Geschrieben 24 August 2003 - 14:06
Hallo. Diese Geschichte wurde zwar bereits in FANTASIA 164 veröffentlicht, aber ich hätte gerne mal Feedback zu meinen Texten. UNd es ist die kürzeste Geschichte, die ich zu bieten habe. Also, wenn jemand Lust hat, einen Kommentar loszuwerden, würde ich mich freuen. Danke.Ralph(Problem: normalerweise sind die Dialoge kursiv, ich hoffe, es kommt so nicht zu Verwirrungen, weil das Kursive fehlt.)Assimilation Dank an A..B.C. & P.K.DNur ein rascher blutloser Stich. Er schrie. Eine Wespe. Etwas stimmte nicht. Hatten sie ihn wirklich erwischt? Nein, er konnte normal denken, er war nach wie vor er selbst, aber... Sie hatte nicht richtig gestochen.Jetzt ists aber gut, Michael!Der Junge robbte durch das Wohnzimmer, das futuristische Gewehr in den Händen, das Gesicht verzerrt, das Haar wirr. Sein Vater betrachtete verärgert, wie er hinter einem Stuhl in Deckung ging. Ihr müsst entschuldigen, wir haben vor ein paar Tagen Star Trek 8 gesehen; seitdem jagt er Außerirdische, die die Erde assimilieren wollen... Er lächelte spöttisch und reichte seinen beiden Gästen Sektgläser. Schön, dass ihr Zeit gefunden habt, mich zu besuchen.Phillip lachte. Wenn wir schon mal in Mannheim sind...Michael kam hinter seiner Deckung hoch, ahmte Fasergeräusche nach und fuchtelte wild mit dem Plastikgewehr herum, so ungeschickt, dass der Lauf gegen die Sektflasche stieß. Phillip sprang hin, bekam sie gerade noch zu fassen. Sekt schwappte über seine Hand. Scheiße.Jetzt reichts! Michaels Vater errötete vor Zorn und peinlicher Berührtheit. Er schnappte den Jungen und zerrte ihn raus in sein Kinderzimmer. Wartet, ich hole ein Handtuch.Hey, ist ja nichts passiert, rief Vera hinter ihnen her. War ja zum Glück kein Champagner! Sie lachte.Du bleibst hier, Micha! Und komm ja nicht raus, bevor mein Besuch weg ist! Und... und werd langsam mal erwachsen, das ist ja nicht mehr normal! Er schloss die Tür - seltsam leise.Michael sprang zum Bett.Die Borgs waren unbesiegbar, sie konnten sich auf seine Geschosse einstellen und unverwundbar werden. Ihr kollektives Bewusstsein ließ die Erfahrung jedes einzelnen auf alle anderen übertragen. Wusste es einer, wussten es alle. Eine grauenhafte Vorstellung, unmöglich zu verstehen: Individuen gab es keine, sie lösten sich auf im Volk, gleich einem Wassertropfen im Meer. Und er war allein.Die anderen, wo war die Besatzung? Irgend jemand musste doch noch leben, noch er selbst sein. Wo waren Riker, Picard, Troi? Data? Vielleicht auf der Brücke, wenn sie noch nicht assimiliert worden waren, sie mussten dort sein.Über die grauschwarzen Wände liefen blaue Elmsfeuerchen. Es roch nach verbranntem Gummi und Batteriesäure. Die Dunkelheit war bedrückend. Der Alarm dröhnte unentwegt und rotes Licht flimmerte durch die Gänge.Er rannte einen langen Flur entlang.Ich muss zur Brücke!Die kirschholzfarbene Tür öffnete sich. Abendbrot. Willste was zu essen, Kleiner?Papa. Michael schaute auf. Im Zimmer war es dunkel.Ja. Er folgte ihm.Wenn ich Gäste habe, solltest du etwas mehr Rücksicht nehmen.Michael setzte sich an den Küchentisch.Aber die Borgs...Sein Vater drehte sich genervt um. Vielleicht war es ein Fehler, mit dir den Film zu sehen... Aber, dachte er, es war schließlich auch meine eigene Kindheit. Spock, Kirk, Pille und Scotty. Ich habe als Kind genauso die einzelnen Folgen nachgespielt, aber war ich jemals so versunken, so tief in meine Phantasie eingetaucht, dass ich die Realität vergaß? Anfangs vielleicht, aber nicht mehr in dem Alter, später fehlte die Konzentration - oder was weiß ich.Essen. Michael wurde leicht schwindelig. Was ist los? Essen. Hunger. Aber die Borgs. Ich brauche was zu essen, ich brauche... Kraft.Glaubst du nicht, dass du dein Spiel langsam übertreibst?Der Junge biss in ein Brötchen. Wie sollte er seinem Vater - oder wer er auch immer sein mochte - erklären, dass es kein Spiel war? Oder war es eins? Den Weg des geringsten Widerstandes gehen, sich nichts anmerken lassen: Ja, aber es macht Spaß.Sein Vater schien einigermaßen beruhigt.Schön, aber du musst aufpassen, dass du nicht eines Tages den Verstand verlierst. Nachher behauptest du noch, ich sei ein Borg - oder deine Lehrer, wobei ich mir bei denen gar nicht so sicher bin... Er lachte. Nein, im Ernst. Du bist bald dreizehn. Du solltest dich in diesem Alter eigentlich für andere Dinge interessieren.Wenn du wüsstest... Elaine. Nichts anmerken lassen. Er wurde zittrig. Ablenken: Schenkst du mir ein DVD-Rom-Laufwerk zum Geburtstag?Mal sehen. Er stand auf.Das ist alles nicht echt. Wo ist meine Mutter? Geschieden, nein, tot.Gott, morgen Schule. Wieso Schule? Ich bin viel zu alt. Zwölf? Nein, sechsundzwanzig. Elaine. Dieser Name, was ist mit ihr?Willst du noch was?Michael sprang auf. Nö. Er stürmte in sein Zimmer, das Gewehr knatterte.Ich komme nicht zur Brücke durch. Sie sind immun. Ich muss mir was einfallen lassen. Das Holo-Deck, wie Picard... Woher weiß ich das? Woher weiß ich, dass Picard... Der Film! Was für ein Film? Ein Fehler im Film oder spinne ich? Gott, was ist real? - Borgs sind zur Hälfte Maschinen, halb organisch. Ihr Bewusstsein ist... virtuell. Picard hat im Holo-Deck die Sicherheitssperre abgeschaltet, die virtuellen Waffen sind dadurch real geworden, er konnte töten. War das notwendig? Hätte er ein simuliertes Bewusstsein nicht auch durch simulierte Waffen töten können? Woher weiß ich all das? Bin ich zwölf, habe ich doch nur einen Film gesehen?Aber woher weiß ein Zwölfjähriger von virtuellen Realitäten? Und Elaine? Der Hauch einer Erinnerung. Ich muss in das Holo-Deck, bevor die gesamte Erinnerung verschwindet.Die Borgs sind überall. Sind sie in ihrer Gestalt nicht zu sehr Mensch, als dass sie wirklich Außerirdische sein könnten? Wenn sie ganze Völker assimilierten, müssten dann nicht auch völlig andere Lebensformen als humanoide unter ihnen sein? Außerdem die Ähnlichkeit zu den Wesen aus HELLRAISER. Schon wieder ein Film, ein Film, den ich gar nicht kennen dürfte mit zwölf; aber wieso sollte ich ihn in der anderen Welt kennen? Ich habe ein Plakat gesehen. Vielleicht geben sie mir falsche Erinnerungen. Gott, vielleicht bin ich selbst nur Simulation, wie sie. Diese Träume. Papa. Die Tür.Geh ins Bett, wir müssen morgen früh raus. Ich setze dich etwas eher bei der Schule ab als sonst, ich muss vor der Arbeit noch was erledigen.Er ging wieder.Das Zimmer verschwand vor Michael, wich der inzwischen fast gänzlich assimilierten Enterprise. Er sollte schlafen. Die Borgs waren überall und arbeiteten unermüdlich, weiß der Teufel, was sie taten, Michael beachteten sie zumindest nicht. Er war für sie keine Gefahr.Er rannte die langen Gänge entlang und versuchte sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Bald erreichte er das ersehnte Holo-Deck. Elaine. Er dachte den Namen unentwegt, um ihn nicht zu vergessen. Aber er war ihm schon lange nicht mehr als irgendein Name, dem kein Inhalt, keine Gestalt zuzuordnen war.Er betrat das Holo-Deck.Computer? Stell ein Hologramm von allen Besatzungsmitgliedern namens Elaine her, Nachnamen weiß ich nicht. Zum Glück gab es mit diesen Namen nur eine Person an Bord, denn kurz darauf erschien eine schwarzhaarige Frau im Raum. Sie stand leblos da wie eine dreidimensionale Photographie. Ihr Gesicht war ihm seltsam vertraut. Computer? Weißt du, wo sie sich zur Zeit aufhält?- Der Aufenthaltsort von Elaine Heidelberg ist nicht bekannt. Sie ist nicht an Bord der Enterprise.Vielleicht war sie schon assimiliert. Ist bekannt, wann sie von Bord gegangen ist?- Nein, darüber sind keine Aufzeichnungen vorhanden.Also tatsächlich assimiliert. Oder sie hatte ihren Kommunikator verloren.- In welchem Verhältnis standen wir zueinander?- Sie wohnten in einer Kabine und teilten...- Danke.Ich habe sie geliebt, ich weiß es. Wieso kann ich mich dann nicht mehr an sie erinnern? Was ist mit ihr geschehen? Was ist mit mir geschehen?Michael war müde. Ich muss schlafen. Ihm war kalt. Papa hat gesagt, dass ich schlafen soll. Er legte sich in das Bett, die Decke bis unters Kinn gezogen, das Kopfkissen eng umschlungen. Elaine... Die Hologramm schloss ihn in ihre Arme. Ich bin pervers. Elaine ist vielleicht tot, und ich küsse ein computergeneriertes Duplikat. Aber wo ist der Unterschied? Ihr Geist. Es fehlt ihre Vergangenheit, sie kann außerhalb dieses Raums nicht existieren, sie hat kein Bewusstsein - sie ist nur eine Simulation. Und ich beginne mich langsam auch in eine Simulation zu verwandeln. Gibt es simuliertes Glück?Wer bin ich? Ich erinnere mich an Sommertage zusammen mit meinem Vater, mit meiner Mutter, als sie noch lebte. Ich erinnere mich an die Schule, und ich erinnere mich daran, dies alles hier als Film gesehen zu haben. Star Trek 8.Ich kann mich weder an Elaine erinnern noch an die 26 Jahre meines Lebens. Etwas stimmt nicht mit mir. Papa hat recht, ich spinne. Total verrückt.Als Michael erwachte, war es halb 8. Sein Vater fluchte in der Küche.Micha! Steh auf, wir haben verschlafen!Michael war noch angezogen, er war gestern einfach eingeschlafen. Etwas bedrückte ihn. Ein seltsam leeres Gefühl im Kopf ließ ihn auf dem Weg ins Bad taumeln. An der Tür bemerkte er sein Kopfkissen und das alte Plastikgewehr in den Händen. Das Kopfkissen landete nach einem schüchternen Kuss auf dem Bett, das Gewehr schmiss er in eine Ecke: Kinderkram!Hey, du bist ja schon angezogen! Sein Vater balancierte gleichzeitig zwei Toastscheiben und ein butterbeschmiertes Messer durch die Küche und ließ alles wie gewöhnlich kurz vor dem Ziel fallen. Scheiße!Trink schnell was und nimm ein Brötchen mit, wir haben keine Zeit mehr. - Kämmen kannste dich im Auto.Als Michael Morell an der Schule aus dem Auto stieg, kam ihm Elaine Heidelberg entgegen. Sie lächelte. Er lächelte. Hoffentlich sah es keiner der anderen. Ach was, egal. In der Brust wurde ihm seltsam warm. Aber da war noch etwas anderes: eine Art glückliche Melancholie. Und einen unerklärlichen Moment lang glaubte er eine Träne in ihren Augenwinkeln schimmern zu sehen. Ich bin zwölf, dachte er und verstand sich selbst nicht.Sein Vater hingegen saß grinsend im Auto und startete den Motor. Na, da wird ja doch noch alles gut. Mensch, noch einmal so jung sein, das möcht ich!Er fuhr davon. Und Elaine und Micha verschwanden auf dem Schulhof zwischen den anderen Kindern, die vor der drohenden Unterrichtsmüdigkeit in der Sommersonne tobten.
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)