Man sieht: Kein Wort verliere ich über Stil oder Sprache.
Und kein Wort darüber, um was es in der Geschichte eigentlich geht. Du hast an anderer Stelle mal geschrieben, es ginge
in der Story um Femizid, alles andere sei zweitrangig. Mir ist das unbegreiflich, weil die Geschichte sogar journalistische
Passagen enthält, in denen das eigentliche Thema noch einmal expliziet gemacht wird. Die entscheidenden Passagen
der Story schildern - und ziemlich intensiv und tiefgehend, meine ich - psychische Zustände und Pervertierungen (z.B.
S.110ff, S.126ff). Deswegen wurde die Story geschrieben, darauf läuft alles hinaus. Wie gut diese Schilderungen gelungen
sind, ist eine andere Frage, über die man diskutieren kann. Aber wenn die entscheidenden Passagen, deren Gewichtung
in der Geschichte nicht zu übersehen sind, überhaupt nicht erwähnt werden, darf ich schon fragen, ob die Story
gelesen wurde.
Aber ich wäre nicht der erste, der die Erfahrung macht, daß man sich mit solchen Dingen geradewegs aus der SF
herausschreibt. Einige der besten Autoren der amerikanischen SF, Barry Malzberg oder John Sladek, sind angefeindet
worden, weil dem durchschnittlichen SF-Leser offenbar nicht einmal die einfachsten stream-of-conscious-Techniken
oder moderne Erzöhlstrategien geläufig sind - literarische Techniken, die teilweise schon über 100 Jahre alt sind.
Es ist schon eine Kunst für sich, ein komplettes Jahrhundert zu verpennen und sich am Anfang des 21. die Augen
zu reiben, weil man die Welt nicht mehr versteht.
Ich bin ein erklärter Freund von "knackigen" Geschichten, die trotz (oder gerade wegen) fehlender Länge nachhaltig in meinem
Gedächtnis bleiben, denn das ist die hohe Kunst der Kurzgeschichte.
Tja, das ist Deine persönliche Vorliebe, aber kein Qualitätskriterium für einen Literaturpreis. Eine Kurzgeschichte schreibt man,
wenn man das Konzept für eine Kurzgeschichte hat. Eine Novelle schreibt man, wenn der Stoff es erfordert. Eine Novelle mit den
Erwartungen an eine Kurzgeschichte zu messen, ist ungefähr so sinnvoll, als wenn man einem Flugzeug vorwirft, daß man damit
nicht Motorrad fahren klann.
Es ist ein seltsames Phänomen, das ich bei SF-Lesern immer wieder antreffe: Die Leute lesen, um Erwartungshaltungen bestätigt
zu finden, und alles, was diesen Erwatungen nicht entspricht, ruft bestenfalls Irritation hervor. Ich finde diese Haltung völlig
absurd. Ich lese nicht, um mich bestätigt zu finden, sondern um meine Erfahrungen und Sensibilitäten zu erweitern. Ansonsten
könnte ich gleich immer wieder dieselben Bücher lesen (was ja viele SF-Leser de facto tun, siehe die Zyklen- und Serien-Manie).
Ein vernünftiges Stück zwingt den Leser, sich nach ihm zu richten. Literatur, die sich nach den Lesererwartungen richtet, ist das
Papier nicht wert, auf dem es gedruckt wurde.
Grundsätzlich denke ich, dass das Urteil der DSFP-Jury den Geschmack der gesamten SF-Leserschaft einigermaßen widerspiegelt. Und der beschränkt sich eben nicht nur auf Sprachempfinden. Denn bei aller Liebe zu sparchlich gehobenen Geschichten: Die Sprache ist nicht alles.
Du scheinst unter Stil ausschließlich Schnörkel und verbale Schönfärberei zu verstehen. Es gibt noch tausend andere Dinge, die durch
Stil hergestellt werden: Ton, Textur, Tönung, Farbe, Atmosphäre, Stimmungen, psychische Zustände. Für jedem Leser einigermaßenj
moderner Literatur sind das völlig geläufige Dinge, aber die SF-Leser scheinen darüber hinwegzulesen, als existiere alk das gar nicht.
Das heißt: die entscheidenden Dinge werden gar nicht wahrgenommen. Hast Du jemals "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad
gelesen? Eine Erzählung, deren Plot banal ist, wenn man ihn nachzuerzählen versucht, und trotzdem eine der größten Erzählungen
der Weltliteratur.
Inhalt, Plot, Figuren - dass die ebenso wichtig sind (und manchen Lesern sogar wichtiger), müssen wir doch wohl nicht diskutieren.
Doch, genau das. Das ist der entscheidende Punkt. "Sense of Wonder" ist ein Konzept von gestern, ein Kriterium aus der Teenagerzeit
der SF. Wir befinden uns inzwischen im 21. Jahrhundert. Zeit, geistig endlich mal die Windeln abzulegen. No offence intented, Uwe.
Mir geht's um das Schicksal unseres geliebten Genres. Nicht umsonst beginnt sich die anspruchsvolle SF allmählich in den Mainstream
zu veflüchtigen. In den Siebzigern wurde die beste SF von Alice Sheldon geschrieben. Heute zeigen uns Mainstream-Autoren wie Richard
Powers, wie es geht. Nicht mehr lang, und wir tummeln uns wieder in der literarischen Krabbelstube.