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Ted Chiang - Das wahre Wesen der Dinge


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9 Antworten in diesem Thema

#1 Seti

Seti

    Zeitreisebegleiter durch die Windener Höhlen

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Geschrieben 08 Juni 2014 - 22:45

Da ich gerade »Das wahre Wesen der Dinge« von Ted Chiang lese und heute im Ich-lese-gerade-Thread gesehen habe, dass Lucardus und Amtranik das ebenfalls tun, dachte ich mir, dass man dem Buch einen eigenen Thread spendieren könnte. Mittlerweile habe ich fünf der acht Kurzgeschichten durch und möchte hier mal meine Meinung zu den ersten drei abgeben.

Verstehen
Nach einem Unfall, der ihn ins Koma brachte und schwere Hirnschädigungen zurückließ, bekommt Holodesigner Leon ein neuartiges Medikament, das nicht nur beschädigte Hirnareale regeneriert, sondern die mentale Leistungsfähigkeit über das vorherige Niveau verbessert. So sehr sogar, dass seine Intelligenz bald die der ihn untersuchenden Forscher übersteigt und in Leon den Wunsch nach noch mehr Erkenntnis hervorruft, die er sich mit allen ihn zur Verfügung stehenden Mitteln – und diese sind mit seiner Intelligenz exorbitant gewachsen – beschaffen will.

Eine durchaus faszinierende Geschichte gleich zum Einstieg der KG-Sammlung, die ihren Reiz vor allem aus der detaillierten Schilderung von Leons Verwandlung zieht. Chiang schafft es wirklich gut, mentale Prozesse in Worte zu fassen, die eigentlich den Horizont von uns Normalsterblichen übersteigen müssten. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich am Ende etwas anderes erwartet hätte (bspw. eine Konfrontation mit den Behörden oder die Enthüllung, dass er an Wahnvorstellungen leidet) – die Einführung eines anderen »Superhirns« kurz vor Schluss war zwar interessant, ebenso ihre unterschiedlichen Positionen zu den gewöhnlichen Menschen, aber ihr anschließender Showdown konnte mich nicht so recht überzeugen.

Geteilt durch Null
Die Mathematikerin Renee entdeckt eine Formel, die nicht nur ihren kompletten Wissenschaftszweig auf den Kopf stellt, sondern ihn im Prinzip obsolet macht. Diese Erkenntnis setzt ihr so sehr zu, dass sie an Depressionen erkrankt und einen Suizidversuch unternimmt. Die Geschichte setzt an dem Punkt an, als ihr Mann Carl sie aus der Psychiatrie abholt und ergründet – zum Teil in Rückblenden –, wie es zu ihrer Verzweiflungstat kam und wie beide damit umgehen.

Erzählt wird das Ganze in einer Art »Lehrsatzform«, bei der sich kurze, allgemeine Hintergründe und Anekdoten zur Mathematik mit den personalen Schilderungen der beiden Eheleute abwechseln, die zu erstgenannten in Bezug stehen (das mag sich jetzt recht trocken anhören, ist aber wirklich gut umgesetzt). Eine von Chiangs emotionaleren Geschichten, die von einer fiktionalen Prämisse ausgehend die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt rückt. Nicht so phantastisch – was den Ausgangspunkt angeht – wie bspw. »Geschichte deines Lebens«, aber ebenso auf das Innerfamiliäre konzentriert. Mir gefiel diese Geschichte vor allem, weil sie thematisiert, dass jeden Menschen andere Dinge aus der Bahn werfen können, und was für den einen eine Lappalie darstellt, jemand anderen in seinen Grundfesten erschüttern kann.

Zweiundsiebzig Buchstaben
Im viktorianischen England arbeitet der »Nomenklator« Robert an einer neuen Erfindung, mit der er, wie er hofft, die Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter grundlegend verbessern kann. Seine Arbeit nimmt eine überraschende Wendung, als er zu einem geheimen Projekt berufen wird, dessen Erkenntnisse die Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellen werden. Was sich im ersten Moment noch relativ unspektakulär anhört, ist tatsächlich das komplette Gegenteil. Denn Roberts Aufgabe besteht darin spezielle Namen für menschenähnliche mechanische Gebilde zu entwickeln, die diese zum Leben erwecken. In dieser Welt ist also der Golem-Mythos Wirklichkeit geworden. Und nicht nur das – auch andere, zum Teil mystische Erklärungsversuche der Welt, die mittlerweile längst widerlegt sind, besitzen hier Gültigkeit: die Homunkulus-Theorie von Paracelsus ist bewiesen; was wir als Genetik kennen, begründet sich auf kabbalistischen Lehren; und die Entwicklung der Arten wird mittels der neuentdeckten Thermodynamik erklärt. All dies fügt sich zu einem ausgefeilten und detaillierten Szenario zusammen und gipfelt in einer großartigen Pointe.

Während die ersten beiden Geschichten zwar durchaus lesenswert waren, fehlte mir bisher immer ein wenig der »Zauber« Chiangs, den seine Geschichten in »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« verströmten. Das soll nicht heißen, dass sie schlecht waren – ganz im Gegenteil, sie waren sehr gut geschrieben und hatten interessante Ideen –, aber bedingt dadurch, dass ihre phantastischen Elemente eher abstrakt und imaginär waren, unterschied sich in ihnen die Außenwelt, also das Setting, nicht so grundlegend von unserer. »Zweiundsiebzig Buchstaben« ist dahingehend herausragend erzählt, weil hier eine Vergangenheit entworfen wird, die zwar auf unserer fußt, aber sich gleichzeitig völlig von ihr unterscheidet. Erstaunlich, wie scheinbar mühelos das Chiang gelingt. Von den unzähligen Beispielen, die ich dafür jetzt anbringen könnte, hatte es mir folgender Abschnitt (relativ zu Beginn) ganz besonders angetan:

Robert liebte das Museum: die hinfälligen Mumien und die gewaltigen Sarkophage; das ausgestopfte Schnabeltier und die eingelegte Meerjungfrau; die Wand, die über und über mit Elefantenstoßzähnen, Elchgeweihen und Einhornhörnern bedeckt war. An jenem Tag befand er sich im Saal mit den Elementargeistern – er las gerade die Plakette, auf der das Fehlen des Salamanders erklärt wurde –, als er plötzlich Lionel erkannte, der direkt neben ihm stand und die Undine in ihrem Glas anstarrte.

Ted Chiang, Das wahre Wesen der Dinge, S. 74

Genial, wie er das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen vermischt, um dem Leser zu zeigen, dass es sich hier nicht nur um »Alternate History«, sondern um ein ganzes »Alternate Universe« handelt. Für mich hat sich der Kauf des Buches spätestens hier rentiert, denn dies war eine der besten Kurzgeschichten, die ich dieses Jahr gelesen habe.

"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"

- The Talos Principle


#2 Trace

Trace

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Geschrieben 22 Juni 2014 - 20:46

Danke für den Thread. Nach dem ich deine Zusammenfassungen der ersten beiden Erzählungen gelesen habe, habe ich diese auch gleich mal gelesen. Die Erzählung "Verstehen" erinnerte mich beim Lesen sehr an den Film "Ohne Limit" oder an die Trailer von "Lucy". Beachtlich ist, dass er diese schon 1991 veröffentlicht hat. Der Endkampf erinnerte mich sehr an die Darstellung von Hofstadter in "Gödel, Escher, Bach" dort geht es in einem Kapitel um einen Schallplattenspieler der eine Schallplatte abspielt, die ihn beim abspielen selbstzerstören soll (Der Grundgedanke ist, es wird eine Frequenz erzeugt die der Eigenfrequenz des Plattenspielers entspricht und dieser dann zerspringt). Ein wenig musste ich auch an Goethes Zauberlehrling denken und den Meister der die geheime Formel kennt. Beide Erzählungen sind schön geschrieben und interessant.

#3 Mammut

Mammut

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Geschrieben 13 Februar 2015 - 19:27

Da ich gerade »Das wahre Wesen der Dinge« von Ted Chiang lese und heute im Ich-lese-gerade-Thread gesehen habe, dass Lucardus und Amtranik das ebenfalls tun, dachte ich mir, dass man dem Buch einen eigenen Thread spendieren könnte. Mittlerweile habe ich fünf der acht Kurzgeschichten durch und möchte hier mal meine Meinung zu den ersten drei abgeben. Verstehen Nach einem Unfall, der ihn ins Koma brachte und schwere Hirnschädigungen zurückließ, bekommt Holodesigner Leon ein neuartiges Medikament, das nicht nur beschädigte Hirnareale regeneriert, sondern die mentale Leistungsfähigkeit über das vorherige Niveau verbessert. So sehr sogar, dass seine Intelligenz bald die der ihn untersuchenden Forscher übersteigt und in Leon den Wunsch nach noch mehr Erkenntnis hervorruft, die er sich mit allen ihn zur Verfügung stehenden Mitteln - und diese sind mit seiner Intelligenz exorbitant gewachsen - beschaffen will. Eine durchaus faszinierende Geschichte gleich zum Einstieg der KG-Sammlung, die ihren Reiz vor allem aus der detaillierten Schilderung von Leons Verwandlung zieht. Chiang schafft es wirklich gut, mentale Prozesse in Worte zu fassen, die eigentlich den Horizont von uns Normalsterblichen übersteigen müssten. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich am Ende etwas anderes erwartet hätte (bspw. eine Konfrontation mit den Behörden oder die Enthüllung, dass er an Wahnvorstellungen leidet) - die Einführung eines anderen »Superhirns« kurz vor Schluss war zwar interessant, ebenso ihre unterschiedlichen Positionen zu den gewöhnlichen Menschen, aber ihr anschließender Showdown konnte mich nicht so recht überzeugen. Geteilt durch Null Die Mathematikerin Renee entdeckt eine Formel, die nicht nur ihren kompletten Wissenschaftszweig auf den Kopf stellt, sondern ihn im Prinzip obsolet macht. Diese Erkenntnis setzt ihr so sehr zu, dass sie an Depressionen erkrankt und einen Suizidversuch unternimmt. Die Geschichte setzt an dem Punkt an, als ihr Mann Carl sie aus der Psychiatrie abholt und ergründet - zum Teil in Rückblenden -, wie es zu ihrer Verzweiflungstat kam und wie beide damit umgehen. Erzählt wird das Ganze in einer Art »Lehrsatzform«, bei der sich kurze, allgemeine Hintergründe und Anekdoten zur Mathematik mit den personalen Schilderungen der beiden Eheleute abwechseln, die zu erstgenannten in Bezug stehen (das mag sich jetzt recht trocken anhören, ist aber wirklich gut umgesetzt). Eine von Chiangs emotionaleren Geschichten, die von einer fiktionalen Prämisse ausgehend die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt rückt. Nicht so phantastisch - was den Ausgangspunkt angeht - wie bspw. »Geschichte deines Lebens«, aber ebenso auf das Innerfamiliäre konzentriert. Mir gefiel diese Geschichte vor allem, weil sie thematisiert, dass jeden Menschen andere Dinge aus der Bahn werfen können, und was für den einen eine Lappalie darstellt, jemand anderen in seinen Grundfesten erschüttern kann.  

 

Die ersten beiden Geschichten habe ich jetzt auch gelesen.

 

Verstehen fand ich vom Ansatz auch wirklich herausragend. Aber am Ende wird es aus meiner Sicht ein wenig profan und so verschenkt die Geschichte den interessanten Ansatz und verbeugt sich dem Mainstream, schließlich hat man solche und ähnliche Geschichten schon gelesen. Zwei Supermänner, die am Ende ein Duell ausfechten.

 

Geteilt durch Null ist dagegen ein wirklicher Highlight und gipfelt in der Frage, wo sich Wissenschaft und Religion am Ende wirklich unterscheiden und das auf eine sehr subtile und intelligente Art und Weise dargelegt. Ein ganz tolles Stück Prosa.


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#4 Trace

Trace

    Cyberpunk-o-Naut

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Geschrieben 15 Februar 2015 - 22:23

@Mammut: Was schwebt dir da so als alternativer (nicht verschenkter) Ansatz für das Ende von "Verstehen" vor?



#5 Mammut

Mammut

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Geschrieben 16 Februar 2015 - 08:59

@Mammut: Was schwebt dir da so als alternativer (nicht verschenkter) Ansatz für das Ende von "Verstehen" vor?

 

Die Geschichte ist ja ein Gedankenexperiment. Wenn ein Mensch größere Intelligenz erwirbt, wie entwickelt er sich. Chang sagt, gar nicht, er ist immer noch ein Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen.

Ich hätte mir da einen anderen Ansatz gewünscht: Wenn er all diese Möglichkeiten hat, was macht er daraus? Welche Motivationen treiben ihn an, wenn er unglaubliches Wissen gepaart mit Mitteln hat?

Das vermisste ich in der Geschichte.


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#6 Mammut

Mammut

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Geschrieben 01 März 2017 - 18:53

In Spektrum der Wissenschaft 3/2017 ist die Kurzgeschichte "Offizielle Erklärung zum Stand der menschlichen Forschung" von Ted Chiang erschienen. Vielleicht ist das ja für den ein oder anderen interessant.


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#7 quanat

quanat

    Giganaut

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Geschrieben 02 März 2017 - 07:46

In Spektrum der Wissenschaft 3/2017 ist die Kurzgeschichte "Offizielle Erklärung zum Stand der menschlichen Forschung" von Ted Chiang erschienen. Vielleicht ist das ja für den ein oder anderen interessant.

 

Die Kurzgeschichte steht auf der Homepage von SdW derzeit zum kostenlosen Download:

 

http://www.spektrum....rschung/1438219



#8 Pogopuschel

Pogopuschel

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Geschrieben 02 März 2017 - 11:16

Da steht gar nicht dabei, wer sie übersetzt hat (oder habe ich das übersehen?).



#9 quanat

quanat

    Giganaut

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Geschrieben 02 März 2017 - 12:25

Da steht gar nicht dabei, wer sie übersetzt hat (oder habe ich das übersehen?).

 

Im Impressum gibt es lediglich einen allgemeinen Hinweis, wenig hilfreich:

 

"Ãœbersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Michaela Butler, Dr. Rainer Kayser, Christine Kemmet, Dr. Andreas Nestke, Dr. Michael Springer, Dr. Lisa Vincenz-Donnelly, Prof. Klaus Volkert."



#10 Pogopuschel

Pogopuschel

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Geschrieben 02 März 2017 - 12:49

Vermutlich hat es jemand aus der Stammredaktion gemacht.




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