Bioshock
Als der Engländer Thomas Morus 1516 den Roman Utopia verfasste und darin eine fiktive Insel beschrieb, die in vielerlei Hinsicht vom Britischen Königreich der damaligen Zeit abwich, legte er den Grundstein für eine völlig neue literarische Gattung. Einige Jahrhunderte später brachte der technologische Fortschritt die Science Fiction hervor (auch wenn sie anfangs noch nicht so hieß) und die Utopie – sowie ihre bösen Schwestern Anti-Utopie und Dystopie – wurden zu einem festen Bestandteil dieses Genres.
Falls ihr euch jetzt fragt, warum ich das hier schreibe – nun, wenn ich Bioshock in wenigen Worten zusammenfassen müsste, dann wären diese wohl Utopia Gone Wild, denn eine Utopie, die gänzlich aus den Fugen geraten ist, bildet den Hintergrund in diesem Spiel. Und wie Thomas Morus' Werk ist auch Bioshock nicht zeitlich in die Zukunft sondern räumlich in den Ozean versetzt. Genauer gesagt spielt es sogar in der Vergangenheit und beginnt 1960 äußerst ungemütlich mitten im Atlantik...
Dort treibt der Protagonist Jack als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes und wäre eigentlich dem Tod geweiht, wenn nicht zwischen den brennenden Wrackteilen eine kleine Insel mitsamt eines Leuchtturms aus dem Meer ragen würde. Da Ertrinken keine Alternative ist, schwimmt man also zu dieser Insel und findet im Inneren eine Tauchkugel vor. Als man diese auf der Suche nach Hilfe betritt und darin einen Hebel betätigt, beginnt eine Tauchfahrt, die einen auf den Grund des Meeres bringt. Während dieser Fahrt hebt sich aus dem Boden der Kapsel eine Leinwand herauf und zeigt einen kurzen Film, in dem der Industriemagnat Andrew Ryan seine Vision eines Utopias erklärt – er wollte einen Ort schaffen, an dem weder der Kapitalismus noch der Kommunismus und auch keine Religion das Sagen hat, und an dem Künstler und Wissenschaftler ohne jegliche Einschränkungen arbeiten dürfen.
Kurz darauf senkt sich die Leinwand wieder und gibt den Blick auf das Panorama der Unterwasserstadt Rapture frei, das an eine Mischung aus Atlantis und Metropolis (aus Fritz Langs gleichnamigen Stummfilmklassiker) erinnert. Zwischen Wolkenkratzern im Art-Deco-Stil – die eigentlich Meeresspiegelkratzer heißen müssten – sieht man Fischschwärme, Kraken und einen Wal vorbeischwimmen. Wenn ihr den Beginn des Spiels einmal sehen und Andrew Ryans Zukunftstraum hören möchtet, könnt ihr das hier tun.
Schon kurz nach der Ankunft stellt man jedoch fest, dass Rapture nur noch ein Schatten seines selbst ist. Ein Mann namens Atlas meldet sich über ein Funkgerät, das in der Tauchkapsel hängt, und teilt dem Spieler mit, dass in Rapture das Chaos ausgebrochen ist. Die Straßen sind gesäumt von Leichen, an manchen Stellen brennt es oder Wasser strömt durch Risse ins Innere der Stadt. Das alles steht in Kontrast zu dem prächtigen Ambiente der 30er und 40er Jahre (das jetzt vielerorts in Trümmern liegt) und zu der beschwingten Musik jener Ära, die überall aus den Lautsprechern tönt und dabei so klingt, als käme sie direkt aus einem Grammophon.
Kurz darauf wird der Spieler dann mit den Einheimschen konfrontiert: Menschen, die offensichtlich den Verstand verloren haben, greifen einen an. Diese sogenannten Splicer – die früheren Bewohner Raptures – sind grausam entstellt, schizophren, äußerst aggresiv und verbergen ihre verzerrten Gesichter hinter Karnevalsmasken.
Ab diesem Zeitpunkt zeigt sich, dass Bioshock eine Ego-Shooter mit Survival-Horror-Elementen ist, denn der Spieler muss sich fortan seines Lebens mit Waffengewalt erwehren und dies in einer Atmosphäre tun, die man nur als verstörend und bedrohlich beschreiben kann. Ich muss an dieser Stelle auch ganz klar betonen, dass Bioshock definitiv nichts in den Händen von Kindern oder Jugendlichen zu suchen hat.
Doch obwohl Bioshock zu dieser oft in der Kritik stehenden Spielgattung gehört, beweist es, dass man dennoch eine spannende Geschichte erzählen kann. Während nämlich in anderen Vertretern des Genres die Story nur schmuckloses Beiwerk ist, wird sie selbst in dieser Unterwasserstadt nicht durch die Kämpfe verwässert. Dabei melden sich im Verlauf des Spiels noch mehrere andere Personen (außer dem erwähnten Atlas) über Funk bei dem Protagonisten Jack und es entfaltet sich eine Erzählung über den Niedergang einer völlig fehlgeleiteten Utopie. Gegen Ende wartet das Spiel dann mit einer Wendung auf, bei der mir die Kinnlade auf den Controller fiel. Denn diese rückt nicht nur den Verlauf der Handlung in ein neues Licht, sondern stellt die Handlungsweise des Protagonisten (und indirekt sogar die des Spielers) in Frage. Das mag jetzt kryptisch klingen, aber ich denke, jeder der Bioshock gespielt hat, weiß genau was ich meine.
Während man die vierzehn Level erkundet bzw. sich durch diese hindurch kämpft, stößt man auf dutzende Tonbandaufzeichnungen, welche neben den Funksprüchen die Geschichte der Stadt erzählen. Dabei zeigt sich, dass Rapture vor dem Zusammenbruch einige Ähnlichkeiten mit Aldous Huxleys bekanntestem Werk gehabt haben dürfte. Ein Schöne, neue Welt, in der sich die Bewohner Vergnügungen und Drogenräuschen hingaben – nur das die Wunderdroge hier ADAM und nicht Soma hieß – und die Wissenschaft, insbesondere in der Gentechnik, zu neuen Ufern strebte. Wohlgemerkt traf dies nur zu, wenn man auf der Seite des Gründers Andrew Ryan stand – wer sich gegen ihn stellte, dürfte vielmehr George Orwells 1984 in abgewandelter Form erlebt haben.
Doch es gab einen bedeutenden Unterschied zwischen diesen Werken und der Philosophie des noch intakten Raptures: die Gesellschaft basierte nicht auf indoktrinierter Gemeinschaft, sondern auf der Vorteilsnahme des Einzelnen. Die Entwickler Bioshocks gaben in Interviews an, dass der Roman Atlas wirft die Welt ab der amerikanischen Schriftstellerin Ayn Rand ihre größte Inspiration gewesen sei. In diesem Werk, dessen Titel eine Anspielung auf die Figur der griechischen Mythologie ist, entwarf sie die Philosophie des Objektivismus – einer Ideologie, die den Verstand als Maß aller Dinge definiert und Egoismus zur Tugend erklärt.
Könnte einem Bioshock bis hierhin als ein Shooter mit philosophischen Ansätzen vage in Erinnerung bleiben, so brennt er sich spätestens dann in das Gedächtnis ein, wenn man das erste Mal auf einen Big Daddy mit seiner Little Sister trifft. Hünen in schwer gepanzerten Metalltauchanzügen begleiten leichenblasse, kleine Mädchen, deren Augen unnatürlich leuchten . Die Mädchen halten riesige Spritzen in den Händen, mit denen sie Blut aus den überall verstreuten Leichen abzapfen, während ihre Beschützer jeden angreifen, der ihnen zu nahe kommt. Ganz sicher eines der seltsamsten Gespänne der Videospielgeschichte – wer dieses unheimliche Paar einmal sehen möchte, findet hier eine Konzeptzeichnung.
Neben dem Einsatz diversen Waffen, um sich seiner Haut zu erwehren, kann der Spieler auch auf Plasmide zurückgreifen, deren Prototypen über die gesamte Spielwelt verteilt sind. Diese Erfindungen der Wissenschaftler Raptures lassen sich am ehesten mit den Zauberfähigkeiten aus dem Fantasybereich vergleichen. Man kann Gegner beispielsweise mit Feuerbällen, Blitzen, Telekinese oder Bienenschwärmen zusetzen. Außerdem gibt es verschiedene passive Gensubstanzen (Tonika genannt), welche z.B. die Widerstandskraft oder die Effektivität bestimmter Fähigkeiten erhöhen.
Außer den Splicern gibt es in Rapture auch ein automatisches Sicherheitssystem, welches von Andrew Ryan installiert wurde – dies besteht aus Kameras, Geschütztürmen und fliegenden Sicherheitsbots, die man in einem Minispiel hacken und gegen die Feinde einsetzen kann.
Außerdem befinden sich an vielen Ecken Raptures Verkaufsautomaten, an denen man Munition, Plasmide, Tonika, Waffenupgrades, Verbandszeug etc. gegen Geld erwerben kann, welches man wiederum bei Leichen oder in Schränken findet.
Zu Kritisieren gibt es natürlich auch etwas:
Die Sprachausgabe (sowohl die englische als auch die deutsche) ist zwar hervorragend, beschränkt sich beim Protagonisten Jack jedoch auf wenige Sätze zu Beginn des Spiels. Somit erfährt man die Hintergründe entweder über Tonbandaufzeichnungen oder Funk-Monologe. Das mag rückblickend betrachtet sogar Sinn ergeben, lässt aber gleichzeitig einiges im Unklaren, da man nur passiv zuhört und nie Fragen stellt.
Da es sich bei den Gegnern ausschließlich um Splicer, Sicherheitssysteme und Big Daddys handelt (auch wenn erstere verschiedene Waffen und/oder Plasmide einsetzen), gibt es etwas wenig Abwechslung. Und auch wenn es im Gegensatz dazu eine große Auswahl an Plasmiden und Tonika gibt, so erweisen sich im Praxistest einige von ihnen doch als recht nutzlos bzw. so speziell, dass man die wenigen Slots, die einem für diese Fähigkeiten zur Verfügung stehen, eher für die vielseitigeren Vertreter reserviert.
Mein größter Kritikpunkt ist die Übersichtskarte, denn diese kann ich bestenfalls als suboptimal bezeichen, weil die verschiedenen Ebenen eines Levels in einem zweidimensionalen Grundriss nebeneinander dargestellt und mit Pfeilen verbunden werden. Da kommt es dann schon einmal vor, dass man auf der Karte eben noch links unten stand und sich einen Treppenaufgang später plötzlich mittig oben wiederfindet (siehe hier). Wer gerne die Levels auf der Suche nach neuen Plasmiden und Tonika erkundet und dabei über keinen ausgeprägten Orientierungssinn verfügt, verläuft sich schnell.
Eines sollte natürlich jedem klar sein. Obwohl Bioshock sicher einer der innovativsten Vertreter des Genres ist, so bleibt das Spiel dennoch ein Ego-Shooter. Es gibt keinen runden Tisch, an dem man mit Splicern und Big Daddys eine friedliche Lösung ausdiskutieren kann. Stattdessen wird geprügelt, geballert und mit Plasmiden um sich geschossen, bis die Nordamerikanische Kontinentalplatte wackelt. Wem dies missfällt, der wird an Bioshock – egal wie spannend die Geschichte und wie stimmungsvoll die Welt auch sein mögen – ganz sicher keine Freude haben. Wer damit kein Problem hat, der wird für zehn bis fünfzehn Stunden (buchstäblich) in eine Welt eintauchen, die es so ganz sicher noch nicht im Bereich des Gamings gegeben hat. Wessen Interesse jetzt geweckt ist, der kann sich hier noch einen Trailer anschauen.
Kleine Anmerkung am Ende: Die deutsche Version ist geringfügig geschnitten, wie man hier nachlesen kann. In meinen Augen trübt das den Spielspaß aber nicht im geringsten.
Bearbeitet von Seti, 08 September 2012 - 14:38.