Ich muss zugeben, dass mir nie der Gedanke kam, dass Morus seine Beschreibung Utopias satirisch gemeint haben könnte - manchmal drängte es sich zwar förmlich auf, aber dabei dachte ich dann daran, dass dieses Buch fast 500 Jahre alt ist und Zeiten sich bekanntlich ändern. Es macht natürlich einen Unterschied, ob man als Leser das utopische Staatssystem in vielen Teilen als anti-utopisch empfindet und dabei denkt, dass diese Schilderung Thomas Morus' idealisiertem England entspricht, oder ob man es als überspitzte Kritik versteht.
Ich merke, dass eine Ausgabe mit Vor- oder Nachwort - statt wie bei meiner Ausgabe dem blanken Text - bei solchen Werken sicherlich von Vorteil ist, um die Intention des Autors besser zu verstehen.
Die Definition Schölderles gefällt mir - vor allem mit der Erkenntnis, dass ich Morus' Text wohl etwas zu ernst genommen habe. Eine Utopie sollte tatsächlich Kritik am herrschenden System ihrer Entstehungszeit enthalten, aber muss nicht den fehlerfreien Bauplan einer neuen und besseren Gesellschaftsordnung bereitstellen. Wahrscheinlich geht letzteres auch nicht oder zumindest sehr schwer; die Einstellung der Utopier bspw. hätte man den Engländern wohl nur mit einer Gehirnwäsche eintrichtern können, aber als Anreiz, die eigene Haltung zu reflektieren, funktioniert es sicherlich.
Zweifellos ist es schwierig, einen so alten Text korrekt einzuordnen. Da braucht es einiges an Kontextwissen. Wenn wir jetzt mal nur von Morus' Intention ausgehen (was natürlich bedeutet, dass man bis zu einem gewissen Grad mutmassen muss), dann gibt es einiges, was klar dagegen spricht, dass
Utopia als ernst gemeinter Bauplan einer besseren Welt gedacht ist. Da wäre zB. der simple Umstand, dass Morus später als Lordkanzler eines der höchsten politischen Ämter bekleidet hat und politisch rein gar nichts unternommen hat, was
Utopia entspricht. Oder dass in
Utopia eine Art heidnische Glaubenstoleranz herrscht †” auf jeden Fall kein Christentum †”, Morus später aber geköpft wurde, weil er unbedingt an seinem katholischen Glauben festhielt. Oder ein anderes Beispiel: In
Utopia werden Asketen verspottet, Morus selbst hat aber sehr asketisch gelebt und sich sogar selber kasteit.
Aber auch ohne Rückgriff auf Morus' Biographie gibt es auf der Ebene des Textes, einiges was hellhörig macht. Das beginnt schon beim Titel †” Nicht-Ort. Damit wird schon ein deutliches Signal gegeben, dass das Beschrieben unwirklich, unrealistisch ist. Und wer erzählt da eigentlich? Es ist Hythlodäus und nicht die Figur des Ich-Erzählers Morus, die von
Utopia schwärmt. Die Morus-Figur bleibt skeptisch; wie sich der Text zur Staatsordnung von
Utopia positioniert, ist alles andere als eindeutig. Hythlodäus wiederum ist eine durchaus widersprüchliche Figur, die einerseits davon überzeugt ist, dass in
Utopia die beste Regierungsform erreicht wurde, die andererseits aber nicht bereit ist, selbst als Berater eines Fürsten politisch aktiv zu werden. Ist ihm Organisation eines Staates nun ein Anliegen oder nicht? Interessant auch: Hythlodäus ist ein mehrdeutiger Name und wird ganz gegenteilig interpretiert: Die einen sagen, dass das "Feind der Lügen" heisst, die anderen verstehen es als Phrasendrescher. Der Text ist regelrecht gespickt, mit solchen Ambivalenzen.
Wie könnte man dann - gemäß Schölderle - eine Anti-Utopie oder Dystopie definieren?
Also für mich persönlich ist ein Werk dann eine Anti-Utopie, wenn dessen Kritik am herrschenden System darin besteht, zu zeigen, wohin eine auf den ersten Blick positive Errungenschaft oder Entwicklung hinführen kann; d.h. etwas augenscheinlich Segenreiches entpuppt sich als Fluch. Eine Dystopie ist dann dementsprechend, die negativen Auswüchse einer Gesellschaft auf die Spitze zu treiben, wobei das dadurch entstehende Gesellschaftsmodell nie den Zweck einer positiven Entwicklung hatte.
Dystopien nehmen bei Schölderle relativ wenig Raum ein und ich würde sagen, dass er diesbezüglich auch nicht so überzeugend ist, wie wenn es um Utopien geht. Grundsätzlich sind Dystopien auch bei ihm negative Welten, allerdings beisst sich das dann ein bisschen mit seinem Utopie-Begriff. Denn er legt gerade Wert darauf, dass auch
Utopia eben nicht einfach eine positive, sondern eine ambivalente Welt entwirft, dass die dystopischen Elemente bereits Morus durchaus bewusst waren. Wie trennt man dann aber Utopien und Dystonien noch voneinander? Zu dieser Frage sagt er nicht viel. †” Tatsächlich habe ich mir nach Beendigung der Lektüre genau zu dieser Frage ein paar Gedanken gemacht und ich glaube der entscheidende Unterschied liegt darin, dass in der Dystopie eine Rebellion gegen die bestehende Ordnung stattfindet.
Utopia soll vom Leser nicht vorbehaltlos als beste alle Welten verstanden werden †” so weit, so gut. Die Utopier selber sind aber mit ihrer Welt vollauf zufrieden (zumindest erfahren wir nichts Gegenteiliges). In der Dystopie ist es anders: Da gibt es eigentlich immer mindestens einen Unangepassten, der mit der etablierten Ordnung nicht einverstanden ist. Das meine groben Gedanken, wie man Schölderles Modell Richtung Dystopie erweitern könnte.
Bearbeitet von simifilm, 17 April 2012 - 20:27.