ist SF im Vergleich zu vielen anderen literarischen Genres vergleichsweise konservativ? Eine spannende Frage. Ich weiss noch nicht einmal ob das überhaupt stimmt. Wenn man die 'postmoderne' Einsicht zugrundelegt, dass ein Roman nicht beim Autor entsteht, sondern erst vom Leser für sich selbst 'zusammengesetzt' wird, sollte man sagen: Es hat mit der aktuellen SF-Leserschaft zu tun. In diesem anderen Thread von vor einiger Zeit (Irgendwas mit Exploitation) habe ich ja zum Beispiel gelernt, dass es prinzipiell sehr viele SF-Neuerscheinungen gibt, die sich auch erzählerisch trauen, Neues auszuprobieren. Nur die werden offensichtlich zumindest in Deutschland sehr viel weniger registriert als die 'klassichen' Autoren (Perry Rhodan, Star Wars usw), die die Regale bei Thalia füllen, und die sich im Wesentlichen am 'Golden Age' orientieren. Die 'New Wave' scheint immer noch das experimentelle Extrembeispiel zu sein. Und das war in den Siebzigern... Totzdem - wenn ich solche Threads hier lese, dann werde ich geradezu euphorisch. Es GIBT Leute, die sich mehr erzählerischen Mut wünschen. Sogar in Deutschland! Und das bedeutet ganz klar, dass es dafür einen Markt gibt. Vielleicht kommen ja bessere Zeiten...

Bearbeitet von Jim, 15 Dezember 2010 - 14:40.


#63 Konrad

Konrad

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 14:29

Es geht auch nicht um eine Unterscheidung, sondern um ein Kontinuum.

Sorry, ich sehe hier kein Kontinuum sondern nur mißlungene Kommunikationsversuche mit und ohne Konservierung.

#64 molosovsky

molosovsky

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 14:56

Der Großteil der SF soll sich auf dem Markt der Unterhaltungsliteratur verkaufen können. Entsprechend zielt sie auf Leser, die zu Fuss unterwegs sind, und nicht auf Bergsteiger. Ich mache mal die sportive Achse auf: man kann zur Entspannung lesen (was nicht automatisch heißt, dass man geistloses oder flaches Zeug ließt), oder man kann lesen, um kognitive und emotionelle Anstrengungen zu genießen (was nicht automatisch heißt, dass die entsprechend herangezogene Lektüre anspruchsvoller ist). Die Reinform lässt sich schwer bestimmen, aber wenn man verschiedenster Lesermeinungen zusammenspiegeln, kann man schon in etwa sagen, zu welcher Gruppe bestimmte Bücher gehören. †” Vergleich zweier thematisch ähnlicher Werke: Dan Brown (Robert Langdon-Romane) ist eher was für Fussgänger, Eco (»Das Fouccaultsche Pendel«) eher was für Bergsteiger usw. Markant finde ich, dass es in der SF mindestens eine ganze Richtung gibt (›New Wave« eben), die sich intensiv darum bemühte (post-)moderne Erzählweisen und Themen zu verarbeiten †¦ und das z.T. durchaus teilweise mit Erfolg. †” Und ich finde desweiteren bemerkenswert, dass es künstlerisch ambitionierte, (post-)moderne ›Literatur‹ gibt (oder wie immer ihr das nennen wollt), die man ohne mit der Wimper zu zucken als SF bezeichnen kann, die aber eben nicht als solche vermarktet wird. Grüße Alex / molo

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#65 Naut

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 15:05

Sorry, ich sehe hier kein Kontinuum sondern nur mißlungene Kommunikationsversuche mit und ohne Konservierung.

Aprospo misslungene Kommunikation: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Du jetzt meinst. ;)

Ich bezog mich auf die von Frank aufgemachte Achse zwischen "Erzähler" und "Künstler". Ich habe erklärt, warum ich denke, dass das eine Achse ist, weil nämlich zwischen diesen beiden Ansprüchen zu schreiben alle Mischformen existieren.
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#66 simifilm

simifilm

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 15:08

Aprospo misslungene Kommunikation: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Du jetzt meinst. ;)

Ich bezog mich auf die von Frank aufgemachte Achse zwischen "Erzähler" und "Künstler". Ich habe erklärt, warum ich denke, dass das eine Achse ist, weil nämlich zwischen diesen beiden Ansprüchen zu schreiben alle Mischformen existieren.


Das Problem ist doch genau dieser "Anspruch". Der Anspruch eines Autors muss eben keineswegs mit dem Ergebnis deckungsgleich sein. Manch einer will ein grosses Publikum erreichen und fabriziert am Ende dann doch was, was nur ihn selbst berührt. Und andere schreiben hochprivate Tagebücher, die nachher von aller Welt gelesen werden. Deshalb scheint mir diese Perspektive auch nicht sonderlich sinnvoll, wenn es um das Verhältnis von Schreibstilen und SF geht.

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#67 Konrad

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 15:32

Aprospo misslungene Kommunikation: Ich habe nicht die geringste Ahnung, was Du jetzt meinst. ;)

Ich bezog mich auf die von Frank aufgemachte Achse zwischen "Erzähler" und "Künstler". Ich habe erklärt, warum ich denke, dass das eine Achse ist, weil nämlich zwischen diesen beiden Ansprüchen zu schreiben alle Mischformen existieren.

Ich halte die Differenzierung eines Externalisierungswunsches eines Künstlers und dem Übermittlungswunsches eines Erzählers für untauglich, ein Kontinuum aufzuspannen, weil die Dimensionen nicht linear unabhängig sind, um bei der mathematischen Beschreibung zu bleiben.
Letztlich ist die Externalisierung bei einem Erzähler die Grundvoraussetzung für eine Kommunikation und ein Künstler korrigiert üblicherweise sein Kunstwerk, in dem er exemplarisch die Rolle des Rezipienten einnimmt.
Nach meiner Vorstellung kann man Kunst nicht ohne einen Rezipienten definieren, und sei es der Künstler selber.
Und damit wird beides zur Kommunikation.
Die Erzählung des Schamanen wird nur nicht konserviert (aufgeschrieben).
Bei beiden gibt es mißlungene Kommunikation von Autisten. ;)

Bearbeitet von Konrad, 15 Dezember 2010 - 16:06.


#68 Gast_Frank Böhmert_*

Gast_Frank Böhmert_*
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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 15:48

scheint mir diese Perspektive auch nicht sonderlich sinnvoll, wenn es um das Verhältnis von Schreibstilen und SF geht.

Die Eingangsfrage zumindest des Thread-Untertitels war, warum in der SF der klassische Erzählstil bevorzugt wird.

Ich habe meinen Senf zu der Frage gegeben, warum ihn Autoren und Leser bevorzugen könnten.

Warum Texte ihn bevorzugen könnten, diese Frage überlasse ich gerne den Wissenschaftlern, simi, die ist nämlich wiederum mir zu hoch und zu nebulös ... ;)

#69 Jim

Jim

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 15:49

Markant finde ich, dass es in der SF mindestens eine ganze Richtung gibt (›New Wave« eben), die sich intensiv darum bemühte (post-)moderne Erzählweisen und Themen zu verarbeiten †¦ und das z.T. durchaus teilweise mit Erfolg. †” Und ich finde desweiteren bemerkenswert, dass es künstlerisch ambitionierte, (post-)moderne ›Literatur‹ gibt (oder wie immer ihr das nennen wollt), die man ohne mit der Wimper zu zucken als SF bezeichnen kann, die aber eben nicht als solche vermarktet wird.


Aber ist das nicht etwas zu rosig dargestellt? (Versteh mich nicht falsch - ich würde dir nur zu gerne recht geben)
Die New-Wave hat sich totgelaufen, Nachfolgeerscheinungen wie New-Weird sind weitgehend unbekannt. Die einzigen deutschen SF-Schriftsteller, die noch einer kennt (no offence boys http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/cool.png ) sind Schätzing und Eschbach. Und die würden sich wohl auch selbst nicht als postmodern, experimentell, anspruchsvoll oder wie auch immer bezeichnen. Die lassen sich ja sogar als 'Wissenschafts-Thriller' verkaufen...

An deutschen (Großen Publikums-)Verlagen haben nur Bastei und Heyne SF im Programm und die Zeiten von Wolfgang Jeschke scheinen mir auch schon lange vorbei.

Vielleicht sehe ich das ja alles viel zu schwarz (Überzeugt mich. Echt. Gerne), aber mir scheint, die goldenen Zeiten müssen in Deutschland erst noch kommen.

#70 simifilm

simifilm

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 16:01

Die Eingangsfrage zumindest des Thread-Untertitels war, warum in der SF der klassische Erzählstil bevorzugt wird.

Ich habe meinen Senf zu der Frage gegeben, warum ihn Autoren und Leser bevorzugen könnten.

Warum Texte ihn bevorzugen könnten, diese Frage überlasse ich gerne den Wissenschaftlern, simi, die ist nämlich wiederum mir zu hoch und zu nebulös ... http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/laugh.png


Aber die Frage, wie Texte funktionieren sollte eigentlich beide - Schriftsteller und Wissenschaftler - interessieren.

Bearbeitet von simifilm, 15 Dezember 2010 - 16:02.

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#71 Lucardus

Lucardus

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 18:04

Welche Laus ist denn Dir über die Leber gelaufen; warum der aggressive Tonfall? Hat Dir hier jemand was angetan? Niemand der hier im Thread Aktiven ist Schuld daran, dass der Begriff der Postmoderne alles andere als eindeutig ist.

Simifilm, mir ist keine Laus über die Leber gelaufen, das Posting war auch nicht aggressiv gedacht. Ich vermute mal, du hast dich bei den von mir angeführen "Germanisten" angesprochen gefühlt und es deshalb so empfunden. Falls du dich dadurch persönlich angegriffen gefühlt hast, tut mir das leid, so war das nicht gemeint.

Nichtsdestotrotz wollte ich mit meinem Posting erreichen, dass u. a. du nicht gleich wieder in Dimensionen aufsteigst, die z. B. mir zu abstrakt werden, um sie noch fassen zu können. Mir jedenfalls fällt es da schwer irgendwas dazu zu sagen, was dann nicht als "Pauschalisierung" bei dir durchgeht.
Goodreads: Ich lese gerade" (sorry, nur für "Mitglieder" sichtbar)
Wer mal reinschauen will: http://www.goodreads.com/

#72 †  a3kHH

†  a3kHH

    Applicant for Minion status in the Evil League of Evil

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 18:22

Liebe schweigende Mehrheit!

Je mehr ihr die Experten allein lasst, desto expertenhafter wird diskutiert. Also hertrauen, Maul aufreißen.

Bitte genau so wie bisher weitermachen.
http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/smokin.gif

#73 Amtranik

Amtranik

    Hordenführer

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 18:50

Bitte genau so wie bisher weitermachen.
http://www.scifinet....tyle_emoticons/default/smokin.gif


Wo Du recht hast haste recht :huh:

#74 simifilm

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Geschrieben 15 Dezember 2010 - 18:57

Simifilm, mir ist keine Laus über die Leber gelaufen, das Posting war auch nicht aggressiv gedacht. Ich vermute mal, du hast dich bei den von mir angeführen "Germanisten" angesprochen gefühlt und es deshalb so empfunden. Falls du dich dadurch persönlich angegriffen gefühlt hast, tut mir das leid, so war das nicht gemeint.

Nichtsdestotrotz wollte ich mit meinem Posting erreichen, dass u. a. du nicht gleich wieder in Dimensionen aufsteigst, die z. B. mir zu abstrakt werden, um sie noch fassen zu können. Mir jedenfalls fällt es da schwer irgendwas dazu zu sagen, was dann nicht als "Pauschalisierung" bei dir durchgeht.


Was ist Dir denn konkret zu abstrakt und nicht mehr fassbar?

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#75 Naut

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 11:43

Ich halte die Differenzierung eines Externalisierungswunsches eines Künstlers und dem Übermittlungswunsches eines Erzählers für untauglich, ein Kontinuum aufzuspannen, weil die Dimensionen nicht linear unabhängig sind, um bei der mathematischen Beschreibung zu bleiben.
Letztlich ist die Externalisierung bei einem Erzähler die Grundvoraussetzung für eine Kommunikation und ein Künstler korrigiert üblicherweise sein Kunstwerk, in dem er exemplarisch die Rolle des Rezipienten einnimmt.
Nach meiner Vorstellung kann man Kunst nicht ohne einen Rezipienten definieren, und sei es der Künstler selber.
Und damit wird beides zur Kommunikation.
Die Erzählung des Schamanen wird nur nicht konserviert (aufgeschrieben).
Bei beiden gibt es mißlungene Kommunikation von Autisten. :thumb:

Um zwischen zwei Punkten eine Linie aufzuspannen reicht es, wenn die Punkte unterschiedlich sind. Linear unabhängig müssen sie nicht sein.

Und das, was Du erklärst, ist genau das, was ich meine: In der "Realität" wird jeder Autor eine Position in der Mitte zwischen den beiden Extremen beziehen. Dass man dieses Modell anzweifeln kann, geschenkt. Das ist ganz normal in den Geisteswissenschaften, es ist ja nur ein Modell. Ich finde es aber tauglich, sich zumindest der Frage "Was will der Autor?" zu nähern.

Die Wahrnehmung des Lesers durchläuft denselben Prozess nochmal. Unabhängig vom Anspruch des Autors kann der Text mehr oder weniger lesbar ausfallen. Letztlich hängt es von der Anschlussfähigkeit des Lesers an den Autor ab: Wie ähnlich sind sich beider Gedanken- und Erfahrungswelten.

Klar, das ist alles trivialer Erstsemesterkram, aber wir wollen ja überlegen, warum es so viel "klassisch" erzählte SF gibt. Ich denke, die Absicht vieler SF-Autoren, ihren Lesern ein angenehmes Lesenest zu bauen (mit welchen Hintergedanken auch immer, und sei es nur, um stinkend reich zu werden) spielt eine sehr wichtige Rolle.
Liest gerade: Atwood - Die Zeuginnen

#76 Konrad

Konrad

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 11:57

Mich würde in dem Zusammenhang zwei Fragen interessieren, die eventuell zusammenhängen: 1. Ist die Situation in den verschiedenen Ländern gleich oder haben wir in Deutschland ein spezielles Problem? 2. Wird der Mangel an postmoderner SF primär durch die Interesselosigkeit bei den Autoren oder bei den Lesern induziert? Mein persönlicher Eindruck ist, daß wir in Deutschland durch die scharfe U/E-Trennung Berührungsängste haben, die sowohl U- von E-Leser wie auch die Autoren voneinander trennen. Dadurch werden Grenzgänger, die neue Ideen in den anderen Bereich einbringen könnten, stärker ausgebremst als z.B. in den USA. Wobei es so ausschaut, als ob die Übernahmebereitschaft im E-Bereich was SF-Themen angeht zumindest momentan höher ausfällt, als die Übernahmebereitschaft im SF-Genre was moderne literarische Ausdrucksformen angeht. Es gibt im SF-Genre so eine latente trotzige Ignoranz, nach dem Motto, wir wissen zwar, daß das alles altbacken ist, aber es ist unsere gewollte SF-Altbackenheit. :thumb:

#77 Jakob

Jakob

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 12:28

Mich würde in dem Zusammenhang zwei Fragen interessieren, die eventuell zusammenhängen:
1. Ist die Situation in den verschiedenen Ländern gleich oder haben wir in Deutschland ein spezielles Problem?
2. Wird der Mangel an postmoderner SF primär durch die Interesselosigkeit bei den Autoren oder bei den Lesern induziert?

Mein persönlicher Eindruck ist, daß wir in Deutschland durch die scharfe U/E-Trennung Berührungsängste haben, die sowohl U- von E-Leser wie auch die Autoren voneinander trennen.
Dadurch werden Grenzgänger, die neue Ideen in den anderen Bereich einbringen könnten, stärker ausgebremst als z.B. in den USA.
Wobei es so ausschaut, als ob die Übernahmebereitschaft im E-Bereich was SF-Themen angeht zumindest momentan höher ausfällt, als die Übernahmebereitschaft im SF-Genre was moderne literarische Ausdrucksformen angeht.
Es gibt im SF-Genre so eine latente trotzige Ignoranz, nach dem Motto, wir wissen zwar, daß das alles altbacken ist, aber es ist unsere gewollte SF-Altbackenheit. :thumb:


Ich denke, wenn man einen Vergleich zum englischsprachigen Raum zieht, muss man immer mitbedenken, dass dort auch Nischenprodukte einen zahlenmäßig ausreichend großen Markt haben, damit ein Verlag sich mit deren Publikation über Wasser halten kann. Wenn ein UK-Autor wie Hal Duncan den Sprung in die USA schafft, dann springen mit Sicherheit selbst bei seinem randständigen, nichtlenearen, schwulen, pulpigen, mythologischen Randerscheinungsbuch noch ein paar Tantiemen raus. Und jemand wie Delany, der insbesondere auch von den AkademikerInnen gelesen und anerkannt wird, hat damit natürlich noch mal einen eigenen Markt hinzugewonnen. Und dadurch, dass relevante SF/Fantastik-Werke der eher abgefahrenen Sorte in den USA nicht nur erscheinen, sondern durchaus auch über längere Zeiträume lieferbar bleiben, können sie natürlich auch einen bleibenderen Eindruck in der Szene hinterlassen. Und schließlich sind an den US-Unis eben sonderbare Spezialfächer (Gender Studies, Postcolonial Studies, Science Fiction Studies) viel etablierter als hier, und dort wird eben auch tedenziell dann und wann SF der "postmodernen" Variante rezipiert, allein schon, weil man sich in diesen Fächern selbst den "Randgestalten" zugehörig fühlt und oft eine gewisse Grundsolidarität für eine Literatur aufbringt, die tendenziell marginalisiert ist.

Schließlich habe ich auch den Eindruck, dass im englischssprachigen Raum sehr viel mehr Bereitschaft besteht, eine eigenwillige Ästhetik als "anspruchsvoll" und durchaus auch politisch relevant zu schätzen. In der deutschen SF-Szene habe ich den Eindruck, dass als anspruchsvoll und relevant immer nur klar benennbare und meistens möglichst eindeutige Inhalte gewertet werden - in deutschen Rezensionen liest man ja immer wieder abschreckende Sätze wie "XYs Roman warnt davor" oder "eine beißende Satire auf" "XY zeigt uns eine Welt, die näher an der unseren ist, als uns lieb sein kann", was alles gut gemeint sein mag, in mir aber den Verdacht auf moralinvergiftete texte weckt. Geschichten und Romane, die inhaltlich schwerer zu fassen sind, dafür aber ästhetisch radikal - mir fällt z.B. Tobias O. Meißners "Starfish Rules" ein - werden, soweit ich das mitbekomme, eher wenig gewürdigt. Gewollt wird doch scheinbar - selbst bei den "anspruchsvollen" Lesern - zumeist das formal und inhaltlich transparente, anderes steht in den Verdacht, Geschwurbel zu sein, mit dem der Autor sich über seine Leser erheben will. Das mag dann doch wieder was mit deutscher Ideengeschichte zu tun haben ...

Letztlich finde ich es vor allem schade, dass ästhetische Radikalität, wie man sie bei Delany, Duncan und anderen "Postmodernen" findet, kaum als etwas der Leselust potentiell zuträgliches aufgefasst wird, sondern eher als zusätzliche Arbeitsanforderung bei der Textentschlüsselung. Selten beschreibt mal jemand die Lust daran, durchgerüttelt und vor den Kopf gestoßen zu werden, wie ich sie z.B. bei Dhalgren verspürt habe. Sehr oft steht, soweit ich das mitkriege, bei der Rezeption entweder die höfliche Anerkennung im Vordergrund ("Das ist ein hochintellektuelles Werk, ich bin mir nicht sicher, ob ich es ganz verstehe") oder die Kränkung ("Der will sich doch nur auf Kosten der leser schlautun!"). Ich empfinde bei in meinen Augen guten "postmodernen" Werken sehr oft erst mal eher ein verblüfftes: "Wahnsinn! was ist denn DAS jetzt?", und das ist erst einmal eine Lustreaktion, keine Kopfreaktion, die nichts damit zu tun hat, ob ein Text "anspruchsvoll" oder politisch relevant ist.
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#78 Konrad

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 13:01

Um zwischen zwei Punkten eine Linie aufzuspannen reicht es, wenn die Punkte unterschiedlich sind. Linear unabhängig müssen sie nicht sein.

Und das, was Du erklärst, ist genau das, was ich meine: In der "Realität" wird jeder Autor eine Position in der Mitte zwischen den beiden Extremen beziehen. Dass man dieses Modell anzweifeln kann, geschenkt. Das ist ganz normal in den Geisteswissenschaften, es ist ja nur ein Modell. Ich finde es aber tauglich, sich zumindest der Frage "Was will der Autor?" zu nähern.

Die Wahrnehmung des Lesers durchläuft denselben Prozess nochmal. Unabhängig vom Anspruch des Autors kann der Text mehr oder weniger lesbar ausfallen. Letztlich hängt es von der Anschlussfähigkeit des Lesers an den Autor ab: Wie ähnlich sind sich beider Gedanken- und Erfahrungswelten.

Ok, trotzdem halte ich die Bezeichnung des einen Extrems als "Künstler" für eine Diskriminierung von Künstlern.
Es propagiert das Bild des autistischen Künstler als Prototyp, was so nicht richtig ist.
Für mich ist ein Erzähler ein Künstler.
Die Skala, die du skizzierst, unterscheidet nur mehr oder minder autistische Künstler.

#79 molosovsky

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 13:09

Dem letzten Absatz von Jakob stimme ich voll und ganz zu.

Gedankensprung und Ergänzung:

Einen interessanten Ansatz für eine Erklärung der Zurückhaltung gegenüber ›postmodernen‹ Werken, habe ich der Rohwolt-Monographie zu Umberto Eco gefunden, wenn Michael Nerlich spekuliert, warum »Der Name der Rose« sich hierzulande zwar gut verkaufte, auf auf sehr lebhafte Ablehnung der Literaturkritik stieß:

Aber der Bewunderung, mit der die internationale Kritik und die deutschen Geisteswissenschaftler seine {Ecos} Romane begrüßen und interpretieren, und ihrer Beliebtheit beim internationalen und deutschen Lesepublikum steht ein so gut wie einstimmiger Verriss durch das deutsche Feuilleton gegenüber. Dieses einzigartige Phänomen dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die deutsche Literaturkritik im 19. Jahrhundert in Abgrenzung vom französischen Klassizismus zunächst Aristoteles ad acta legte und später in der BRD und dann im wiedervereinigten Deutschland die idealistische Hermeneutik-Konzeption der Schleiermacher und Dilthey {†¦} zum umumstößlichen Credo der Auslegungskunst literarischer Texte erhob. Dieser Entwicklung ist zu danken, dass in den meisten deutschen Rezensionen literarische Texte mittels ›kongenialer‹ ›Versenkung‹ und per ›Nachempfinden‹ beurteilt werden, was sich inzwischen weitgehend darauf beschränkt, dass die Literaturkritiker des Feuilletons prüfen, ob literarische Texte ›aus dem Bauch heraus‹ beziehungsweise ›mit dem Bauchgefühl‹ geschrieben wurden und ob die literarischen Figuren ›Gestalten aus Fleisch und Blut‹ sind.


Wenn man einen Blick wirft auf die Art von heimischer Literatur, die ausgiebig in den Medien besprochen wird, dann finde ich, dass diese These sehr plausibel ist. Mir dünkt, der Großteil unserer Literatur ist ›Befindlichkeitsliteratur‹. †”†” SF ist nun mal zumeist Ideenliteratur.

In einem Klima, wo eben Befindlichkeit als Wert und Maßstab dominiert, hat es Ideenliteratur folglich schwerer, angemessen gelesen und gewürdigt zu werden; Und eine weitere Folge ist dann, dass ›experimentellere‹ Formen im Gegensatz zu ›konventionellen‹ mit minderem Interesse und Verständnis aufgenommen werden.

Grüße
Alex / molo

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#80 simifilm

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 13:12

Einen interessanten Ansatz für eine Erklärung des Zurückhaltung gegenüber ›postmodernen‹ Werken, habe ich der Rohwolt-Monographie Über Umberto Eco gefunden, wenn Michael Nerlich spekuliert, warum »Der Name der Rose« sich hierzulande zwar gut verkaufte, auf auf sehr lebhafte Ablehnung der Literaturkritik stieß:

Wenn man einen Blick wirft auf die Art von heimischer Literatur, die ausgiebig in den Medien besprochen wird, dann finde ich, dass diese These sehr plausibel ist. Mir dünkt, der Großteil unserer Literatur ist ›Befindlchkeitsliteratur‹. †”†” SF ist nun mal Ideenliteratur.


Dass der Der Name der Rose im deutschen (oder deutschsprachigen) Feuilleton so negativ aufgenommen werden sein soll, ist mir neu. Auch die Einschätzung, dass generell Befindlchkeitsliteratur bevorzugt wird, deckt sich eigentlich kaum mit meiner Erfahrung.


Und eine weitere Folge ist dann, dass ›experimentellere‹ Formen im Gegensatz zu ›konventionellen‹ mit minderem Interesse und Verständnis aufgenommen werden.


Da sehe ich nun aber gleich mehrere Widersprüche: Der Tenor hier im Thread war, ja dass SF-Leser als Leser von "Ideenliteratur" (wobei ich diesen Begriff ziemlich problematisch finde) eher Mühe mit stilistischen Experimenten haben, während die "Hochliteratur" letztere bevorzugt. Wenn nun im deutschen Feuilleton eine Abneigung gegen "Ideenliteratur" vorherrscht, dann wäre damit ja auch eine inhaltliche und eben gerade nicht eine formale Kategorie gemeint. Eigentlich müsste aus einer Ablehnung von "inhaltlichen Neuerungen" doch logischerweise ein Interesse an formalen Experimenten folgen.

Bearbeitet von simifilm, 16 Dezember 2010 - 13:17.

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Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
 

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#81 molosovsky

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 13:39

Wegen den Widersprüchen: Der These, dass ›die SF Leser‹ im Gegensatz zu den ›Hochliteratur-Lesern‹ stilistische Experimente scheuen, stimme ich nicht zu. Eher glaube ich, dass beides, SF-Literatur und experimentellere Literatur, Nischen sind, die in einem Befindlichkeits-Klima nicht rege blühen können. Bei der SF erscheint mir das ziemlich paradox, denn wir leben immerhin in SF-igen Zeiten. Der Begriff ›Ideenliteratur‹ ist problematisch, stimmt. Ich verstehe den so, dass er alle Aspekte betreffen kann, also Inhaltliches und Formales, im Idealfall geht das sogar Hand in Hand, sprich: Ideen betreffs der Handlung und der Figuren gehen einher mit stilistischen Ideen. Grüße Alex / molo

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Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

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#82 lapismont

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 13:45

Ich halte die Differenzierung eines Externalisierungswunsches eines Künstlers und dem Übermittlungswunsches eines Erzählers für untauglich, ein Kontinuum aufzuspannen, weil die Dimensionen nicht linear unabhängig sind, um bei der mathematischen Beschreibung zu bleiben.
Letztlich ist die Externalisierung bei einem Erzähler die Grundvoraussetzung für eine Kommunikation und ein Künstler korrigiert üblicherweise sein Kunstwerk, in dem er exemplarisch die Rolle des Rezipienten einnimmt.
Nach meiner Vorstellung kann man Kunst nicht ohne einen Rezipienten definieren, und sei es der Künstler selber.
Und damit wird beides zur Kommunikation.
Die Erzählung des Schamanen wird nur nicht konserviert (aufgeschrieben).
Bei beiden gibt es mißlungene Kommunikation von Autisten. :thumb:


Das sind so Absätze, deren Sinn sich mir nicht sofort erschließt. Den ersten Satz etwa verstehe ich komplett nicht.
Aber ich kann für den "autistischen" Lyriker sprechen. Alles was er in den Text hineinstopft, kann der Leser gar nicht entziffern. Dazu ist viel zu viel Verdichtung, persönliche Symbolik und oft genug Unbewusstes eingeflossen. Andererseits eröffnen sich für den Leser Zusammenhänge oder Bedeutungen, die dem Dichter nicht in den Sinn kamen. Wenn überhaupt, ist die Kommunikation über den Text rein assoziativ.


[...]
in deutschen Rezensionen liest man ja immer wieder abschreckende Sätze wie "XYs Roman warnt davor" oder "eine beißende Satire auf" "XY zeigt uns eine Welt, die näher an der unseren ist, als uns lieb sein kann", was alles gut gemeint sein mag, in mir aber den Verdacht auf moralinvergiftete texte weckt.
[...]
Sehr oft steht, soweit ich das mitkriege, bei der Rezeption entweder die höfliche Anerkennung im Vordergrund ("Das ist ein hochintellektuelles Werk, ich bin mir nicht sicher, ob ich es ganz verstehe") oder die Kränkung ("Der will sich doch nur auf Kosten der leser schlautun!"). Ich empfinde bei in meinen Augen guten "postmodernen" Werken sehr oft erst mal eher ein verblüfftes: "Wahnsinn! was ist denn DAS jetzt?", und das ist erst einmal eine Lustreaktion, keine Kopfreaktion, die nichts damit zu tun hat, ob ein Text "anspruchsvoll" oder politisch relevant ist.


Das betrifft aber eher die persönliche Definition über den Inhalt einer Rezension. Auch ich habe solche Sätze schon geschrieben.
Aber letztlich versucht man als Rezensent ja auch, hinter das Werk zu blicken, es in die Entstehungszeit und das persönliche Erleben einzuordnen. Denn bei einigen Büchern öffnen sich dadurch ganze Erkenntniswelten.
Gerade auch persönliche Lustseufzer vermeide ich, weil ich sie da nicht hin gehörig finde. Klar fand ich Vellum überraschend, aber die Lektüre war intellektuelle Schwerstarbeit, jedenfalls für mich, und ich stellte mir ebenso die Frage, ob der Text nicht mit Absicht so verschwurbelt geschrieben wurde. Egal ob das nun Angabe oder Lust am Experiment war. Das Lesen wird dadurch nicht leichter.

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#83 Jakob

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:05

Das betrifft aber eher die persönliche Definition über den Inhalt einer Rezension. Auch ich habe solche Sätze schon geschrieben.
Aber letztlich versucht man als Rezensent ja auch, hinter das Werk zu blicken, es in die Entstehungszeit und das persönliche Erleben einzuordnen. Denn bei einigen Büchern öffnen sich dadurch ganze Erkenntniswelten.
Gerade auch persönliche Lustseufzer vermeide ich, weil ich sie da nicht hin gehörig finde. Klar fand ich Vellum überraschend, aber die Lektüre war intellektuelle Schwerstarbeit, jedenfalls für mich, und ich stellte mir ebenso die Frage, ob der Text nicht mit Absicht so verschwurbelt geschrieben wurde. Egal ob das nun Angabe oder Lust am Experiment war. Das Lesen wird dadurch nicht leichter.



Ich finde, eine möglichst begründete (und gerne auch angesichts des eigenen Geschmacks relativierte) Aussage über den Lustgewinn bei der Lektüre hat durchaus einen wichtigen Platz in Rezensionen, denn Romane werden ja normalerweise zum Spaß gelesen.
Dass man "hinter das Werk blicken will", da würde ich voll zustimmen - nur finde ich es schwierig, das damit gleichzusetzen, dass man durch die sprachliche Verschlüsselung hindurch den Inhalt oder den tieferen Sinn identifiziert. Bei manchen werken geht das sicher hervorragend, aber bei anderen gehört es eben zu den zentralen Aspekten, dass sie mit dem Material der Sprache selbst spielen, also in gewisser weise etwas "oberflächliches" machen. Wenn man dann als Kritiker sagt, das sei "nur" Spielerei ohne tieferen Sinn, dann läuft man eben Gefahr, den Gegenstand zu verfehlen.
Ich bin natürlich überhaupt nicht dagegen, die Inhaltsebene im Blick zu behalten und finde auch, dass sich bei den für mich interessantesten Werken meistens Form- und Inhaltsebene gegenseitig bedingen (Hal Duncan ist dafür ein gutes Beispiel). Ich glaube bloß, dass man, wenn man die Formebene außer Acht lässt bzw. sie in erster Linie als Medium begreift, durch das hindurch einem der Inhalt als eigentlich Relevantes zugetragen wird, dann entgeht einem möglicherweise nicht nur eine Dimension eines Werks, sondern ein Gutteil des Spaßes. Deshalb bin ich ja auch sehr dafür, gewissee Autoren zu lesen, wie Frank Böhmert das für Delany nahegelegt hat: Nicht immer gleich alles verstehen wollen, sondern einfach abwarten, was sich erschließt.
Ich glaube, wenn man so liest, macht es das auch leichter, Bücher abzubrechen, mit denen man aus ästhetischen Gründen nichts anfangen kann, ohne sich deshalb gekränkt fühlen zu müssen, weil man es nicht verstanden hat oder indem man andere Leser, die ein Buch mögen, kränken muss, weil sie angeblich aufs Geschwurbel reingefallen sind.
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#84 Konrad

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:09

Das sind so Absätze, deren Sinn sich mir nicht sofort erschließt. Den ersten Satz etwa verstehe ich komplett nicht.

Ich hatte Naut zuerst so verstanden, daß Künstler und Erzähler zwei Dimensionen sind, die einen Raum aufspannen.
Er hatte aber nur eine Linie im Sinn.
Kommunikation ist und bleibt halt schwierig. :thumb:

Aber ich kann für den "autistischen" Lyriker sprechen. Alles was er in den Text hineinstopft, kann der Leser gar nicht entziffern. Dazu ist viel zu viel Verdichtung, persönliche Symbolik und oft genug Unbewusstes eingeflossen. Andererseits eröffnen sich für den Leser Zusammenhänge oder Bedeutungen, die dem Dichter nicht in den Sinn kamen. Wenn überhaupt, ist die Kommunikation über den Text rein assoziativ.

Trotzdem erhofft sich auch der Lyriker vom Leser verstanden zu werden und ich unterstelle ihm nicht, daß er seine Kunst mit der Absicht betreibt, daß niemand ihn versteht.

#85 Frank

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:23

Nur eine kleine Anmerkung dazu, weiß aber nicht, ob es der Diskussion dienlich ist ^^: So wie ihr "den Autor" zurzeit darstellt, hört es sich so an, als ob jeder Autor auch die volle Kompetenz besäße, sich seine Schreibweise, seinen Stil frei auszuwählen ... Was wäre aber, wenn z.B. begrenzte literarische Fähigkeiten die Erzählweise im starken Maße beeinflussen, oder anders, ins Gegenteil verkehrt: Könnte ein Umberto Eco einen guten Perry-Rhodan-Roman schreiben, ja? Nein?
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#86 Jakob

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:25

Trotzdem erhofft sich auch der Lyriker vom Leser verstanden zu werden und ich unterstelle ihm nicht, daß er seine Kunst mit der Absicht betreibt, daß niemand ihn versteht.


"verstehen" kann in dem Zusammenhang allerdings verschiedenes bedeuten: Zum einen kann die Sprache einfach einen gedanken verschlüsseln, und wenn die Entschlüsselung zu aufwändig ist, kann man sich natürlich fragen: wozu der Aufwand? warum nicht Klarheit?
Andererseits kann aber eine Wortkombination bei einem Dichter auch bestimmte Gefühle auslösen. Auch das hat normalerweise gute Gründe, eventuell kollidieren da widersprüchliche Assoziationen und erzeugen eine emotionale Spannung. der Dichter hat diesen Effekt gewissermaßen "entdeckt" und versucht, ihn an die Leser weiterzugeben. Der Zweck des Schreibens ist dann nicht unbedingt, den Gdanken zu vermitteln, dass hier ein bestimmtes Spannungsfeld besteht (das könnte man auch einfach hinschreiben), sondern den Spannungseffekt im Leser zu reproduzieren. Natürlich funktioniert das immer nur bei einem Bruchteil der Gesamtleserschaft, weil sich Gefühlswelten eben stark unterscheiden.
es geht mir da auch gar nicht um ein obskures Fühlen oder Innerlichkeit, sondern einfach darum, dass man mit Sprache nicht nur auf der Ebene der bewussten, rationalen Reflektion etwas in Menschen auslösen kann. Aber eben nicht in allen Menschen das gleiche. Dann mag der eine sagen: "das ist doch nur geschwurbel ohne Gedanken dahinter", während der andere meint, dass er sich davon angepsrochenv fühlt und vielleicht beim nachdenken sogar ermitteln kann, dass es z.B. die Spannung zwischen Liebe und Vergänglichkeit in einem Bild ist, die ihn anspricht. Diese Spannung ist aber noch gar nicht unbedingt eine Aussage hinter dem text, sondern erst einmal ein Gefühl, dass man nachempfinden kann oder nicht. Wenn man dann unbedingt Sinnstiftung betreiben will, kann man sagen: "Autor XY erinnert uns an die Spannung zwischen Liebe und Vergänglichkeit", als wäre das schon wieder eine bedeutsame Botschaft, aber das ist eigentlich etwas hilflos ...
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#87 Lucardus

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:27

Was ist Dir denn konkret zu abstrakt und nicht mehr fassbar?

Zum Beispiel das hier:

Ich halte die Differenzierung eines Externalisierungswunsches eines Künstlers und dem Übermittlungswunsches eines Erzählers für untauglich, ein Kontinuum aufzuspannen, weil die Dimensionen nicht linear unabhängig sind, um bei der mathematischen Beschreibung zu bleiben.
Letztlich ist die Externalisierung bei einem Erzähler die Grundvoraussetzung für eine Kommunikation und ein Künstler korrigiert üblicherweise sein Kunstwerk, in dem er exemplarisch die Rolle des Rezipienten einnimmt.

Ich bin nicht mal sicher, ob das eine ironische Selbstveräppelung ist oder ernst gemeinter Literaturwissenschafterjargon. :thumb:
Dass ich den Begriff "Postmoderne" trotz aller Erklärungen aus meiner FH-Ingenieursicht wohl nie als eindeutig definiert betrachten kann, hab ich ja geschluckt, aber das obige, da steige ich aus, da will ich auch nicht mehr, denn das ist ganz klar nicht darauf ausgerichtet für Fachfremde verständlich zu sein.
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#88 lapismont

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:45

Zum Beispiel das hier:

Ich bin nicht mal sicher, ob das eine ironische Selbstveräppelung ist oder ernst gemeinter Literaturwissenschafterjargon. :thumb:
Dass ich den Begriff "Postmoderne" trotz aller Erklärungen aus meiner FH-Ingenieursicht wohl nie als eindeutig definiert betrachten kann, hab ich ja geschluckt, aber das obige, da steige ich aus, da will ich auch nicht mehr, denn das ist ganz klar nicht darauf ausgerichtet für Fachfremde verständlich zu sein.


Und genau das ist der Punkt, den Jakob anspricht. Der eine findet das "doof" geschrieben, der andere "jauchzt" vor Vergnügen ob der präzisen Wortwahl.
(doof bezieht sich nicht auf Konrad)
So, wie man die Melodie eines Gedichtes würdigen kann, die Reime gelungen findet aber es nicht versteht.
Natürlich kann man hoffen, dieses Verständnis mit der nächsten Strophe oder nächstem Kapitel zu erreichen. So ging es mir bei Pynchon. Da ist fast jeder Satz ein Genuss, aber erst nach 500 Seiten begann ich zu ahnen, um was es geht. Ist das nun Postmodern?
Vielleicht versteh ich ja in fünf Jahren auch den simi auf Anhieb.
:D

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#89 Lucardus

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:53

Der These, dass ›die SF Leser‹ im Gegensatz zu den ›Hochliteratur-Lesern‹ stilistische Experimente scheuen, stimme ich nicht zu. Eher glaube ich, dass beides, SF-Literatur und experimentellere Literatur, Nischen sind, die in einem Befindlichkeits-Klima nicht rege blühen können. Bei der SF erscheint mir das ziemlich paradox, denn wir leben immerhin in SF-igen Zeiten.

Dem würde ich zustimmen. Ich weiß nicht, wie experimentell es sein muss/soll, aber ich habe sowohl den Duncan gelesen als auch ein Interesse an Dhalgren entwickelt, auch wenn ich es noch nicht gelesen habe. Für micht zählt aber auch Gene Wolfe teilweise zu den eher experimentellen, auch wenn er weitgehend dem Schema des unzuverlässigen Ich-Erzählers folgt, was wahrscheinlich aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers nicht innovativ ist.

Was ich, völlig unabhängig von meiner Leidenschaft für SF, nie lesen werde, sind solche Autoren wie Reinhard Jirgl. Ich habe eine Leseprobe probiert und es wieder sein gelassen. Das ist für meine Begriffe weitaus zu experimentell, das regt mein Lustzentrum nicht an.
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#90 Amtranik

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Geschrieben 16 Dezember 2010 - 14:53

Nur eine kleine Anmerkung dazu, weiß aber nicht, ob es der Diskussion dienlich ist ^^:

So wie ihr "den Autor" zurzeit darstellt, hört es sich so an, als ob jeder Autor auch die volle Kompetenz besäße, sich seine Schreibweise, seinen Stil frei auszuwählen ... Was wäre aber, wenn z.B. begrenzte literarische Fähigkeiten die Erzählweise im starken Maße beeinflussen, oder anders, ins Gegenteil verkehrt: Könnte ein Umberto Eco einen guten Perry-Rhodan-Roman schreiben, ja? Nein?


Das ist in der Tat eine Frage die ich mir auch schon gestellt habe.
Mein Eindruck ist einfach, es wird da manchesmal von der Kritik zu viel hereingeheimnißt.
Bei mir entsteht oft der Eindruck, desto unverständlicher und schwer zugänglicher ein Werk,
desto umjubelter ist der Roman. Da werden dann in meinen Augen verquere wirr erzählte
Geschichten nicht selten durch eine Rezension derart aufgewertet das ich das Werk manchesmal
kaum wiedererkennen kann.

@Jakob

mir wäre es auch viel lieber gewesen der Delany des Lesezirkels hätte mir mehr Freude
bereitet aber ich kanns ja mir nicht einreden wenn der Funke nicht überspringen will.
Es überwiegt halt hier ganz ähnlich wie bei Arno Schmidt ( wegen seines Satzzeichenfetischismus )
oder einem Nick Harkaway ( wegen seiner penetranten nichtssagenden Plauderei ) einfach der
Frust und die Langeweile. Letztlich kann ich vieles dort nicht finden das manch andrer Kritiker in
den Werken zu erkennen glaubt.


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