Hallo Joe und alle anderen.Als ich beim Neuerscheinungen an einem Essay über Dick für den Quarber Merkur schrieb, habe ich nebenher ein paar Notizen über den MARSIANISCHEN ZEITSTURZ aufgeschrieben, die eigentlich eines Tages zu einer Rezension für www.philipkdick.de überarbeitet werden sollten. Dazu kam es nicht. Der Text ist ein wenig konfus, weil ich etwas frei assoziierte, aber vielleicht interessiert ihn ja doch jemand. In ihm verrate ich einiges über die Handlung, aber ich denke, das ist nicht schlimm, da es bei Dick nicht unbedingt auf die Abfolge der Geschehnisse ankommt. Los gehts:DEMENTAIA PRAECOX als Geisteszustand der WeltMarsianischen Zeitsturz, die zweite...„Die Störung (...) zeigt sich in einer völlig fremdartigen, bei völligem Bewußtsein aufkommenden Erfahrungen der Kranken, die darin besteht, daß sie empfinden, ihre innersten Gedanken, Gefühle und Handlungen seien anderen bekannt, von ihnen geteilt oder ausgelöst. Diesem Erlebnis folgen oder es wird of begleitet von Wahnvorstellungen, daß Lebewesen, Organisationen, natürliche oder übernatürliche Kräfte (z. B. Fernsehen, Hypnose, Hexerei) dafür verantwortlich sind. Gewöhnlich treten Halluzinationen auf, bes. um auditiven Bereich, als Stimmen in der dritten Person oder von solchen Personen, die das Denken und Handeln des Patienten kommentieren.“ Lexikon der Psychologie, hrsg. ..., S. 1981f.Liest man den obigen Lexikonartikel, könnte man meinen, Dick hätte sein eigenes Krankheitsbild nach diesem Eintrag über Schizophrenie zusammengebastelt, dies gilt vor allem für die zweite Hälfte des Jahres 1963, als er die ersten Visionen hatte, bis zu seinem Tod. Kurz vor Dicks ersten Visionen ist einer seiner besten Romane entstanden: Martian Time-Slip. Ein Buch über Schizophrenie, dessen Neuübersetzung nun unter dem Titel Marsianischer Zeitsturz vorliegt; die erste deutsche Übersetzung trug den schönen, aber vom Original abweichenden, Titel: Mozart für Marsianer. Die Neuübersetzung besorgte Michael Nagula.Man vergleiche nur den ersten Absatz der alten Übersetzung mit der neuen Übersetzung:Renate Laux:„Im tiefen Luminalschlaf hörte Silvia Bohlen jemand rufen. Der Ton drang tief in die Schichten ein, in die sie versunken war, und zerstörte ihren Zustand des perfekten Nichtseins.“Michael Nagula:„Aus den Tiefen des Luminalschlafs heraus hörte Silvia Bohlen etwas rufen. Jäh zerriß es die Schichten, in denen sie versunken war, und beschädigte den perfekten Zustand des Nichtselbsts.“Und hier sind wir schon mitten im Thema. Nichtsein oder Nichtselbst? Aus philosophischen Gründen tendiere ich zu „Nichtselbst“ (sprich: Nicht-Ego), mag es sprachlich gesehen auch ungewohnter klingen. Hat sich Silvia wirklich in die Nichtexistenz begeben oder vielleicht doch „nur“ in einem Zustand, in dem sich das Ego aufgelöst hat? „Nur“, da dies immerhin einer jener Zustände ist, um den sie viele New-Age-Jünger und Yogis beneiden würden, sofern sie mit ihrer Meditation noch nicht so weit fortgeschritten sind.Aber nähere ich mich dem Buch noch einmal anders, zum Beispiel vom Klappentext her. Ich möchte mich nur auf den ersten Satz stürzen, da er gänzlich daneben ist: „Eine Gruppe von Mars-Kolonisten, die sich in psychologische Behandlung begibt.“ Nun ja, gebrauchen könnten sie diese Behandlung vielleicht, aber der einzige, der eine bekommt (und das erfolglos), das ist der autistische Manfred Steiner. Sein unglücklicher Vater bringt sich um, seine Mutter rennt am Ende des Romans schreiend in die Wüste, Arnie Kott hat einen übergroßen Hang zur Macht, Jack Bohlen wird schizophren, Doreen Anderton springt von einem Mann zum nächsten und wieder zurück, Otto wird zum Mörder, Silvia Bohlen ist tablettenabhängig, selbstsüchtig (trotz der Tabletten...) und geht aus Langweile fremd, Helio ist zynisch und seiner Kultur gegenüber feindlich gesinnt und Dr. Glaub, der einzige Psychologe im ganzen Buch, verliert kurz seine Souveränität und wird zum Speichellecker... usw. Therapie bräuchten sie alle.In diesem Kuddelmuddel aus Personen und ihren Psychosen und Neurosen, versucht Arnie plötzlich mit dem autistischen Manfred als Werkzeug, die Zeit durcheinander zu bringen und ein Geschäft abzuschließen, für das es in der Romangegenwart schon zu spät ist.Und wie macht er das? Durch ein Ritual. Denn die profane Zeit wird unterbrochen, indem man durch einen Ritus in die mythische, die ewige Zeit eintritt (vgl. z. B. : Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane, S. 63). Dummerweise wird Arnie beim Rückeintritt in die normale Zeit erschossen. Und Jack Bohlen sagt nach dieser Tat zu seiner Frau: „Mir geht im Kopf herum, was Arnie vor seinem Tod sagte. Ich war bei ihm. Arnie sagte, er befände sich nicht in der realen Welt; er wäre im Phantasiegebilde eines Schizophrenen gefangen, und daran muß ich ständig denken.(...)“ S. 333Ich weiß nicht, in wie weit Dick bewusst war, dass er einen Roman über Nondualismus (auch Monismus oder Nichtdualismus genannt) schrieb.Es ist das alte Lied vom Leid der Trennung, der Entfremdung vom Sein, des Erkennens des Anderen im Gegensatz zum Ich..Silvia nimmt gleich im ersten Absatz die Tabletten, um im Nichtselbst aufzugehen (denn die Entstehung des Egos, ist die Entstehung der Dualitäten) - man könnte meinen, Dick habe gerade ein Buch über indische Philosophie gelesen - oder über Meditation - oder vielleicht aber auch einfach nur über die Aborigines (was wohl tatsächlich der Fall war).Die Schizophrenie dient in diesem Fall (also, wenn Dick wirklich im Sinn hatte, über Dualismus/Nondualismus zu schreiben) als Metapher für die Trennung vom Rest der Welt (schizo kommt von der indoeuropäischen Wurzel skei, was so viel bedeutet wie: „,Trennung†™, ,Seperation†™, ,Unterscheidung†™“ (vgl. Heinz von Foerster, Teil der Welt, S. 312).Diese Trennung von dem Urgrund (im Brahmanismus Brahman (?), im Mahayana-Buddhismus die Leere (?), im Gnostizimus der Schöpfergott (?)) ist der Initialpunkt für das Unglück - und nur die Erkenntnis (Gnosis) kann die Erlösung bringen. Die Erkenntnis a) auf rationale Art, dass die sogenannte Realität nur Maya ist, Schein, und
auf die magisch-mystische Art: Erkenntnis als SEIN („Vom initiatischen Standpunkt bedeutet erkennen nicht, das erkannte Objekt ,denken†™, sondern es sein.“ Julius Evola, Magie als Wissenschaft vom Ich, Bd. 1, S. 48).In dieser Welt, in der Manfred die Entropie sieht und am eigenen Körper miterlebt, hat er die Macht, die anderen mit in SEINE Realitätssicht zu ziehen (oder besser: in seine Realität). Jack:„Fast habe ich den Eindruck, als könne Manfred mehr als nur in die Zukunft sehen; Irgendwie kontrolliert er sie, er kann es so anstellen, daß die schlimmste Möglichkeit eintritt, weil das anscheinend in seiner Natur liegt, so sieht er die Realität. Es ist, als würden wir, einfach dadurch, daß wir uns in seiner Nähe befinden, in seine Realität hineingezogen.“ S. 212Damit ist er ein Vorläufer zu Jory aus Ubik und ein „Nachläufer“ der Figuren aus Eye in the Sky (Und die Erde steht still...).Damit ist Manfred in Dicks gnostizistisch angehauchten Weltbild also der Demiurg; und „Grundbefindlichkeit der Gnosis [= Erkenntnis] (...) [ist] die Erfahrung der Einsamkeit, des Ausgesetzt-Seins in einer ungastlichen Fremde“, wie der ungastlichen Marswüste, in der es kaum genug Wasser gibt, in der es kaum genug Nahrung gibt, in der die nächsten menschlichen Kontakte viele Hundert Kilometer entfernt sind, es ist wahrlich „eine Welt als gottfernes Reich der Finsternis“ (C. Markschies, Die Gnosis, S. 26).Ist das alles verwirrend? Ja, das soll es sein. Denn Dick befand sich verwirrt auf der Suche, und seine Romane verlangten immer mehr nach der Antwort (42 oder 23 oder 93?). Und alles was bleibt, ist weiterzumachen in dem Labyrinth - oder wie es Leo Bolero in dem kurze Zeit nach Martian Time-Slip entstandenem The Three Stigmata of Palmer Eldritch (Die drei Stigmata des Palmer Eldritch) ausdrückte:„Es ist doch so: Denken Sie daran, daß wir alle nur aus Staub gemacht sind. Das verspricht zugegebenermaßen wenig Aussicht auf Erfolg, und davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Aber selbst wenn man bedenkt, daß zu Anfang einiges schiefgelaufen ist, halten wir uns doch recht gut. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir es trotz der miserablen Situation, in der wir uns momentan befinden, schaffen können. Noch Fragen?“Ein Buch also, das einen zu wirren Gedanken anregen kann. Möge es mehr davon geben!