Zur Ausgangsfrage morgen dann mehr.
Puh.
Nun ja, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Als ich das schrieb ging ich wirklich davon aus, am nächsten Tag liefern zu können. Vielleicht hätte ich aber da doch schon dieses Kribbeln im Hals berücksichtigen sollen, das auf eine sich anbahnende Erkältung verwies. Allerdings hätte die mich normalerweise so sehr auch nicht gestört, dumm nur, dass die Erkältung sich als veritabler grippaler Infekt entpuppte. So richtig mit Fieber und was sonst so alles dazu gehört. Zwei Wochen dauert so etwas mit Arzt.
Ich habe solche Erkrankungen ja wirklich eher selten, alle Jubeljahre mal und von daher gar nicht gerne. Für jemanden, der sonst kaum Fieber hat, ist eine Woche mit Fieber ein wirklich eigenartig verstörendes Erlebnis.
Störend allerdings auch, dass eine Idee für einen kleinen Text zu wuchern anfängt, wird sie nicht möglichst schnell abgearbeitet. Keine Ahnung, ob das nun gutartig ist oder nicht - es führt auf jeden Fall zu einer Ausweitung des Textes, der dann noch neben der Arbeit geliefert werden muss.
Absolut nervend, wenn man eine Unterscheidung trifft, um ein Problem auszugrenzen und der abgespaltene Teil, um den man sich ja eigentlich nicht kümmern wollte, wieder auftauchend sein Recht verlangt. So war das wirklich nicht gedacht; andererseits hätte ich das vorher wissen können.
Sei†˜ s drum. Hier jetzt also mit reichlich Verspätung die Begründung, warum so wenige SF-Autoren so wenig - nun ja - experimentelle Literatur schreiben, obwohl doch gerade in diesem Genre, das vielleicht recht passend sein könnte. Ich habe da so meine Zweifel.
Die Begründung ist dabei eigentlich einfach, die Erläuterung der Begründung hingegen schon etwas komplexer. Aber ich habe lange schon kein Essay mehr geschrieben und kann das jetzt in die Sammlung aufnehmen.
Die Begründung:
Es gibt deshalb so wenige SF-Autoren, so wenige Autoren überhaupt, die solche Stilmittel nutzen, weil auf eigentlich allen in Frage kommenden Dimensionen des n-dimensionellen Handlungsraumes Schreiben Publizieren und Lesen Extremwerte erreicht werden müssen, die eher selten sind.
Soweit doch einfach?!?
Die Erläuterung:
Wir schaffen die Welt, die uns schafft -
Binäre Codierung, Dekonstruktivismus and the Art of Writing
Die Konzeption der Form liegt im Verlangen zu unterscheiden.
Dieses Verlangen vorausgesetzt, können wir der Form nicht ent-
rinnen, obwohl wir sie auf jede Weise sehen können, die uns gefällt.
George Spencer Brown
I
In dem ja durchaus eher etwas ambivalenten Film „A Beautiful Mind“ über den Mathematiker John Forbes Nash gibt es eine Szene, die ins Zentrum eines der Probleme führt: Nash schenkt seiner Angebeteten und späteren Frau neue Sternenzeichen, woraufhin die, eigentlich ja selber hochbegabt, ihm natürlich sofort völlig verfallen ist.
Diese Szene sagt zum einen sicherlich etwas darüber aus, welche Klischees in der Filmindustrie über die Verführbarkeit von Frauen vorherrschen, sie sagt zum anderen aber auch etwas darüber aus, was wir Menschen nun einmal auch sind: Muster erkennende und somit eben auch Muster schaffende Wesen. Selbst in einem Sammelsurium von Lichtpunkten, das aus Sonnen und Quasaren gebildet wird, finden wir noch so etwas wie Ordnung. Sternenzeichen. Wolken werden zu Figuren und selbst auf gemusterten Fliesen erkennen wir plötzlich Gesichter. Wir können offenkundig gar nicht anders: wir müssen Muster erkennen. Was dann wohl eher bedeutet: wir müssen Muster schaffen, um diese fürchterlich sinnlose Welt mit irgendeinem Sinn füllen zu können; denn ohne Sinn können wir nicht leben. Und da die Welt sinnlos ist, schaffen wir eben unseren Sinn, der aber nicht der Sinn des anderen sein muss. Eigentlich auch gar nicht sein kann.
Das alles deutet auf Prozesse hin, die tief in den neuronalen Strukturen unseres Gehirns verankert sind, so tief, dass sie sich nicht nur unserer Kontrolle weitgehend entziehen, das gilt für andere Prozesse auch, sondern so tief, dass wir sie nur über ziemliche Umwege überhaupt erst registrieren können - durch gleichzeitig auftretende einander aber wiedersprechende Daten z.B.
„Kippfiguren“ in der Wahrnehmung sind hierfür ein schönes Beispiel aber eben auch die „Ironie“ in der Kommunikation. Beides führt bei vielen Menschen immer wieder zu einer gravierenden Verunsicherung weil die „Ambiguitätstoleranz“, wie die Psychologen das nun einmal nennen, zumeist eher gering ist. Ein altbekanntes Problem, mit oft verheerende Folgen, weil es uns immer wieder dazu verleitet, zu handeln, lange bevor die Situation analysiert ist, einfach nur um die Unsicherheit des Zwischenstadiums zu verkürzen. Besser irgendetwas machen und damit so tun, als wenn man die Kontrolle hätte, als gar nichts zu machen, ist da das Motto.
Dass wir so vorgehen, ist wohl evolutionär bedingt, denn für unsere Vorfahren in der Savanne war es wirklich vorteilhafter, in einer langen Trockenzeit den Schamanen zu opfern (und zu verspeisen) als gar nichts zu tun; und es ist einfach besser, sich mit vielen anderen kleinen Gruppen zusammen zu finden, um den schwerhörigen Regengott gemeinsam anzurufen. Und wenn das nicht hilft, dann kann man gemeinsam eben tiefere Brunnen graben.
Unsicherheit nicht aushalten zu können, nicht aushalten zu wollen, war eben oft vom Vorteil und ist, wie uns sogar die Wissenschaft lehrt, auch heute noch oft von Vorteil. Kurzfristig helfen Schulden. Langfristig gehen wir alle tot. So in etwa ja Keynes. Und genau so funktioniert unser Wirtschaftssystem ja auch. Wir halten die Unsicherheit nicht aus, also wir leben auf Pump, um die Ordnung zu wahren, die wir brauchen. Dumm nur, wenn da irgendwann noch irgendwer lebt, der irgendwem das alles zu zahlen hat. Aber da hilft ja Inflation.
Wer allerdings Ordnung schafft, grenzt immer auch aus. Hier meine Ordnung, die natürlich immer wahr, gut und gerecht ist - dort die Outlands, wo die falschen, bösen und ungerechten Geister herrschen, die meine Ordnung überrennen wollen. Hierbei ist es unwichtig, ob die es wirklich wollen, noch viel unwichtiger, ob es sie überhaupt gibt, alleine die Tatsache, dass sie sich meiner Ordnung entziehen macht sie zu einer Gefahr, die man beachten muss.
Das ist übrigens kein archaischer Gedanke, das ist heute noch ein zentraler gesellschaftlicher Ordnungsfaktor, wie der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann belegen konnte, der für diese ordnenden Unterscheidungen dann den Begriff der binären Codes oder der binären Codierung einführte.
Wenn ich Bank und Großkapital bin und mein Ordnungsfaktor Geld und somit Zahlungsfähigkeit, die natürlich gut ist, die Zugehörigkeit zu meinem Ordnungssystem definiert, dann sind die Qutlander, die sich um die Unterscheidung Macht gruppieren, die Politiker halt, allemal ein Störfaktor, den es klein zu halten gilt, damit er uns bei unseren Geschäften nicht stört.
Soweit dann in etwa die Beschreibung Niklas Luhmanns, der davon ausging, dass die gesellschaftlichen Subsysteme sich einander nicht wirklich beeinflussen können, weil sie sich um jeweils unterschiedliche Codes herum definierten, wie archaische Gruppen sich eben um unterschiedliche Totems gruppieren.
Da wird er dann aber wohl doch ein wenig naiv gewesen sein. Die Subsysteme können einander sehr wohl beeinflussen, indem sie die Interaktionsmedien des jeweils anderen Systems nutzen. Zahlungsfähigkeit ist Macht; und hin und wieder bedarf es Macht, um Zahlungsfähigkeit zu generieren.
In der Wissenschaft, die sich ja um den Code „wahr/falsch“ gruppiert, gibt es in eigentlich allen Bereichen eine Reihe von Subdichotomien: „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zum Beispiel oder das „Signifikat und das Signifikant“. Insbesondere diese Unterscheidungen wurde sehr einflussreich - eben auch für deren Dekonstruktivisten.
Solche Dichotomisierungen - und das ist eigentlich altbekannt - können aber nur eine vorläufige Ordnung liefern und führen bei genauerer Betrachtung eigentlich immer wieder nur zur Konfusion: in der Gemeinschaft ist immer auch Gesellschaft enthalten und vice versa. Wo ist jetzt dann aber die Gemeinschaft, wo die Gesellschaft.
Eine Unterteilung zwischen Vorstellung (Signifikat) und Lautbild (Signifkant) hingegen gerät spätestens dann ins Schwimmen, wenn „Vorstellung“ das Signifikat ist, weil jetzt Signifikat und Signifikant gleich sind. Was ist jetzt was? Douglas R. Hofstadter hat für solche Prozesse den Begriff „A Strange Loop“ eingeführt und damit einen durchschlagenden Erfolg gehabt.
Grundlegender da allerdings George Spencer Brown, der in seinen Laws of Form eben auch das „Re entry“ einführte, die Rückkehr des in der Unterscheidung ausgegrenzten Teiles zurück in die Unterscheidung. Die Verdrängungen tauchen als Alptraum wieder auf, die Ausgrenzung des Bankensektors aus der Politik kommt als Riesenbürgschaft zurück und die Ausgrenzung der kontrollierenden politischen Macht aus dem Finanzsektor führt - zum Verlust der Zahlungsfähigkeit, weil die eigenen Kontrollmechanismen nicht reichen. Nicht reichen können, weil Kontrolle ja ausgegrenzt wurde.
Trotz dieser Probleme werden wir unseren Hang in Zweiwertigkeiten zu denken, wohl nicht loswerden. Letztendlich können wir wohl gar nicht anders, als genauso zu denken, wie Gotthard Günther nicht müde wurde zu betonen.
Stellen wir uns also unseren Grenzen - und eine Möglichkeit hierzu ist es nun einmal, diese oft ja auch getarnten Zweiwertigkeiten aufzudecken, um ihren Schwächen begegnen zu können.
II
Innerhalb der Geisteswissenschaften ist es nun der Dekonstruktivismus, der eben auch das Ziel verfolgt, die Dichotomien heraus zu filtern und - wo sinnvoll - auf die poltischen Grundlagen zurück zu führen - und Derrida hat sich da in einem hohen Maße gerade an Desaussure abgearbeitet.
Dabei ist der Dekonstruktivismus keine Methode, sollte er nach Derrida auch nie sein. Er ist letztendlich eine Haltung und eine Art Metatheorie, die dazu dienen soll, eingefahrene Denkweisen zu hinterfragen.
Literaturwissenschaftlich bedeutsam ist, dass es im Sinne des Dekonstruktivismus eigentlich so gut wie nie nur ein Lesemodell eines Textes geben kann, dem sich der geübte Leser dann via Hermeneutik immer stärker nähert. Bei jeder komplexeren Literatur wird immer von mehreren Lesemodellen auszugehen sein und die Hermeneutik, die uns doch führen soll, ist eher obsolet, weil sie uns immer nur eine Richtung zeigen kann.
Für traditionell orientierte Geistes- und Literaturwissenschaftler mit ihrer ja oft geringen Ambiguitätstoleranz, die oft genug von einer durch die Hermeneutik gesicherten absoluten Erkenntnis träumen, ein nur schwer verdaulicher Gedanke; und da Derrida sich nicht gerade leicht liest, gibt es da dann ja auch gleich einen weiteren guten Grund, ihn abzulehnen.
Ich will jetzt gar nicht sagen, dass der Dekonstruktivismus so besonders neue Erkenntnisse liefert, schon gar nicht, dass er verständlicher ist als z.B. die „Second Order Kybernetik“, bei der man ja ähnliche Ansätze finden kann. Innerhalb der Geisteswissenschaft ist er aber eben recht einflussreich - und wir haben hier ein geisteswissenschaftliches Problem. Von daher hier dann ein wenig Dekonstruktivismus, der uns lehren kann, dass auch diese Diskussion von eigenartigen Dichotomien durchzogen ist: modern versus postmodern oder Erzähler versus Künstler, Markt versus Autor, um einmal die wichtigsten zu nennen. Solche Dichotomien führen dazu, dass der ja wesentlich komplexeren Umwelt, mittels eines erlköniglichen definitorischen Gewaltaktes ein Leid angetan wird.
Solche divergierenden binären Codierungen führen aber eben auch dazu, dass die Verständigung erschwert wird; und hier ist dann auf hoch abstrakter Ebene auch der Grund, weshalb ganz bestimmte Diskussionen in den Foren immer wieder aus dem Ruder laufen: wer unterschiedlich unterscheidet, hat nicht mehr allzu viel, was verbindet - da hilft dann auch ein Dolmetscher nicht mehr viel.
Dabei ist das Problem relativ einfach zu lösen, wenn wir uns darauf besinnen, dass jede der Unterscheidungen ja eine gewisse Berechtigung hat. Absolut sollten wir unsere jeweiligen Folterungen der Welt besser aber nicht nehmen. Schließlich hat der benachbarte Foltermeister ja auch nicht nur unrecht.
Wir werden also, wenn wir die Dichotomien, die Zweiwertigkeit unseres Denkens nicht wirklich loswerden können - und wir können es ganz offenkundig nicht -, aus der Not eine Tugend machen müssen und die Zweiwertigkeit erweitern müssen. Machen wir ja auch schon lange: die Unendlichwertigkeit ist in der Statistik wohl etabliert.
Schwieriger fällt es uns allerdings mehrdimensional zu denken und verschiedene Dichotomien gleichzeitig zu nutzen, dabei wird auch das Verfahren durchaus genutzt, in der Persönlichkeitspsychologie z.B. Einschlägige Modelle sind hierbei z.B. das Freiburger Persönlichkeitsinventar, The Big Five oder NEO-FFI, das auch von fünf Dimensionen (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit) ausgeht und derzeit wohl das verbreiteste Modell ist. Jede der Dimensionen geht von einer Dichotomie aus, die aber immer nur eine Facette der Persönlichkeit abdecken kann, die Gesamtheit der Dimensionen hingegen kann zumindest eine halbwegs vernünftige Näherung an die Komplexität der Persönlichkeitsstrukturen liefern. Dass bei solchen Modellen dann aber regelmäßig Primzahlen auftauchen müssen...?!
III
Wenn wir uns nun dem Problem der Analyse der Literatur zuwenden wollen, dann stehen wir vor - natürlich - zwei Problemen: der Rezeption und der Produktion. Warum werden welche Bücher rezipiert, finden ihren Verleger und Leser und andere - handwerklich oft bessere - gehen einfach unter? Was wiederum treibt Menschen dazu, sich hinzusetzen und mehr oder weniger umfangreiche Texte nicht nur zu schreiben sondern auch noch zu veröffentlichen?
Erneut als eine Dichotomie entlang einer Unterscheidung; und es wird nicht besonders sinnvoll sein, sich nur auf eine Seite der Unterscheidung zu konzentrieren, weil die ausgegrenzte Seite im Sinne eines Re entry doch irgendwann, spätestens durch den Hinweis eines Kritiker, wieder in die Unterscheidung eintreten wird.
Beginnen wir mit dem Sozialen. Wir könnten auch mit dem Privaten beginnen und müssten eigentlich mit der Wechselbeziehung beginnen, da das uns aber nicht möglich ist und die soziale Problematik die schwächere ist, sollte sich ihr zuerst gewidmet werden, damit sie nicht untergeht.
Vulgärmarxistisch bestimmt der Überbau den Unterbau. Literatur ist von daher in diesem Modell immer Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und folgt dem Zeitgeist. Je erfolgreicher sie dieses dann macht, desto erfolgreicher ist sie dann.
In dieser kruden Schlichtheit ist das natürlich einfach nur Unsinn. Welchem Zeitgeist mag z.B. A. A. Milne gefolgt sein.
Trotzdem hat dieses Modell immer noch Erfolg. Erfolg bei etlichen Autoren von Groschenheften z.B., die meinen, dem Zeitgeist hinter her zu hecheln. Erfolg bei konservativen Denkern wie Spengler, Erfolg aber auch bei Soziologen. Bourdieu, Philosoph, der unter die Soziologen fiel und sich da eher unwohl fühlte, ging z.B. davon aus, dass die Kenntnis des Sozialen Feldes reichte, um einen Roman interpretieren zu können; und er hat wirklich versucht, dass am Beispiel Flauberts in seinen Regeln der Kunst zu belegen. Der Schriftsteller wird damit zur Sonde der Gesellschaft, der als Medium von sozialen oder psychologischen Strukturen wirkt. Eine schon alleine aus wissenschaftslogischen Gründen fürchterliche Vorstellung , weil hier die Trennung zwischen Beobachter und Beobachteten aufgeboben wird, die wir bei allen Schwierigkeiten, die mit der Beobachterproblematik verbunden sind, doch lieber behalten sollten, weil wir ohne Unterscheidung keine Ordnung schaffen können.
Amüsant dabei, dass Bourdieu damit auch sein eigenes Vorgehen desavouierte, weil ja konsequent zu Ende gedacht, auch er, der Soziologe, nur eine Sonde wäre. Seine Studie also, auf die er doch so ungeheuer stolz war eben auch nur Ausdruck eines sozialen Feldes, das ihn dann nutzte, um sich selber zu erklären? Eigenartige Vorstellung eigentlich. Solche Unsinnigkeiten haben solche Autoren zumindest in ihren Alterswerken allerdings nie wirklich gestört. Ebenso wenig empirische Probleme, weil die Anforderungen der Empirie für jeden Großtheoretiker irgendwann ja sowieso nur noch störend sind. Bei Bourdieu scheiterte der Versuch auf der empirischen Ebene einfach daran, dass die moderne Gesellschaft immer aus verschiedenen sozialen Feldern besteht, in denen die Autoren leben und die Literatur produziert wird. Es wird von daher nicht reichen, nur ein Feld zu kennen, um ein Kunstwerk analysieren zu können.
Das hätte er eigentlich merken müssen, hätte er seine Theorie auf sein eigenes Werk angewandt.
Wie an der leichten Zerstörbarkeit solcher Gedankengebilde zu erkennen ist, wird es eben nicht hinreichen, zu spekulieren; es wird sich schon der Mühe der Empirie gestellt werden müssen.
Bourdieus Buch liefert uns hierfür eine schöne Grundlage.
Was treibt einen Verlag dazu, ein solches Buch zu veröffentlichen, von dem doch klar sein musste, dass es die Kritiker nicht gerade zu Lobeshymnen hinreißen würde und die Lektoren, wenn sie nicht gerade betrunken waren, werden das auch gewusst haben. Was treibt einen deutschen Verlag dazu, eine Übersetzung eines Buchs auf den Markt zu werfen, dessen französisches Original bei den Kritikern schon nicht besonders gut weg kam?
Die Antwort von Buchhändlern auf diese Frage ist einfach, birg aber ein Universum in einer Nussschale: Vertrauen. Die Buchhändler in den Universitätsstädten zumindest scheinen sich allemal sicher zu sein, die Exemplare dann schon verkaufen zu können. Und das stimmt dann ja auch.
Literaturagenten, wenn sie dann eingeschaltet waren, Verlage, Großhändler werden ähnlich gedacht haben, konnten sie bei dem Ruf des Autors doch darauf vertrauen, dass dieses Buch seine Leser finden und somit mit Gewinn abwerfen werde. Alleine die Vielzahl der Universitäten, die ja mindestens ein Exemplar zu ordern hatten, sicherte die Kostendeckung. Der Restverkauf war und ist dann eben der Gewinn - und ein scheinbar makrosoziologisches Problem verwandelt sich in eine komplexe Vielfalt mikrosozialer Probleme.
Was Bourdieu hatte, Vertrauen in sein Werk, wie berechtigt es auch immer gewesen sein mag, ein neuer Autor muss dieses erst gewinnen; denn es ist ja nicht so, dass Agenten und Verleger händeringend nach Manuskripten suchten. Die werden eher von diesen überhäuft und ziehen es im Regelfall vor, auf vertraute Namen und Gesichter zurück zu greifen.
Wer da als Neuling auffallen will, muss schon wirklich gut sein; und auch wissen, wer seine potenziellen Ansprechpartner sind. Schließlich veröffentlicht nicht jeder Verlag jede Literatur. Ist das Problem gelöst, hier dann also das nötige Vertrauen geschaffen, dann ist der erste Schritt geschafft. Der Rest ergibt sich dann - oder auch nicht.
Das gilt übrigens auch für eher experimentelle Literatur, die ja eigentlich immer ihren Markt hat. Der Ulysses ist ebenso ein Longseller wir Perecs „Das Leben eine Gebrauchsanweisung“, Gaddis verkauft sich so gut, dass AMAZON seine wichtigsten Bücher vorrätig hat, Raymond Federmans Bücher sind auch käuflich zu erwerben (gut, Take It Or Leave It nicht) und im letzten Jahr ist sogar Zettels Traum endlich in einer gesetzten Fassung erschienen, die die Lesbarkeit immens steigert. Der Markt ist also da; und ein Mangel an experimenteller Literatur wird sich nicht mit Marktmechanismen erklären lassen.
Wenn wir also klären wollen, warum es so wenig experimentelle Literatur gibt, in der SF und anderswo, dann werden wir mit der Literaturrezeption nicht wirklich weiterkommen. Wir werden uns, ohne einem Geniekult frönen zu wollen, auf die Autoren konzentrieren müssen, auf diese wunderbaren Falschmünzer, wie Rolf Vollmann sie nannte.
IV
Was nun treibt eigentlich einen Menschen dazu, sich diesen Tort anzutun? Texte verfassen, womöglich noch lange, ganze Bücher gar. Was treibt einen Menschen dazu an, sich dieser elendigen, einsamen Arbeit zu stellen. Geld kann es eigentlich nicht sein; denn das ist ja bekannt, dass sich im Regelfall vom Schreiben nicht leben lässt.
Die Neurologin Alice W. Flaherty ist ausgehend von dem Schreibzwang, dem Schreibrausch und der Schreibblockade dieser Frage nachgegangen und hat dabei ein schönes Exempel dafür geliefert wie Menschen mit Hypergrafie schreiben: aus- und abschweifend, selten auf den Punkt kommend und viel zu viele Wörter für viel zu wenig Inhalt liefernd. Irgendwie fielen mir da dann noch John Irving, Umberto Eco und Peter Sloterdijk ein.
Mrs. Flaherty´s Antwort ist relativ einfach: Die Schläfenlappen sind Schuld und eigentlich können diese Leute gar nichts dafür. Damit wird dann immerhin eine Erklärung dafür geliefert, warum es Autoren gibt, die fleißig Bücher schreiben, obwohl sie doch jenseits jeder Begabung sind. Haben wir Mitleid mit Ihnen.
Warum dann aber normalere Menschen schreiben, das wird so klar dann nicht. Auch hier geht es wohl um die Schläfenlappen, ansonsten aber um das limbische System und um die Motivation.
Nun erklärt der Hinweis auf das limbische System überhaupt nichts, weil wir nicht einmal ansatzweise wissen, wie es funktioniert und die Motivation ist keine Erklärung sondern im Sinne von Gregory Bateson ein Erklärungsprinzip, also eine (hoffentlich zeitlich befristete) Konvention die Erklärungsversuche erst einmal einzustellen, weil man nicht weiter weiß. Letztendlich liefert der Hinweis auf die Motivation also keine Antwort, er wirft hingegen eine Reihe von zu klärenden Fragen auf, zu deren Antwort sich ein wenig mit der Persönlichkeitsstruktur beschäftig werden muss.
Schriftsteller, die man fragt, warum sie dann schrieben, sind mit ihren Antworten eher sparsam. Lieber jammern sie trotz eines hohen Outputs über die Schreibblocken und liefern teilweise recht krude Begründungslisten für ihr tun, die mit ein wenig spiritus reduziert aber doch ein Analyserater ermöglichen. Folgende sieben [sic!] Dimensionen werden vorgeschlagen, um das Problem in ein schönes theoretisches Kästchen zu packen:
†¢ Hang zur Selbstdarstellung: Diese binäre Codierung reicht von dem Extremwert „nicht vorhanden“ bis hin zu „sehr ausgeprägt“. Die Zwischenwerte werden sich, wie in den folgenden Dimensionen auch, problemlos mittels Likert-Skalen darstellen und messen lassen. Die These zu den AutorInnen lautet, dass deren Hang zur Selbstdarstellung eher über dem Durchschnitt liegt. Je höher dann, desto ausgeprägter wohl das Interesse an Experimenten.
†¢ Extraversion ist eine klassische Dimension und reicht von Extravertiertheit bis hin zu Introvertiertheit. Die hier vertretende These lautet, dass die Autoren eher zur Introvertiertheit tendieren, da sie ansonsten ihren Hang zur Selbstdarstellung in anderen Bereichen besser befriedigen könnten.
†¢ Sozialität: Reicht von leidender Nabelschau bis hin zum Leiden an der Gesellschaft. Beides geht übrigens recht gründlich in einander über. Hier lautet dann die These, dass bei Extremwerten die Bereitschaft zu Schreiben größer ist als bei „gesunden“ Mittelwerten. Damit ist dann recht gut erklärt, weshalb so viele Jungautoren ihre Liebesprobleme in Büchern verhackstücken - oder eben ihr Leiden an der Gesellschaft. Mit solchen Büchern, siehe Böll, kann man es dann übrigens durchaus zum Literaturnobelpreis bringen. These: Wer Nabelschau betreibt, wird über den Prediger Salomo kaum hinaus kommen, nicht gerade experimentell; wer an der Welt leidet, könnte das eine oder andere Zerrbild liefern, das als Kunst und experimentelle Literatur durchgehen könnte.
†¢ Realitätsorientierung: Reicht von völliger Ablehnung der Realität (Literatur als Flucht) hin zur Akzeptanz, die zum Leiden und zum Streben führen kann, diese auch abbilden zu wollen. Auch hier werden dann die Extremwerte eher zum schreiben verleiten als ein langweiliges Mittelmaß. Die mit Vorsicht eingebrachte These lautet dann, dass Realitätsakzeptanz und das Streben, diese darzustellen, eher zu experimenteller Literatur (ver-)führt als die Realitätsverweigerung. Leiden mag da förderlich sein, muss es aber nicht.
†¢ Aufklärung: reicht vom „sapere aude“ bis hin zu einem Sloderdijksche (oder Sarazinschen) „alle sind doof, nur ich nicht - und das ist gut so“. Beide Extremwerte verführen bestimmt nicht zur experimentellen Literatur, die wird man, wie Voltaires Candide lehrt, eher bei jemanden findet, der sich mit einer Transjunktion über diese Dichotomie erhebt.
†¢ Künstlerischer Anspruch: Reicht von nicht vorhanden bis zu dem Bestreben DIE Avantgarde zu sein. Wer diesen Punkt erreicht, wird natürlich grundsätzlich experimentieren. Womit dann aber nicht gesagt ist, dass er darin dann auch wirklich gut sein wird. Oft genug unterscheiden sich ja Anspruch und Wirklichkeit.
†¢ Erzählerische Kompetenz: Das ist jetzt etwas schwieriger und eigentlich wird dieses Dimension nur mit Bedenken eingeführt, denn hier geht es nicht um messbare Einschätzungen und Einstellungen, die das Handeln bestimmen. Jeder, der sich hinsetzt und Romane schreibt, geht schließlich davon aus, dass er über erzählerische Kompetenz verfügt. Sonst würde er wohl kaum schreiben. Wir haben hier also mit einer Dimension zu tun, die zwar etwas über den Autor aussagt, die wir aber nicht durch Befragung des Autors messen können. Das spräche eigentlich dafür, auf sie zu verzichten.
Andererseits liefert uns die Einführung dieser Dimension eine schöne Begründung für so manch ein Buch so manch eines Autors, so manch einer Autorin. Elfride Jelineks Werke z.B. lassen sich jetzt damit erklären, dass wir hier jemanden mit hohem Selbstdarstellungsdrang, Leiden an der Welt bei völliger Realitätsverweigung, mittleren Aufklärungsdrang und hohen künstlerischen Anspruch haben - bei einem völligen Mangel an jeder erzählerischen Kompetenz.
Andere Bücher anderer Autoren werden sich auch problemlos in diesem sieben-dimensionalen System verorten lassen - und wir erhalten auch eine Begründung dafür, warum experimentelle Literatur so selten ist: insbesondere in der SF und der Utopischen Literatur.
Ein wenig davon haben wir ja in der deutschen Literatur: die einschlägigen Werke Arno Schmidts, die ja utopische/SF-Schriften (Schwarze Spiegel, Die Gelehrtenrepublik, KAFF auch Mare Crisium, Die Schule der Atheisten) ebenso umfassen wie mit dem wunderreichen „Abend mit Goldrand“ einen Fantastischen Roman. Schaut man sich diesen Autor ein wenig genauer an, stößt man auf eine Reihe von Extremwerten: Romantiker mit einem hohen Selbstdarstellungsdrang bei gleichzeitiger Einsiedelei, starke Realitätsorientierung gepaart mit einem Leiden an der Welt, dass durch eine möglichst realistische Darstellung in kanalisiert werden sollte, angereichert mit hohem künstlerischen Anspruch. Glücklicherweise alles unterlegt von einer hohen erzählerischen Kompetenz.
Vermutlich wirklich keine so beneidenswerte Kombination, die aber erklärt, weshalb ganz bestimmte Literatur so selten ist.
V
Das alles sind natürlich vorläufige Gedanken, die ihrer Dekonstruktion harren.
Puh