Verstehen
Nach einem Unfall, der ihn ins Koma brachte und schwere Hirnschädigungen zurückließ, bekommt Holodesigner Leon ein neuartiges Medikament, das nicht nur beschädigte Hirnareale regeneriert, sondern die mentale Leistungsfähigkeit über das vorherige Niveau verbessert. So sehr sogar, dass seine Intelligenz bald die der ihn untersuchenden Forscher übersteigt und in Leon den Wunsch nach noch mehr Erkenntnis hervorruft, die er sich mit allen ihn zur Verfügung stehenden Mitteln – und diese sind mit seiner Intelligenz exorbitant gewachsen – beschaffen will.
Eine durchaus faszinierende Geschichte gleich zum Einstieg der KG-Sammlung, die ihren Reiz vor allem aus der detaillierten Schilderung von Leons Verwandlung zieht. Chiang schafft es wirklich gut, mentale Prozesse in Worte zu fassen, die eigentlich den Horizont von uns Normalsterblichen übersteigen müssten. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich am Ende etwas anderes erwartet hätte (bspw. eine Konfrontation mit den Behörden oder die Enthüllung, dass er an Wahnvorstellungen leidet) – die Einführung eines anderen »Superhirns« kurz vor Schluss war zwar interessant, ebenso ihre unterschiedlichen Positionen zu den gewöhnlichen Menschen, aber ihr anschließender Showdown konnte mich nicht so recht überzeugen.
Geteilt durch Null
Die Mathematikerin Renee entdeckt eine Formel, die nicht nur ihren kompletten Wissenschaftszweig auf den Kopf stellt, sondern ihn im Prinzip obsolet macht. Diese Erkenntnis setzt ihr so sehr zu, dass sie an Depressionen erkrankt und einen Suizidversuch unternimmt. Die Geschichte setzt an dem Punkt an, als ihr Mann Carl sie aus der Psychiatrie abholt und ergründet – zum Teil in Rückblenden –, wie es zu ihrer Verzweiflungstat kam und wie beide damit umgehen.
Erzählt wird das Ganze in einer Art »Lehrsatzform«, bei der sich kurze, allgemeine Hintergründe und Anekdoten zur Mathematik mit den personalen Schilderungen der beiden Eheleute abwechseln, die zu erstgenannten in Bezug stehen (das mag sich jetzt recht trocken anhören, ist aber wirklich gut umgesetzt). Eine von Chiangs emotionaleren Geschichten, die von einer fiktionalen Prämisse ausgehend die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Mittelpunkt rückt. Nicht so phantastisch – was den Ausgangspunkt angeht – wie bspw. »Geschichte deines Lebens«, aber ebenso auf das Innerfamiliäre konzentriert. Mir gefiel diese Geschichte vor allem, weil sie thematisiert, dass jeden Menschen andere Dinge aus der Bahn werfen können, und was für den einen eine Lappalie darstellt, jemand anderen in seinen Grundfesten erschüttern kann.
Zweiundsiebzig Buchstaben
Im viktorianischen England arbeitet der »Nomenklator« Robert an einer neuen Erfindung, mit der er, wie er hofft, die Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter grundlegend verbessern kann. Seine Arbeit nimmt eine überraschende Wendung, als er zu einem geheimen Projekt berufen wird, dessen Erkenntnisse die Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellen werden. Was sich im ersten Moment noch relativ unspektakulär anhört, ist tatsächlich das komplette Gegenteil. Denn Roberts Aufgabe besteht darin spezielle Namen für menschenähnliche mechanische Gebilde zu entwickeln, die diese zum Leben erwecken. In dieser Welt ist also der Golem-Mythos Wirklichkeit geworden. Und nicht nur das – auch andere, zum Teil mystische Erklärungsversuche der Welt, die mittlerweile längst widerlegt sind, besitzen hier Gültigkeit: die Homunkulus-Theorie von Paracelsus ist bewiesen; was wir als Genetik kennen, begründet sich auf kabbalistischen Lehren; und die Entwicklung der Arten wird mittels der neuentdeckten Thermodynamik erklärt. All dies fügt sich zu einem ausgefeilten und detaillierten Szenario zusammen und gipfelt in einer großartigen Pointe.
Während die ersten beiden Geschichten zwar durchaus lesenswert waren, fehlte mir bisher immer ein wenig der »Zauber« Chiangs, den seine Geschichten in »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« verströmten. Das soll nicht heißen, dass sie schlecht waren – ganz im Gegenteil, sie waren sehr gut geschrieben und hatten interessante Ideen –, aber bedingt dadurch, dass ihre phantastischen Elemente eher abstrakt und imaginär waren, unterschied sich in ihnen die Außenwelt, also das Setting, nicht so grundlegend von unserer. »Zweiundsiebzig Buchstaben« ist dahingehend herausragend erzählt, weil hier eine Vergangenheit entworfen wird, die zwar auf unserer fußt, aber sich gleichzeitig völlig von ihr unterscheidet. Erstaunlich, wie scheinbar mühelos das Chiang gelingt. Von den unzähligen Beispielen, die ich dafür jetzt anbringen könnte, hatte es mir folgender Abschnitt (relativ zu Beginn) ganz besonders angetan:
Genial, wie er das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen vermischt, um dem Leser zu zeigen, dass es sich hier nicht nur um »Alternate History«, sondern um ein ganzes »Alternate Universe« handelt. Für mich hat sich der Kauf des Buches spätestens hier rentiert, denn dies war eine der besten Kurzgeschichten, die ich dieses Jahr gelesen habe.Robert liebte das Museum: die hinfälligen Mumien und die gewaltigen Sarkophage; das ausgestopfte Schnabeltier und die eingelegte Meerjungfrau; die Wand, die über und über mit Elefantenstoßzähnen, Elchgeweihen und Einhornhörnern bedeckt war. An jenem Tag befand er sich im Saal mit den Elementargeistern – er las gerade die Plakette, auf der das Fehlen des Salamanders erklärt wurde –, als er plötzlich Lionel erkannte, der direkt neben ihm stand und die Undine in ihrem Glas anstarrte.
Ted Chiang, Das wahre Wesen der Dinge, S. 74