GEWALT VERHERRLICHUNG
#31
Geschrieben 16 Januar 2005 - 13:14
»Ich bin nicht besonders helle, und es dauert ein bißchen, bis ich etwas kapiere. Aber wenn du mir Zeit läßt, dann werde ich lernen, dich besser zu verstehen als irgend jemand sonst auf der Welt.«
#32
Geschrieben 16 Januar 2005 - 14:06
Dank @Lomax, für die Feststellung, daß wir im größeren geschichtlichen Vergleich in einer ausgesprochen gewaltfreien Zivilisation leben.
In unserem seit 40 Jahren weitestgehend friedlichen EU-Europa, lassen aber die Selbstmörder-* und Verkehrstoten-Statistiken* ahnen, welcher Art wohl der Preis ist, den man für die Ideale Mobilitäts- und Indivilualitäts-Luxus entrichtet.
* Am Donnerstag (13. Jan. '05) standen die Jahreswerte 2004 für die EU in der FR:
58.000 Suizide, 50.000 Verkehrstote. Im Vergleich dazu nur 5350 Tote durch Mord und Totschlag. --- Zu den Verkehrstoten: Ich möchte den von mir hochgeschätzten George Orwell als einen brauchbaren frühen Kritiker der allgemein akzeptierten Mobilitäts-Gewalt anführen: »Verkerhsopfer und Geschwindigkeit« aus dem Jahre 1946, zu finden in »Das Geroge Orwell-Lesebuch« (Seite 272, Hrsg. Fritz Senn, Diogenes, 1981). Dort schreibt Orwell:
†¦ Unfälle passieren, weil sich auf den schmalen unzulänglichen Straßen, voller unübersichtlicher Ecken und umgeben von Wohnhäusern, Fahrzeuge und Fußgänger in alle Richtungen mit jeder Geschwindigkeit, von drei Meilen pro Stunde bis zu sechzig oder siebzig, fortbewegen. Wenn msan wirklich den Tod von den Straßen verbannen will, müßte man das ganze Straßensystem so neu umplanen, daß Zusammenstöße unmöglich wären. {†¦} †¦ die einzige Milderung, die wirklich etwas ausrichten würde, ist eine drastische Senkung der Geschwindigkeit. {†¦} Aber dies, so wird Ihnen jedermann versichern, ist »unmöglich«. Warum ist es unmöglich? Nun, es wäre unerträglich mühsam. {†¦} †¦was auf die Feststellung hinausläuft, daß langsames Reisen von Natur aus unerträglich ist. Mit anderen Worten, wir schätzen Geschwindigkeit mehr als menschliches Leben.
Warum also sagen wir es nicht, anstatt alle paar Jahre eine jener hypokritischen Kampagnen abzuhalten (die gegenwärtige ist »Verbannt den Tod von den Straßen« - vor ein paar Jahren war es »Lernt den Bordsteinschritt«), in voller Kenntnis der Tatsache, daß - solange unsere Straßen so bleiben wie sie sind, und die heute geltenden Geschwindigkeiten beibehalten werden - das Blutbad weitergehen muß?
Desweiteren stimme ich Lomax aus ganzem Herzen zu, wenn er schreibt:
Es kommt als auf den Zusammengang an, weshalb also immer eine kontextuelle (wenn nicht gar: holistische) Sicht angebracht ist, will man die Wirkungsweise oder Funktion von Gewaltdarstellungen in einem Werk beurteilen.Meiner Ansicht nach täte man gut daran, wenn man sich über die Gewalt in Filmen Gedanken macht, dieses Umfeld der Gewaltszenen in Augenschein zu nehmen und Filme danach zu beurteilen, WIE mit der Gewalt darin umgegangen wird - nicht, wie sie dargestellt ist.
Ich finde es zum Beispiel interessant, bei Filmen (usw) mit starker Gewalt (ob explizit wie bei Splatterfilmen, oder implizit wie bei »Der Todmacher«) darauf zu achten, wie folgende grundlegenden Schicksals-Gewalten berührt werden:
1. Gewalt durch Konkurrenz; Feinde, Fremde, Schlachten, Krieg;
2. Gewalt durch Entwicklungshemmungen und Depressionen; Vandalismus, Suizid, Auto-Aggression, psychosomatische Pathologien, Inner-Familiäre Gewalt gegen Kinder usw. --- Zum Beispiel: Die frustgespeisten Neonazi-Prügeltrupps sind ironischerweise ein Phänomen dieser Gewalt-Quelle, was die Burschen ja zu so einem enorm traurig-tragischen Haufen macht.
3. Gewalt durch mentale Provokationen; Konzepte des Monströsen, der Unendlichkeit, des Zufalls, Chaos und der Entropie usw. --- Siehe Leibniz Verwendung der unendlichen Ausdiffernzierung der Monaden der Schöpfung zur Erklärung, daß dies »die Beste aller möglichen Welten« ist. Man denke an das Erdbeben von Lissabon, mit dem Voltaire in »Candide« gegen Leibniz konterte †¦ oder an das III. Reich, oder an den aktuellen Tzunami und die gleich wieder aufheulenden Glaubens-Krisen a la: »Kann es einen Gott geben?«.
†¢†¢†¢
@Konrad;
Oh, ich habe Dich hoffentlich nicht beunruhigt.
Ha ! Dein Gedanken-Bild mit dem Menschen und der Bierdose finde ich gut.
Im Fachchinesisch nennt sich das ja »zum Objekt degradieren des Mitmenschen« oder »Verdinglichung des Subjekts«. Verdinglicht wird der Mensch ja fortwährend (man denke an die Auseinandersetzung um rationalisiert-raportisierte Bewegungsabläufe im aufgehenden Industriezeitalter. Auch hier empfiehlt sich im weiteren Zusammenhang Onkel Orwell, mit seiner Sozialreportage »Der Weg nach Wigan Pier« von 1937, über die Zustaände in einem kleinen englischen Bergwerks-Kaff).
Als Kunstmensch beanspruche natürlich weitestgehende Ausdrucks- und Inhaltsfreiheit.
Fatal finde ich es immer, wenn diese Freiheit eingeschränkt werden soll, weil es an verantwortungsvollen Geschick bei der Koordination von Stimmungs-Wettermacherei in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft mangelt. Man beachte dazu, daß wir in der Ersten Welt seit Ende des zweiten Weltkrieges größtenteils lediglich medial ausgetragene Wahrheits-Konflikte (Kalter Krieg, Infowar, »wirtschaftliche und soziale Globalisierung«) erleben, während die handfesten bellezistischen Konflikte klassischer Prägung (mit fließendem Blut und strategischer Lebenswelt-Zerstörung) weiterhin woanders stattfinden.
†¢†¢†¢
@Jueps:
»Fight Club« ist einer der besten Filme über Gewalt, die ich kenne.
Die von Dir angesprochene Szene ist in meinen Augen eine harsche Parodie auf den kategorischen Imperativ der Indiviualitäts-Kultur: »Setzte alles daran Dir Deinen Traum zu erfüllen!« --- Beim ersten Mal im Kino wurde ich ebenfalls von DIESER Szene sehr unangenehm aufgewühlt, und habe deshalb weniger Tyler (Brad Pitt) und den Asiaten, als vielmehr den hilflos erschrockenen Namenlosen (Ed Norten) im Blick behalten. »Fight Club« ist ein Film über Krieger-Männchenprobleme, ein Nietzsche-Film sozusagen.
†¢ Die Gilgamesch/Orpheus-Reise eines Schizophrenen,
†¢ der sich aufsplittet in einen unterstützenden Sam (Tyler/Pitt) und einen leidenden Frodo (Namenloser/Norten),
†¢ ins Land Mordor (Keller-{sic!}-Unterwelt des Kriegermännchen-Kult im Fightclub),
†¢ um den Ring zu zerstören (aggresive Archaik der Kriegermännchen-Realitätsblase zu überwinden).
Für mich deshalb ein sehr lobenswerter Film, nicht zuletzt, a.weil die ganze irre Männchen-Phantasmagorgie durch die Beziehung zu einem irren Weibchen (Helena Bonham Carter) verändert und relativiert wird, und damit b. die Krise am Ende als überwindbare Phase mit einem Happy-End abgeschlossen werden kann. --- Hierzulande läßt sich das flott illustrieren: »Fight Club« ist eine wilde aber kritische Meditation über eine APO-Parole, bekannt aus dem Lied von Ton Steine Scherben »Macht kaputt, was Euch kaputt macht!« (siehe Gewalt-Quell Nr. 2: Ausdehnungs- Entwicklungskrise).
†¢†¢†¢
Als optimistischer Misanthrop kann ich mich nicht aufraffen, abolut gegen das Kaputtmachen zu protestieren. Nicht von ohngefähr werden die Mächte der Schöpfung und der Zerstörung bereits in den frühesten Menschheits-Zeugnisse ergänzt durch Mächte des Wandels.
Erstrebenswert erscheint mir, die Umsichtigkeit und Vorsicht gegenüber der Umwelt (sowohl Natur als auch Kultur) von neolithischen und feudalen Zivilisationen zu beachten, sowie aus den Katastrophen der Geschichte zu lernen, um den ungestümen Aktionismus der modernen Anstrengungsgemeinschaften im Zaum zu halten. Ein sich daraus ergebendes Paradox ist ja, allgemeine Hektik mit mobiler Geduld auszugleichen. --- An dem alten Marxisten-Dogma, daß alle Koflikte Auseinandersetzungen um materielle Grundlagen sind, ist was dran. Heutzutage finde ich das aber so besser formuliert:
Alle Konflikte sind Auseinandersetzung um Verwöhnungs-Ressourcen †¦ denn mit den Begriff Verwöhnung werden auch wesentliche Aspekte des guten Lebens nach dem der Mensch strebt beachtet - wie Intimität, Bedeutung, Sinnlichkeit, Kurzweil, Lust- und Machtbefriedigung usw. -, die bei einer Fixierung auf materiell-sachliches wie Territorium, Rohstoffe und Produktionsmittel fatal übersehen werden.
†¢†¢†¢
Dieser Beitrag ist schon wieder so lang geraten (was meine verkappte Art ist dem SF-Netzwerk-Forum und Euch ein Kompliment zu machen).
Über Sex und Gewalt deshalb ein andermal.
Nur soviel noch: besonders Yippies Gedanken über die Tabu-Praxis der Kulturindustrie fand ich sehr anregend. Und nein, zumindest ich kann mich nicht beklagen, daß Yippie zu moralisch war.
Ich bin Euch hoffentlich nicht zu politisch-grundsätzlich geworden und zu weit vom Thema abgetrudelt.
Ich nehm mir mal vor, über einige Gewaltdarstellungen aus meiner DVD-Sammlung und Kino-Erinnerung zu berichten. Ich fand alle hier dargebrachten Erzählungen über Eure (oder Dritter) Reaktionen auf Szenen lesenswert und interessant.
Grüße
Alex / molosovsky
†¦ und unbedingt kucken: »Der schmale Grad« (The Thin Red Line) von Terrence Malick, mein derzeitigerLieblings-Kriegsfilm (zu meiner Haltung wegen der Unterscheidung von Kriegs- und Antikriegs-Film siehe erste Seite dieses Threads).
Sowie: »Team America: World Police«, eine brilliante Parodie auf das Genre der Rumsbums-Äktschnfilme von Bronson-Eastwood bis Bruckheimer-Silver. Beginnt schon damit, daß die Patrioten statt eines Natural Born Killers (Supersoldaten, archaische Kriegsführung) zur Lösung der Terroristenkrise unbedingt einen Natural Born Actor (Superlügner, moderne Kriegsführung) anheuern müssen.
Bearbeitet von molosovsky, 16 Januar 2005 - 15:36.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#33
Geschrieben 17 Januar 2005 - 12:06
Die vorschnellen Rufe nach Zensur bei Gewaltdarstellungen halte ich auch für überzogen; daher auch meine vorsichtige Formulierung eines "unguten Gefühls". Man darf aber nicht vergessen, daß diese Darstellungen hauptsächlich in kommerziellen Produkten stark zunehmen, deren Produzenten ich wegen des ökonomischen Druckes nur ein eingeschränkes Verantwortungsgefühl zutraue. Die "Verdinglichung" ist m.E. nur eine spezifische Form einer allgemeinen "Entfremdung des Menschenbildes". Dabei spielt die Abstraktion eine wichtige Rolle. Soziologen/Psychologen haben herausgefunden, daß spontanes Mitleid nur für Individuen und kleine Gruppen von Menschen empfunden wird. Ich halte es für denkbar, daß durch eine zunehmende Abstraktion auch dieser Basismechanismus des menschlichen Zusammenlebens abgeschwächt wird. Gruß, KonradAls Kunstmensch beanspruche natürlich weitestgehende Ausdrucks- und Inhaltsfreiheit. Fatal finde ich es immer, wenn diese Freiheit eingeschränkt werden soll, weil es an verantwortungsvollen Geschick bei der Koordination von Stimmungs-Wettermacherei in der jeweiligen menschlichen Gemeinschaft mangelt. Man beachte dazu, daß wir in der Ersten Welt seit Ende des zweiten Weltkrieges größtenteils lediglich medial ausgetragene Wahrheits-Konflikte (Kalter Krieg, Infowar, »wirtschaftliche und soziale Globalisierung«) erleben, während die handfesten bellezistischen Konflikte klassischer Prägung (mit fließendem Blut und strategischer Lebenswelt-Zerstörung) weiterhin woanders stattfinden.
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