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Gibt es eine Poetologie für Möglichkeitsliteratur?


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12 Antworten in diesem Thema

#1 karla

karla

    Cybernaut

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Geschrieben 07 März 2012 - 22:39

Hallo, eine Frage an alle Sekundärliteraturexperten: Ich bin auf der Suche nach Poetologien, die sich aus Sicht von Schreibenden mit dem Unterschied zwischen "bürgerlichem" Realismus und Formen der "Möglichkeitsliteratur" befassen (SF, Horror, Fantastik, z.T. auch Esoterik u.ä.). Bisher habe ich außer bei Jorge L. Borges, z..T. bei Joseph Campbell und in ziemlich abgedrehter Form bei Antonin Artaud noch nichts gefunden, was mich weiter bringt. Mich interessiert alles, was nicht fragt: Wie bilde ich Realität so ab, dass das Buch wie ein Mikroskop funktioniert (= Realismus)? Sondern: Was mache eine Literatur aus, die Leser auf alternative Wahrnehmungen stößt, auf einen Möglickeitsraum? Ich wäre überglücklich, wenn sich solche Überlegungen nicht an ein Genre klammern würden, sondern sich darauf konzentrieren, unter welchen Bedingungen ein Buch zu einer Tür ins "Unerhörte" wird ... Vielleicht ist das nur der alte Unterschied zwischen "Figuren"-Literatur und "Ideen"-Literatur, ich bin mir nicht sicher, weil "Ideenliteratur" für mich in dem Moment öde wird, in dem sie mir etwas beibiegen und erklären will. Ich glaube, ich möchte einfach gerne mal was von Autoren lesen, die mir erläutern, warum genau sie eigentlich SF, Horror, Fantastik etc. schreiben und explizit nicht der neue Thomas Mann oder Robert Musil sein möchten. Irgendwelche Tipps für mich? Danke und LG, Karla

#2 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 07 März 2012 - 23:25

Dass Du gerade Musil ausklammert, für den der Begriff des Möglichkeitssinns so wichtig war … Eingefügtes Bild Und wahrscheinlich gibt es nicht wenige Autoren, die gemeinhin als "realistisch" bezeichnet werden, denen es just darum geht, alternative Wahrnehmungen zu ermöglichen.

Ich bin jetzt nicht ganz sicher, was Du mit "Poetologie" meinst, aber hier mal einige Titel von "nicht-realistischen" Autoren, die sich zu ihrem Handwerk äussern (und warum sie SF, Fantasy etc. schreiben):

Ursula K. Le Guin: The Language of the Night. Essays on Fantasy and Science Fiction. New York 1979.
Ursula K. Le Guin: From Elfland to Poughkeepsie. 3. Aufl. Portland 1978 (11973).
John Ronald Reuel Tolkien: „On Fairy-Stories“.
Atheling, William, Jr. [=James Blish]: The Issue at Hand. Chicago 1973
Atheling, William, Jr. [=James Blish]: More Issues at Hand. Critical Studies in Contemporary Science Fiction. Chicago 1970.
Diverses von Samuel R. Delany.

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#3 karla

karla

    Cybernaut

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Geschrieben 08 März 2012 - 08:56

Guten Morgen!

Danke, das sind doch schonmal schöne Hinweise. :-)

Du hast recht, dass man den "Mann ohne Eigenschaften" zu den "Möglichkeitsbüchern" zählen muss, den Begriff des "Möglichkeitssinns" hatte ich ganz vergessen. Aber ich gebe zu, ich habe das Buch nur halb gelesen, weil es mich irre gemacht hat, dass der Kerl nie irgendwo ankommt und es nicht schafft, überhaupt nur ein Ziel, geschweigedenn eine Identität zu entwickeln. Irgendwie scheitert er ganz groß am Projekt der Moderne. Was ja wohl auch so gedacht war? Vielleicht war mir das einfach zu pessimistisch und ich war zu ungeduldig. "Scheitern" ist ja im Grunde genau das, was ich dem Realismus unterstelle ... ich müsste mir das Buch vielleicht doch nochmal ansehen ...

Dass als "realistisch" eingestufte Autoren auch andere Möglichkeiten erkunden, stimmt natürlich auch, sie tun es aber in einem "psychologischen", "soziologischen" oder "politischen" Sinn, bleiben also innerhalb der Bedinungen der "Realität", oder irre ich mich da?

Neulich habe ich z.B. einen realistischen Roman gelesen, da geht es um eine Familie, die den Tod eines Kindes betrauert. Diese Familie wird unters Mikroskop gelegt und seziert: Was geht in den Leuten vor, wie verhalten sie sich, woran scheitern, woran wachsen sie? Wie arbeiten sie sich aus der Lähmung der Trauer heraus, wie gehen sie mit ihrem Zorn, ihrer Schuld, ihren Schattenseiten um? usw.
Das ist alles gut und schön, aber die Figuren bleiben in einem Bedingungsfeld befangen, das letztlich gar keine Alternativen zulässt. Sie können nur anerkennen, so ist es und so bleibt es, du kannst dich nur im ganz kleinen ein wenig frei strampeln, und das hat für das Große nicht die geringste Bedeutung.

Wenn ich dagegen eine SF-Story wie "Geschichte deines Lebens" von Ted Chiang lese und darin nicht nur eine überraschende Sicht auf das Sterben eines Kindes finde, sondern damit einhergehend auch eine Überlegung über die Natur des Daseins als "Gesamtes", als Muster, als ein Gebilde, das sich vom Ziel und nicht von der Ursache her aufbaut, dann finde ich das höchst bereichertn. Die Geschichte erklärt nicht nur, wie Geschichten funktionieren, sondern auch, dass Biografien analog gedacht werden. Die Physik der Aliens macht diese Auffassung nicht nur plausibel, sondern zwingend.
Bei dieser Geschichte habe ich einerseits das miese Gefühl, weil dieses Kind stirbt/gestorben ist/unausweichlich sterben wird. Zugleich bekommt der Tod in einem größeren Kontext Sinn, und das ist tröstlich. Besonders wenn der größere Kontext intellektuell auch noch so faszinierend ist. Hier bekomme ich tatsächlich ein Gefühl dafür, dass man "Realität" auf völlig unterschiedliche Arten Erleben kann, und dass "Unausweichlichkeit" nicht automatisch bedeutet, keine Kontrolle oder keine Gestaltungsmöglichkeiten zu haben. Insofern finde ich diese Geschichte trotz Tragik (das Kind stirbt und auch der Erstkontakt mit den Aliens versandet im Nichts) optimistisch. Weil eine Auffassung vom Leben erreicht wird, in der Verlust und Scheitern integriert werden kann, ohne dass man darüber die Identität verlieren muss.

Im Gegensatz zu dem realistischen Roman, den ich gelesen habe: Dort sehen zwar alle Figuren schließlich Licht am Ende des Tunnels und fangen irgendwie wieder zu leben an. Aber eben nur "irgendwie" und "notgedrungen". Sie gehen zwar neue Beziehungen und Konstellationen ein, aber außer der anhaltenden Beschwernis der Trauer ändert sich nichts. Und das ist mir zu wenig.

Wenn ich es richtig verstanden habe (was ja nicht der Fall sein muss), dann gehört es doch zum Programm des Realismus zu zeigen, "was ist" und ggf. dadurch implizit auch aufzuzeigen, was anders sein und verändert werden sollte. Und das ist eine Herangehensweise, die mich zunehmend langweilt.
Was mich dagegen brennend interessiert, sind Autoren, denen es gelingt, "das Andere" / "Mögliche" auf eine Weise zu beschreiben, die eine gewisse Aufregung erzeugt: Ja, so könnte es doch auch sein! So kann man das auch sehen!
Als Kind haben mir dafür die Narnia-Bücher oder die Unendliche Geschichte gereicht. Die Frage, ob ich jemals einen Wandschrank mit einer Tür in eine andere Welt finden könnte oder ob ich, genau wie Bastian, von jemandem "gelesen" werde, konnte mich endlos beschäftigen.
Mittlerweile braucht es dazu ... ja, was eigentlich?

Darum gehts mir: Was braucht es, um Lesern das dringende Gefühl zu geben, wie wir uns die Welt eingerichtet haben ist eine von etlichen gleichberechtigten Möglichkeiten? Was braucht es, damit man diese "Beinahegewissheit" verspürt, dass das Andere gleich um die Ecke liegt, dass man nur richtig hinsehen muss?
Ich glaube, dass dieses Gefühl für das "Möglicherweise..." einen tatsächlich anders durch die Welt gehen lässt. Offener, neugieriger, mit mehr Begeisterung und Interpretationsfreiheit. Das finde ich viel attraktiver, als einen Realismus, der einem immer wieder vorführt, dass Menschen bloß Gefangene ihrer Bedingungen sind.

Blahhhh! Eingefügtes Bild Ich hoffe, ich habe mich jetzt nicht zu sehr in falsch verwendeten Begriffen verfranst und irgendwer ahnt, was ich meinen könnte...

#4 simifilm

simifilm

    Cinematonaut

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Geschrieben 08 März 2012 - 09:25

Guten Morgen!

Danke, das sind doch schonmal schöne Hinweise. :-)

Du hast recht, dass man den "Mann ohne Eigenschaften" zu den "Möglichkeitsbüchern" zählen muss, den Begriff des "Möglichkeitssinns" hatte ich ganz vergessen. Aber ich gebe zu, ich habe das Buch nur halb gelesen, weil es mich irre gemacht hat, dass der Kerl nie irgendwo ankommt und es nicht schafft, überhaupt nur ein Ziel, geschweigedenn eine Identität zu entwickeln. Irgendwie scheitert er ganz groß am Projekt der Moderne. Was ja wohl auch so gedacht war? Vielleicht war mir das einfach zu pessimistisch und ich war zu ungeduldig. "Scheitern" ist ja im Grunde genau das, was ich dem Realismus unterstelle ... ich müsste mir das Buch vielleicht doch nochmal ansehen ...


Das Scheitern ist beim Mann ohne Eigenschaften ja gewissermassen inhärent. Musil selbst ist ja daran ebenfalls grandios gescheitert. Zwei Bände konnte er beenden, der Rest ist ein riesiger Wust von Fragmenten geblieben, an dem sich die Musil-Forschung seither abarbeitet. Was auch gar nicht erstaunlich ist, denn um den Roman zu beenden, hätte er gewissermassen die grundlegenden Fragen der Moderne beantworten müssen, und das ist wohl auch für Musil zu viel. Eingefügtes Bild Ich habe den Mann ohne Eigenschaften vor ziemlich genau zehn Jahren gelesen, und der erste Teil ist etwas vom Grossartigsten, was ich je gelesen habe. Nachher wird's dann nicht nur fragmentarisch, sondern zusehends mystisch-geschwätzig und der Humor des Anfangs blitzt auch immer seltener auf.

Dass als "realistisch" eingestufte Autoren auch andere Möglichkeiten erkunden, stimmt natürlich auch, sie tun es aber in einem "psychologischen", "soziologischen" oder "politischen" Sinn, bleiben also innerhalb der Bedinungen der "Realität", oder irre ich mich da?


Grundsätzlich ja, aber wie bei allen allgemeinen Aussagen, kann man sogleich ein grosses "Aber" nachschieben. Denn viele realistische Romane halten dieses Prinzip tatsächlich durch, sondern haben immer wieder nicht-realistische Passagen. Man nehme etwa Soll und Haben von Gustav Freytag, der ein geradezu prototypischer Vertreter des bürgerlichen Realismus ist. Da wird unter anderem ein Gespräch unter den Geistern des grossen Handelshauses beschrieben. Natürlich ist das nicht eins zu eins zu nehmen, sondern ist metaphorisch zu verstehen, beinharter Realismus ist es aber nicht. Oder die Sequenzen mit dem Chinesen in Effi Briest.

Ich glaube, dass dieses Gefühl für das "Möglicherweise..." einen tatsächlich anders durch die Welt gehen lässt. Offener, neugieriger, mit mehr Begeisterung und Interpretationsfreiheit. Das finde ich viel attraktiver, als einen Realismus, der einem immer wieder vorführt, dass Menschen bloß Gefangene ihrer Bedingungen sind.


Grundsätzlich sind wir nun mal Gefangene unserer Bedingungen, daran ändert auch Literatur nichts. Eingefügtes Bild Was übrigens keineswegs heisst, dass ich finde, dass Literatur nur das zeigen muss. Aber wahrscheinlich hat Literatur für mich einfach die tröstende Funktion, die sie für Dich hat.

Bearbeitet von simifilm, 08 März 2012 - 09:42.

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#5 molosovsky

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Geschrieben 08 März 2012 - 09:31

(Hat jemand Ted Chiang gesagt? Schnell die ›Mein Senf‹-Tube gezückt)

Im Ernst.

@karla: die Fragen, die Dich beschäftigen, treiben mich auch seit vielen Jahren um. Endgültige Leseempfehlungen zu einer Poetologie der Möglichkeitsliteratur kann ich keine geben. In meinem Blog um (rechte Spalte ›de Luxe‹) habe ich einige Links zu längeren Essays und Zusammenfassungen, die ich immer verlinke, wenn in etwa nach dem Thema gefragt wird. Guter Start sind Umberto Ecos »Mögliche Wälder« und »Die Welten der Science-Fiction«.

Interessant finde ich, dass Du ausdrücklich ›Esoterik‹ in Deine Frage nach Möglichkeitsliteraturpoetologien miteinbezogen hast. Ich konsumiere unter anderem Esoterik- (klassische Okkultkram- und Verschwörungstheorie-) Sachen der Abwechslung wegen, und staune aber immer wieder, wie inspirierend und vergnüglich diese Lektüren sein können. Wahrscheinlich liegt es an dem Umstand, dass die allermeisten Okkult-, Esoterik- und Verschwörungs-Sachen ihre Inhalte nicht als Fiktionen, sondern als Tatsachenvermittlung verstehen (und seien es Tatsachenvermittlungen zu transzendenten Wahrheiten, die aus Gründen der Mystik & Hermeneutik in Bildern und Rätseln vermittelt werden müssen, was sie auf den ersten Blick dann wie Phantastik {im Sinne von Luftschlössern} erscheinen lässt ).

Entgegentreten möchte ich Deiner Auffassung, dass die realistischen Literaturen nur kümmerlich oder gar nicht mit dem Möglichkeitsraum hantieren. Die schlechten realistischen Autoren und Autorinnen mögen das vielleicht, aber auch auf dem Gebiet der Leuz, die keine phantastischen Saltos schlagen, sondern schön realistisch bleiben, gibt es welche, die mit ihren Büchern feine Wanderungen durch den Mögllichkeitsraum veranstalten, da aber dann freilich zumeist im Kopf der im Zentrum der Handlung agierenden Figuren. Guck Dir z.B. mal die beiden Romane »Schiffsmeldungen« und »Mitten in Amerika« von Annie E. Proulx an.

Grüße
Alex / molo

Bearbeitet von molosovsky, 08 März 2012 - 09:34.

MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.

Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.

Mehr Gesabbel von mir gibts in der molochronik

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#6 karla

karla

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Geschrieben 08 März 2012 - 10:18

Natürlich ist das nicht eins zu eins zu nehmen, sondern ist metaphorisch zu verstehen, beinharter Realismus ist es aber nicht. Oder die Sequenzen mit dem Chinesen in Effi Briest.



Genau diese Passage mit dem Chinesen in "Effi Briest" ärgert mich beinahe, weil sie v.a. dazu da ist, Effis "Weiblichkeit" zu betonen. Der Roman wird immer als so "frauenbewegt" gefeiert. Aber Effis Leben kann nur zerstört werden, weil sie in jedem Moment perfekte weibliche Eigenschaften mit sich bringt: Schwäche, Suggestibilität, Hingabe, Leidensfähigkeit, Naivität, Ängstlichkeit, Unselbständigkeit, ... Sie kann nichts dafür, in eine Umgebung gestellt zu werden, in der ihr all dies (durch Männer / "die Gesellschaft") widerfährt. Aber wie sie mit diesen Bedingungen umgeht, ist alles andere als emanzipativ. Sie bleibt Opfer von Anfang bis Ende, und dass sie nach ihrem (unverschuldeten) Fehltritt sterben muss, ist zwar tragisch, aber irgendwie doch auch ganz richtig so. Denn eine Mutter, der man das Kind entzieht, muss vor Kummer so schwächlich werden, geht ja gar nicht anders.
Der "Möglichkeitsmoment" wäre da gewesen, wenn Effi sich - beispielsweise - mental mit dem "Chinesen" verbündet hätte, um um ihr Kind zu kämpfen. Aber so wie es hier benutzt wird, ist das Übernatürliche weniger der Einbruch einer "Möglichkeit", sondern etwas, was die Überlegenheit von Rationalität illustriert.
Dabei kommt es nichtmal drauf an, ob die Sache mit dem Chinesen "wirklich" übernatürlich ist, oder "wahnhaft". Es kommt darauf an, wie Effi darauf reagiert, was es mit ihr macht und was sie daraus macht. DAS eröffnet den Möglichkeitsraum. Oder eben nicht ...

Grundsätzlich sind wir nun mal Gefangene unserer Bedingungen, daran ändert auch Literatur nichts. Eingefügtes Bild



Ich denke, wir sind Gefangene unserer Bedingungen, aber die Bedingungen legen wir z.T. selbst fest.


In meinem Blog um (rechte Spalte ›de Luxe‹) habe ich einige Links zu längeren Essays und Zusammenfassungen, die ich immer verlinke, wenn in etwa nach dem Thema gefragt wird. Guter Start sind Umberto Ecos »Mögliche Wälder« und »Die Welten der Science-Fiction«.


Danke!

Interessant finde ich, dass Du ausdrücklich ›Esoterik‹ in Deine Frage nach Möglichkeitsliteraturpoetologien miteinbezogen hast. Ich konsumiere unter anderem Esoterik- (klassische Okkultkram- und Verschwörungstheorie-) Sachen der Abwechslung wegen, und staune aber immer wieder, wie inspirierend und vergnüglich diese Lektüren sein können. Wahrscheinlich liegt es an dem Umstand, dass die allermeisten Okkult-, Esoterik- und Verschwörungs-Sachen ihre Inhalte nicht als Fiktionen, sondern als Tatsachenvermittlung verstehen (und seien es Tatsachenvermittlungen zu transzendenten Wahrheiten, die aus Gründen der Mystik & Hermeneutik in Bildern und Rätseln vermittelt werden müssen, was sie auf den ersten Blick dann wie Phantastik {im Sinne von Luftschlössern} erscheinen lässt ).


Das ist exakt der Grund, warum ich zwischendurch sehr gerne Esoterik konsumiere: Diese Kombination aus Fantastik und behauptetem Realismus, die Bilder- und Rätselsprachen, die implizite Aufforderung zur Erforschung und Deutung - und ganz einfach der hohe Unterhaltungswert.


Guck Dir z.B. mal die beiden Romane »Schiffsmeldungen« und »Mitten in Amerika« von Annie E. Proulx an.



Mache ich. Ich wollte auch nicht den Ansatz des Realismus komplett abwerten, dafür habe ich mich damit noch viel zu wenig beschäftigt. Es sind nur Tendenzen, die ich auszumachen meine. Und Bücher, die fließende Übergänge schaffen zwischen hartem Realismus und "fantastischen" Formen, sind sowieso höchst interessant.

LGK

#7 simifilm

simifilm

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Geschrieben 08 März 2012 - 10:33

[/i]

Genau diese Passage mit dem Chinesen in "Effi Briest" ärgert mich beinahe, weil sie v.a. dazu da ist, Effis "Weiblichkeit" zu betonen. Der Roman wird immer als so "frauenbewegt" gefeiert. Aber Effis Leben kann nur zerstört werden, weil sie in jedem Moment perfekte weibliche Eigenschaften mit sich bringt: Schwäche, Suggestibilität, Hingabe, Leidensfähigkeit, Naivität, Ängstlichkeit, Unselbständigkeit, ... Sie kann nichts dafür, in eine Umgebung gestellt zu werden, in der ihr all dies (durch Männer / "die Gesellschaft") widerfährt. Aber wie sie mit diesen Bedingungen umgeht, ist alles andere als emanzipativ. Sie bleibt Opfer von Anfang bis Ende, und dass sie nach ihrem (unverschuldeten) Fehltritt sterben muss, ist zwar tragisch, aber irgendwie doch auch ganz richtig so. Denn eine Mutter, der man das Kind entzieht, muss vor Kummer so schwächlich werden, geht ja gar nicht anders.


Das mag zwar nicht sehr erfreulich sein und auch nicht einem modernen Frauenbild entsprechen, aber es ist wohl — realistisch. Eingefügtes Bild Ich verstehe sehr gut, wenn man sich darüber ärgert, dass Effi so passiv bleibt und sie diverse weibliche Klischees so widerstandslos erfüllt. Aber es geht ja genau darum, dass ihr als Frau in dieser sozialen/historischen Situation gar nichts anderes übrig bleibt. Der feministische oder emanzipative Aspekt des Romans ist nicht, dass Effi eine besonders kämpferische Frau wäre (das ist sie nicht. Der Ehebruch ist eigentlich ihre einzige Möglichkeit des Aufbegehrens), sondern dass ihr die sozialen Normen ihrer Zeit schlicht keinen anderen Ausweg bieten.

Wenn Dich das nicht interessiert, ist das vollkommen ok. Man kann es dem Roman aber nur schlecht zum Vorwurf machen, denn er will ja gerade zeigen, dass es für jemanden wie Effi keine Möglichkeit des Aufbegehrens gab. Hermine Huntgeburth hat den Roman 2009 übrigens neu verfilmt (habe ich seinerzeit auch rezensiert) und in ihrer Fassung emanzipiert sich Effi am Ende, stirbt nicht, sondern wird eine unabhängige Frau. Ich verstehe zwar, warum Huntgeburth genug hatte von dieser ewigen Opferfigur, mit ihrem Ende nimmt sie der Geschichte aber eigentlich die ganze Kraft: Ist ja alles gar nicht so schlimm, die Effi muss nur mal auf die Hinterbeine stehen, dann klappt das schon. — Nein, so einfach war es eben nicht.

Der "Möglichkeitsmoment" wäre da gewesen, wenn Effi sich - beispielsweise - mental mit dem "Chinesen" verbündet hätte, um um ihr Kind zu kämpfen. Aber so wie es hier benutzt wird, ist das Übernatürliche weniger der Einbruch einer "Möglichkeit", sondern etwas, was die Überlegenheit von Rationalität illustriert.
Dabei kommt es nichtmal drauf an, ob die Sache mit dem Chinesen "wirklich" übernatürlich ist, oder "wahnhaft". Es kommt darauf an, wie Effi darauf reagiert, was es mit ihr macht und was sie daraus macht. DAS eröffnet den Möglichkeitsraum. Oder eben nicht ...


Man muss zuerst die Möglichkeit haben, einen solchen Möglichkeitsraum zu schaffen …

Bearbeitet von simifilm, 08 März 2012 - 10:43.

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#8 karla

karla

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Geschrieben 08 März 2012 - 11:14

@simifilm: Ich gebe dir insofern recht, dass Effi Briest für eine bestimmte historische Epoche soziologisch/üsychologisch korrekt sein mag. Eine Version von Effi, in der sie überlebt, kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen. Vielleicht hätte man sie wütender und mit einem "Vermächtnis" für die Tochter sterben lassen können. Aber vielleicht wäre das derselbe Kitsch, nur andersrum. Ich frage mich nur, galt das, was Fontane als "realistisch" herausgearbeitet hat, in dieser Weise tatsächlich noch für die Zeit, in der das Buch erschienen ist? (1886) Damals wurden bürgerliche Mädchen normalerweise nicht mehr mit 17 verheiratet, Duelle waren verboten, und Frauenrechtsbewegungen waren Realität. Ich habe den Verdacht, dass Fontane da auch ein bisschen einen Abgesang auf "gute alte Zeiten" schreibt und zugleich sagt: Na, war aber auch schwer für die jungen Dinger, tragischtragisch. Das Buch wurde vom gutbürgerlichen Publikum begeistert aufgenommen. Ich unterstelle denen, dass die recht zufrieden waren, dass am Ende alles wieder seine gute Ordnung hatte, nachdem man ein Tränchen um die herzensgute, liebe Effi verdrückt hatte. Lustigerweise habe ich bei Wikipedia gerade noch eine ganz andere Auffassung zu Effi gelesen: "Bernd W. Seiler beschreibt die Reaktionen von Oberstufenschülern auf Fontanes Roman um 2000: „Siebzehnjährige Schülerinnen und Schüler, gegen den Jugendcharme Effis weitgehend immun, finden sie leicht ein bisschen skrupellos: schon in der Art, wie sie sich zu verheiraten bereit ist – Hauptsache, der Mann ist von Adel, hat eine gute Stellung und sieht gut aus, selbst der vormalige Verehrer der Mutter darf es dann sein -, dann aber auch, wie sie sich auf Crampas einlässt und raffiniert genug ist, das Verhältnis vor ihrem Mann vollständig zu verbergen. Jungen nehmen hier, wenn sie die Zusammenhänge erst einmal realisiert haben, notwendig einen Abgrund von Tücke wahr, sodass Fontanes Mitleid mit ihr doch so ganz nicht gerechtfertigt erscheint. Und wie soll man sich zu ihrer Großmut stellen, mit der sie am Ende von Innstetten sagt, er sei ‚so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist‘? Wann – für wen – empfindet sie selbst die ‚rechte Liebe‘? Für Rollo, ihren Hund, so ließe sich böse feststellen, und es fällt schwer zu begreifen, warum Fontane der ‚armen Effi‘ nicht wenigstens an dieser Stelle ins Wort fällt.“

#9 lapismont

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Geschrieben 08 März 2012 - 11:40

ist zwar OT, aber ich empfand Effi als Figur auch nicht als positiv. Zwar als Opfer der Umstände, aber letztlich unfähig, sich aus der Opferrolle zu befreien. Allerdings schreibe ich das Fontanes Frauenbild zu. Es ging ja nicht um die Befreiung der Frau, sondern das Festlegen ihrer Rolle. Ich hoffe inständig, dass mit dem Buch heute keine Kinder in der Schule mehr gequält werden.

Ãœberlicht und Beamen wird von Elfen verhindert.

Moderator im Unterforum Fantasyguide
Fantasyguide
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  • • (Buch) gerade am lesen: Maxim Leo – Wir werden jung sein

#10 karla

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Geschrieben 08 März 2012 - 12:14

Ich hoffe inständig, dass mit dem Buch heute keine Kinder in der Schule mehr gequält werden.


Ich fürchte, es werden ...

On Topic: Eben weil Fontanes Programm explizit "Realismus" hieß, kann er für eine Figur wie Effi eigentlich keinen Möglichkeitsraum schaffen: Sie wird auf einen Handlungsspielraum festgelegt, der "realistisch" ist, und dann wird das Planspiel durchgezogen. Die Figuren agieren "soziologisch korrekt" und werden damit auf ihre Rollen festgelegt.
Das ist etwas, was ich immer wieder als trostlos und redundant empfinde. Soziologisch glaubwürdigen Realismus kann ich doch täglich um mich herum beobachten. Nur dass das echte Leben dabei oft die besseren Witze macht, zynischer und noch gnadenloser ist.

Aber Fontane ist auch ein ziemliches Extrem, finde ich. Es gibt durchaus auch Realisten, die richtig Spaß machen. Mir fällt gerade ein Beispiel dazu ein: Witold Gombrowicz - "Die Besessenen" (aus den 1930er Jahren).
Realismus, mit "übernatürlichen" Elementen, die zwar nur in den Köpfen der Figuren existieren, aber immensen Einfluss auf ihre Entscheidungen nehmen. Das Buch hat eine bittere Komik und ist stellenweise unheimlich, sehr unheimlich. Ich habe z.B. nach der Lektüre die Handtücher lieber auf den Boden gelegt, als sie an den Haken zu hängen, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie sich an ihrem Haken möglicherweise selbständig bewegen. Klingt bescheuert ... :D

Was ich aber gerade interessant finde - wenn ich im Netz (Wikipedia) über Gombrowicz nachlese, dann stoße ich wieder auf Themen, die sich mit meiner Auffassung decken, was eine interessante Literatur ausmacht:

"Als Romancier knüpft Gombrowicz an die Tradition des komischen Romans an (im Sinne François Rabelais, Miguel de Cervantes, Henry Fielding). Die von ihm behandelten existenziellen Probleme wirken deshalb unernst und lustig, was häufig missverstanden wird. Auf diese Weise hebt Gombrowicz die seiner Meinung nach kraftlose Kunst der Moderne und insbesondere des Romans auf, den er für steril, versnobt und unehrlich gegenüber der Realität hält."

"Den Bruch mit den Konventionen und steifen Formen vollzieht Gombrowicz in seinen Werken nicht nur inhaltlich, sondern überträgt ihn auch auf die Werkform und Werksprache. Er experimentiert mit historisch bewährten literarischen Gattungen, vermischt sie miteinander und übersetzt sie in seine persönliche Sprache. Die daraus resultierende Form ist eine „Unform“, seine Romane werden zu „Antiromanen“."

Und jetzt gehe ich mir erstmal den Eco kaufen ...

#11 simifilm

simifilm

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Geschrieben 08 März 2012 - 14:08

On Topic: Eben weil Fontanes Programm explizit "Realismus" hieß, kann er für eine Figur wie Effi eigentlich keinen Möglichkeitsraum schaffen: Sie wird auf einen Handlungsspielraum festgelegt, der "realistisch" ist, und dann wird das Planspiel durchgezogen. Die Figuren agieren "soziologisch korrekt" und werden damit auf ihre Rollen festgelegt.
Das ist etwas, was ich immer wieder als trostlos und redundant empfinde. Soziologisch glaubwürdigen Realismus kann ich doch täglich um mich herum beobachten. Nur dass das echte Leben dabei oft die besseren Witze macht, zynischer und noch gnadenloser ist.

Aber Fontane ist auch ein ziemliches Extrem, finde ich.


Ich muss da in beiden Punkten widersprechen. Weder scheint mir Deine Charakterisierung von Realismus wirklich zutreffend, noch ist Fontane ein besonders extremes Beispiel. Literatur bleibt in jedem Fall eine hochgradig artifizielle Sache und nicht das soziologische Planspiel, das Du beschreibst. Natürlich ist auch Effi Briest keine soziologische Studie, sondern eine Erzählung, die nach dramaturgischen und ästhetischen Gesichtspunkten gebaut ist. Hier werden Dinge verdichtet, überhöht. Und in Sachen schonungslosem Realismus gibt es etwa unter den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg viel extremere Beispiele.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene: Ich habe eigentlich nie verstanden, warum so viele Leute "realistische" und "nicht-realistische" Literatur gegeneinander ausspielen. Wenn ich schaue, welche Romane und Autoren für mich wichtig sind, geht das kreuz und quer. Da steht ein Realist wie Richard Yates, dessen Romane ich für grandiose Meisterwerke halte, neben einem Kurt Vonnegut oder einem George Orwell. Zumindest für mich ist der Realitätsgrad des Erzählten weit weniger wichtig als die Frage, wie der Autor mit dem Material umgeht.

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#12 Schlomo

Schlomo

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Geschrieben 08 März 2012 - 15:19

Bin leider gerade sehr in Hektik (ein Abgabetermin...), daher nur eine ganz kurze Antwort: Sieh dir mal in Lem`s Solaris den Abschnitt über „Solaristik“ an. Lem beschreibt darin zwar nicht, wieso er das schreibt, aber es ist die Betrachtung das Unvorstellbaren, des nicht zu Begreifenden mit den Mitteln des Realismus. Ich denke daher, dass sich Phantastik und Realismus in ihren Mitteln nicht unterscheiden (müssen). Und wenn du in Lem`s Golem Golems Ansichten über die Welt liest, stellst du fest, dass hier der Standpunkt des Beschreibenden, dessen andere Perspektive, das Mittel der Phantastik ist. Stark vereinfacht gibt es also zwei Klassen, die es zu untersuchen gilt: Das Objekt der Beschreibung, und den Standpunkt des Beschreibenden (des Autors oder einer Romanfigur). Objekt: Standpunkt des Beschreibenden: Real Real -> Realismus Fiktiv Real -> Phantastik Real Fiktiv -> Phantastik Fiktiv Fiktiv -> Phantastik Schalom, Schlomo

Bearbeitet von Schlomo, 09 März 2012 - 00:35.

#no13

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#13 karla

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Geschrieben 10 März 2012 - 18:31

Danke, Schlomo! Hinweis ist notiert! Ich glaube, ich habe jetzt ein paar ganz gute Ansatzpunkte zusammen, um mich in das Thema zu vertiefen. Habe mittlerweile auch den Verdacht, dass man die Trennlinie vlt. weniger zwischen Realismus und "Nichtrealismus" ziehen muss, sondern dass man (auch) nach der Erzählstruktur fragen muss - ist ein Text linear oder nonlinear strukturiert, und was sagt das über die ihm zugrundeliegende Weltsicht aus? ... LG, Karla


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