
Ist Bernhard Kellermanns »Der Tunnel« als Lektüre für Schüler zu »problematisch«?
#1
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 16:06
Ich wurde um Rat gefragt.
Es geht um ein (vermutlich allzu) ambitioniertes Schulprojekt mit dem Arbeitstitel »100 Jahre Deutsche Phantastik«. Kellermanns Werk aus dem Jahr 1913 soll als erstes, neben vier anderen (noch nicht bestimmten ...), 2013/2014 gelesen werden. Die Schüler der Abschluss-Klasse eines Gymnasiums werden natürlich über Zeitgeschichtliches (Fächer übergreifend) einiges im Unterricht erfahren.
Der Roman ist, obwohl fast 100 Jahre alt, sicher nicht gerade unbekannt.
Aber: Die antisemitische Darstellung einer der wichtigen Figuren des Werks, nämlich von Woolf (er ist für die finanziellen Belange beim Bau des transatlantischen Tunnels verantwortlich), ist evident. Gleichzeitig aber ein Musterbeispiel für das Verbreiten von Vorurteilen in populärer Literatur des 20. Jahrhunderts.
An alle Kenner des Buchs: was bitte ist Eure Meinung dazu? Zu problematisch? Zu anspruchsvolles Thema? Finger weg? Alternativen?
Zusätzlich wären Vorschläge zu relevanten deutschen Autoren der Phantastik – für den oben erwähnten Zeitabschnitt – sehr willkommen
Vielen Dank!
Jakob
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#2
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 19:25
#3
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 19:42
Biom Alpha ist im Sonnensystem angekommen. Jetzt auf eigener Seite und auf Twitter @BiomAlpha
#4
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 20:32
Ich würde das Buch genau aus diesem Grunde auch - nebst andern Gründen - für das Projekt verwenden. Man sollte nicht den Fehler machen, alle Schüler für tumb zu halten, nur weil in den Medien mit Vorliebe über das untere Ende der Intelligenz- und Sozialisierungsskala berichtet wird.
Hundertprozentige Zustimmung. Ich habe den Kellermann als Jugendlicher gelesen und fand ihn unglaublich spannend und beeindruckend; den antisemitischen Untergrund habe ich damals nicht bemerkt. Als ich vor einem Dutzend Jahren wieder in das Buch hineinschaute, fiel mir das auf. Nur ... das ist ja das spannende. Der Roman ist ja streckenweise richtig »links«, wenn ich mich recht erinnere, und nimmt in seinen Massenszenen viele Dinge vorweg, die das Zwanzigste Jahrhundert bestimmt haben (Börse, Geld-Wahnsinn, Arbeiterkämpfe).
Im Unterricht ist das sicher spannend. Wenn der Lehrer oder die Lehrerin gut ist.
#5
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 21:33
@Klaus
[...] Der Roman ist ja streckenweise richtig »links« ...]
Sehr richtig beobachtet! Spannend eben auch. Deswegen ist die Idee vielleicht doch nicht sooo problematisch ...
Die auch angedachte Alternative – Kafkas »Die Verwandlung« – ist literarisch etwas gänzlich anderes. Die Erzählung liest sich wunderbar, ist aber, was Interpretationen angeht, vermutlich ungleich schwieriger zu behandeln.
Was hättet Ihr bitte für Ideen für Phantastik der Dreißigerjahre. Hans Dominik, Paul Alfred Müller? Es muss auch nicht etwas aus dem Bereich technisch ausgerichteter SF sein.
Ab der Literatur der Nachkriegszeit bis hinein in die späten Sechziger fallen mir Vorschläge zum Stoffgebiet leichter. Die praktische Verfügbarkeit ist übrigens auch ein Thema.
LG
Jakob
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#6
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 21:59
„Altneuland“ von Theodor Herzl, Leipzig 1902
Den Roman gibt’s auch als Volltext bei HaGalil kostenlos zum Download. Es ist der Science Fiction Roman zum „Der Judenstaat“, der politischen Theorie Herzls, und gleichzeitig die Utopie, von der (bisher) am meisten Realität wurde. Und teilweise auch leider nicht, sich sogar genau gegenteilig entwickelte. Gerade an diesen beiden Aspekten kann man sehr deutlich erkennen, wie sich eine Utopie in Realität und auch in eine (reale) Dystopie verwandeln kann.
Schalom,
Schlomo
#no13
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#7
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 22:16
#8
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 22:22
Danke, Ihr habt ja recht. Gut vorbereitet und unterwiesen sollten Schüler das eigentlich bewältigen können.
@Klaus
[...] Der Roman ist ja streckenweise richtig »links« ...]
Sehr richtig beobachtet! Spannend eben auch. Deswegen ist die Idee vielleicht doch nicht sooo problematisch ...
Die auch angedachte Alternative – Kafkas »Die Verwandlung« – ist literarisch etwas gänzlich anderes. Die Erzählung liest sich wunderbar, ist aber, was Interpretationen angeht, vermutlich ungleich schwieriger zu behandeln.
Man muss bei Kafka ja nicht zwangsläufig das ganz schwere Geschütz auffahren; gerade die Verwandlung kann man auch mit Gewinn lesen, ohne sich in zu wilde Interpretationen zu versteigen.
Was hättet Ihr bitte für Ideen für Phantastik der Dreißigerjahre. Hans Dominik, Paul Alfred Müller? Es muss auch nicht etwas aus dem Bereich technisch ausgerichteter SF sein.
Wie wäre es mit Leo Perutz?
Signatures sagen nie die Wahrheit.
Filmkritiken und anderes gibt es auf simifilm.ch.
Gedanken rund um Utopie und Film gibt's auf utopia2016.ch.
Alles Wissenswerte zur Utopie im nichtfiktionalen Film gibt es in diesem Buch, alles zum SF-Film in diesem Buch und alles zur literarischen Phantastik in diesem.
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#9
Geschrieben 04 Dezember 2012 - 23:14
Ja, sehr guter Vorschlag.Wie wäre es mit Leo Perutz?
Da könnte ich Der Meister des jüngsten Tages empfehlen. Eine spannende Kriminalgeschichte mit phantastischem Einschlag und hohem Interpretationspotential.
LG Trurl
Bearbeitet von Trurl, 04 Dezember 2012 - 23:14.
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#10
Geschrieben 06 Dezember 2012 - 15:42
Wie wäre es mit Leo Perutz?
Perutz ist brillant. Na klar! Aber es ist halt nicht sooo richtig Science Fiction. Der Kellermann hat eine technische Utopie zu bieten, einen spannenden Roman mit nachvollziehbaren Charakteren (das ist bei manchem Perutz ja nicht sooo einfach) und durchaus kontroverse Punkte.
Den »Sun Koh«-Müller halte ich für interessant, weil die Frage an einer anderen Stelle kam. Der erste »Sun Koh« ist typisch für die damalige Zeit: eine für heutige Leser seltsame Erzählperspektive (Kameraschwenks von außen nach innen ...), eine tüchtige Spur Rassismus (was normal war ...) und haufenweise Dinge, die man heutzutage bei irgendwelchen Kino-Filmen à la »Illuminati« auch hat.
#11
Geschrieben 06 Dezember 2012 - 16:50
Perutz ist brillant. Na klar! Aber es ist halt nicht sooo richtig Science Fiction.
Das wäre Kafka auch nicht …
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#12
Geschrieben 06 Dezember 2012 - 19:22
Bearbeitet von leibowitz, 06 Dezember 2012 - 19:26.
#13
Geschrieben 06 Dezember 2012 - 22:37
Es hinge von der Art sprich Organisation des Projektes ab, ob ich das unproblematisch finden könnte.
Der Bildungshintergrund heutiger Abiturienten ist ja vom Niveau her nicht vergleichbar mit dem von vor 20 oder 40 Jahren.
Wenn es sich um politisch und/oder historisch Interessierte handelt, sieht es vielleicht anders aus.
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Es handelt sich ja um Abiturienten, also um Menschen, die sehr bald die Schule hinter sich lassen und dann alleine zurechtkommen müssen. Wenn die tatsächlich nicht in der Lage sein sollten, die antisemitische Tendenz eines 100 Jahre alten Textes halbwegs adäquat einzuordnen, dann wäre es umso wichtiger, dass ihnen das in der Schule noch beigebracht wird. Die historisch besonders Interessierten benötigen diese Hilfe gerade nicht.
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#14
Geschrieben 07 Dezember 2012 - 02:49
Vilm. Der Regenplanet
Vilm. Die Eingeborenen
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Galdäa. Der ungeschlagene Krieg
Das Universum nach Landau. Roman in Dokumenten und Novellen
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#15
Geschrieben 07 Dezember 2012 - 19:28
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Es handelt sich ja um Abiturienten, also um Menschen, die sehr bald die Schule hinter sich lassen und dann alleine zurechtkommen müssen. Wenn die tatsächlich nicht in der Lage sein sollten, die antisemitische Tendenz eines 100 Jahre alten Textes halbwegs adäquat einzuordnen, dann wäre es umso wichtiger, dass ihnen das in der Schule noch beigebracht wird. Die historisch besonders Interessierten benötigen diese Hilfe gerade nicht.
Hast du eine Ahnung. Sollte das bei euch in der Schweiz so sein, dann herzlichen Glückwunsch.
#16
Geschrieben 07 Dezember 2012 - 19:51
Hast du eine Ahnung. Sollte das bei euch in der Schweiz so sein, dann herzlichen Glückwunsch.
Umso mehr ein Grund, es zu behandeln. Wenn das nicht in der Schule geschieht, wo dann sonst?
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#17
Geschrieben 08 Dezember 2012 - 09:28
Umso mehr ein Grund, es zu behandeln. Wenn das nicht in der Schule geschieht, wo dann sonst?
Was soll denn deine Suggestivfrage? Ich habe das doch ausdrücklich geschrieben, dass man das Thema Antisemitismus in der Schule behandeln muss!
#18
Geschrieben 08 Dezember 2012 - 14:43
Ich habe das doch ausdrücklich geschrieben, dass man das Thema Antisemitismus in der Schule behandeln muss!
Also spricht ja nichts dagegen, dass am Beispiel von Der Tunnel zu machen.
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#19
Geschrieben 08 Dezember 2012 - 15:01
Also spricht ja nichts dagegen, dass am Beispiel von Der Tunnel zu machen.
Ach so meinst du das, ja natürlich, du hast wie immer Recht, was ich hier für nen Bullshit geschrieben habe in meinem Post, bin ich blöd! Gut dass du´s nicht gelesen hast, wäre ja völlig unnötig gewesen im Nachhinein.
#20
Geschrieben 08 Dezember 2012 - 21:29
Bearbeitet von derbenutzer, 08 Dezember 2012 - 21:54.
Austriae Est Imperare Orbi Universo
#21
Geschrieben 09 Dezember 2012 - 17:09
Allein, da scheint es nach persönlichen Animositäten zu riechen, so etwas kommt vor. Wenn es da um Erklärungsbedarf bezüglich der Argumentationsweise anderer Teilnehmer hier im Forum gehen sollte, bitte ich um Deine geschätzte Reaktion.
LG
Jakob
Ich lese seine Beiträge zumindest. Das sollte auch eine Grundvoraussetzung für eine Teilnahme in einem Forum sein. Genau so, wie andere nicht vorsätzlich ärgern zu wollen.
Aber du hast mit deinem Beitrag (jetzt ganz ohne Ironie) völlig Recht, ich habe mich, vielleicht mal wieder, hinreißen und provozieren lassen. Natürlich ist es für andere langweilig und nervig, sowas dann lesen zu müssen. Geht mir in umgekehrten Fällen ja nicht anders. Insofern ignoriere ich besagten User fortan, das ist sicherlich für alle am Besten.
Also Back to Topic:
"Nicht eine Rotte von Kapitalisten oder Spekulanten sollte den Tunnel bauen, er sollte Eigentum des Volkes, Amerikas, der ganzen Welt werden." (101)
Also politisch eindeutig links. Wie passt es zusammen, dass "die betont antisemitische Darstellung von Allans Gegenspieler S. Woolf [bemerkenswert ist], dem zum Finanzmagnaten gewordenen eingewanderten „Ostjuden“, der von Kellermann nicht nur als weichlich, wehleidig, dabei amoralisch und dem Mammon verfallen, sondern auch als Erotomane mit sadomasochistischen und pädophilen Zügen gezeichnet wird und damit alle seinerzeit geläufigen Negativklischees bedient." (wiki) ? Aus heutiger Sicht schwierig, aus damaliger eher nicht. Diese Klischees waren allgegenwärtig. Ironie am Rande, dass der erste Weltkrieg, ohne dessen Resultate es die NSDAP wohl nicht so leicht gehabt hätte, bei Kellermann gar nicht erst stattfindet.
#22
Geschrieben 09 Dezember 2012 - 17:20
Ich lese seine Beiträge zumindest.
Ich habe Deinen Beitrag durchaus gelesen, bin aber anderer Ansicht als Du. So schwer zu verstehen?
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