Seufz! Ich kann nur sagen: ps: Schön, dass Du für mich hoffst.Helmut Krausser {UC-Ultrachronos}, Hermann Melville {Moby-Dick}, Douglas Coupland {Microserves} und John Irving {Zirkuskind} - und für Erzählungen/Kurzgeschichten: Saki, Rudyard Kipling, Dashiell Hammett und Arno Schmidt).
Was ist gute SF?
#31
Geschrieben 10 Mrz 2004 - 22:11
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#32
Geschrieben 18 Mrz 2004 - 22:13
Hallo zusammen.
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(Zur Einstimmung)
The mirrors of the gigantic shadows which futurity casts upon the present†¦ - P. B. Shelly: The Defence of Poetry
{Die Spiegelbilder der riesenhaften Schatten, welche die Zukunft auf die Gegenwart wirft†¦} - Eröffnungszitat von Brian W. Aldiss »Der Milliarden Jahre Traum« (leider vergriffen).
Ich habe mir bisher nie die Mühe gemacht, meine einzelnen Geschmacks-Urteile als zusammenhängendes Gebilde zu betrachten: kurz, meine Poetik zu formulieren. Aber eine Auseinandersetzung um die Bestimmung was gute SF ausmacht erscheint mir der Mühe wert, und so stöberte ich in den letzten Tagen, was denn bisher an brauchbaren Bestimmungsversuchen in meiner Bibliothek zu finden ist.
Ein kleiner Vortrag von Umberto Eco (gehalten auf einer Tagung 1984) kam mr ins Gedächtnis, und ich habe ihn herausgesucht, wiedergelesen und eine Zusammenfassung geschrieben, die ich nun vorstellen möchte ( - bitte nicht jammern und zürnen, der Originaltext ist immerhin neun Seiten lang und hat viel mehr komische Fremdwörter):
»Die Welten der Science Fiction« in Über Spiegel und andere Phänomene (dtv, 1990, S. 214 ff) - In {eckigen Klammern} stehen Gedanken/Ergänzungen von mir, alles andere ist Inhalt des besagten Vortrags.
(ECO ANFANG)
Eco stellt erstmal klar, daß jedes erzählende Werk eine mögliche Welt konstruiert, verglichen mir der realen, wirklichen, normalen Welt in der wir leben, zu leben meinen, wie sie durch den Gemeinverstand, die kulturelle Enzyklopädie definiert wird. {Kulturelle Enzyklopädie: Damit ist das gesamte kursierende Wissen über die Welt gemeint, von entzifferten babylonischen Keilschriften bis hin zur Auskunft eines Menschen, den wir in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen. Als Individuum hat man selber übern Daumen nur ein Zehntel eigenes Wissen über die Welt, und verläßt sich ansonsten zu neun Zehnteln auf die kulturelle Enzyklopädie. Wer aus dieser Liste noch nie in Frankreich oder England war und dennoch falsch ruft, wenn jemand behauptet, der Eifelturm stünde in London und der Trafalgar Square läge neben dem Louvre, vertraut offensichtlich auf die kulturelle Enzyklopädie. Aber z.B. Moulder tut das - wie Akte-X-Fans wissen - weniger häufig.}
Seit Alters her nun gibt es laut Eco eine realistische Erzähltradition und eine Gegentendenz, die das Konstruieren von möglichen Welten eben strukurell betreibt.
- Realistisch illustriert Eco durch die Frage: » Was würde geschehen, wenn in einer biologisch, kosmologisch und gesellschaftlich ähnlichen Welt wie der unseren Dinge geschähen, die zwar nicht faktisch geschehen sind, aber die ihrer {der realen Welt} Logik nicht wiedersprechen.« {Die Welten von Hannibal Lector, Commisario Brunetti, Franz Biberkopf, Annie Wilkes aus Stephen Kings »Sie« usw.};
- und phantastisch durch diese Frage: »Was würde geschehen, wenn die wirkliche Welt nicht so wäre, wie sie ist, wenn also ihre Struktur anders wäre?«, wobei als beachtete, bearbeitete Struktur gemeint sein kann z.B. kosmologische Struktur (sprechende Tiere, belebte Gegenstände, Dimensionslöcher allerorten) oder soziale Struktur (Idealgesellschaft wie bei Morus, Bacon, Marx), usw .
Nun unternimmt Eco eine - wie ich finde - sehr einfache und doch griffige Einteilung der Phantastik, in folgende vier Wege:
1. ALLOTOPIE: Hier wird unsere gegenwärtige Welt als tatsächlich andersartig geschildert; Tiere können sprechen, oder es gibt Magie, Zauberer, Feen, Geister ect.. Eco beobachtet, daß wenn eine solche Welt erst einmal vorgestellt ist, zumeist nur noch der allegorische Bezug zur realen Welt beachtet wird. {Beispiele: Watership Down, Harry Potter, Dracula, Neverwhere, Fool on the Hill, Friedhof der Kuscheltiere†¦}
2. UTOPIE : Hier wird geschildert wie die Welt sein sollte {und Umkehrung: Dysopie}; utopische Welt ist irgendwo, vielleicht parallel zu unserer Welt, an fernen Ort, Vergangenheit, Zukunft †¦ normalerweise schwer zu erreichen von unserer Welt (Erehwon, Atlantis), wenn überhaupt. {Beispiele: Utopia, 1984, Brave New World, Robo-Cop 1., Mittelerde.}
3. UCHRONIE: Entwirft mögliche Welten nach folgender Frage: »Was wäre geschehen, wenn das, was wirklich geschehen ist, anders geschehen wäre?«, z.B. {Bush der Zweite die Wahl 2000 nicht gewonnen, oder} Julius Cäsar die Iden des März überlebt hätte. Seitenhieb Ecos auf Verschwörungstheorien: Wir haben sehr schöne Beispiele von uchronischer Historiographie zum bessern Verstädnnis der Ereignisse, aus denen die aktuelle Geschichte hervorgegangen ist. - (Eco berichtet in späteren Texten von interessanten Begegnungen mit Lesern, die seinen Roman »Das Foucaultsche Pendel« für bare Münzen nahmen.} Beispiele: Vaterland, Oscar Wilde im Wilden Westen, Morbus Kitahara†¦
4. METATOPIE / METACHRONIE: Hier wird die mögliche Welt als künftige Phase der wirklichen Welt von heute entworfen. Ausgenommen solche Zukunftswelten die eigetlich Weiterführung der Gothic Novel oder der Romance sind (statt Burgen und Drachen nun Raumschiffe und Blobs), oder unter Allotopie besser aufgehoben sind. {Beispiele: Flash Gordon, Star Wars, Matrix.}
Eco grenzt ab und wird genauer : SF nimmt stets die Form einer Antizipation an, und die Antizipation kleidet sich stets in die Form einer Konjektur, die anhand realer Tendenzen der wirklichen Welt formuliert wird. Die Science der SF kann dabei eben nicht nur naturwissenschaftlich (sprich: technisch), sondern auch humanwissenschaftlich (z.B. Linguistik, Sozial- und Kulturwissenschaften) sein; über die SF als erzählendes Spiel auf dem Wesenskern der Wissenschaft: dem Konjektivverfahren. {Konjektur: 1. Vermutung (veraltet); 2. mutmaßlich richtige Lesart; Textverbesserung bei schlecht lesbaren Texten.}
- Beispiel Isaac Newton: Solange er seine Konjektur/Vermutung/Hypothese nicht auf die Probe stellt, bleibt sein Gravitationsgesetz das Gesetz einer möglichen Welt.
- Beispiel Pierce (Semiotik-Pionier): Auf einem Tisch liegt ne Handvoll weißer Bohnen, daneben ein kleines Säckchen; Konjektur orientiert sich an abzeichnender Plausibilität (= organische Form die eine mögliche Welt annimmt): »In dem Säckchen werden sich noch mehr weiße Bohnen befinden.« Dies bleibt eine Aussage über eine mögliche Welt, bis man im Säckchen nachschaut und feststellt, ob sich wirklich weitere Bohnen darin befinden {oder doch herausgebrochene Goldzähne vom einem nahen Schlachtfeld}.
Diese Art in möglichen Welten zu denken zeichnet auch Philosophen, Detektive, Psychoanalytiker, Historiker (und viele mehr) aus. Angesichts des Beispiels von Pierce aber lautet die Frage der SF: (Der Tisch wird als leer angenommen) »Was würde geschehen, wenn auf dem Tisch eine Handvoll Bohnen läge?«, oder besser noch: eine Handvoll kleine grüne Außerirdische. {Ja, Eco führt wirklich solche Gedankenspäße auf.}
Eco erläutert die umgekehrte Symmetrie von Wissenschaft und SF:
- Wissenschaft muß ein mögliches Gesetz (Theorie) aufgrund wirklicher Befunde (Beobachtungen, Messungen, Fakten) entwerfen.
- Von möglichen Befunden (Replikanten, Klone, Künstliche Intelligenzen) ausgehend, kann die SF versuchen wirkliche Gesetze (Menschlich ist†¦ z.B. das Mitgefühl?) zu finden.
Kurz gesagt: wo die Wissenschaft ihre möglichen Welten irgendwann verifizieren/falsifizieren muß, kann die SF (und Phantastik) dies ins Unendliche vertagen.
Zum Ende macht Eco auf die Fälle gegenseitiger Befruchtung und Verwandschaft von Wissenschaft und SF aufmerksam:
- daß z.B. Orwell mit der 1984-Zukunft warnt, die mögliche Welt zeigt sich als ein abschreckender Leichnam eines dann schon gestorbenen Patienten;
- daß es den Moment gibt, wo der Unterschied zwischen forschender Intelligenz und künstlerischer Intuition verschwindet;
- und schließt damit, daß die SF ein lebendes Beispiel der Verwandschaft von Phantasie und Wissenschaft ist.
(ECO ENDE)
Für mich ergibt das als bisher klar ausgemachtes Kriterium zur Bestimmung guter SF:
die Plausibilität der aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierten möglichen Welt; oder ungeschwurbelt: in der realen Welt vorliegende Entwicklungen weiterdenken und eine stimmige Geschichte erzählen - wobei stimmig hier als Platzhalter dient, der in weitern Gedanken - die den Geschmack bezüglich Stil, Sprache und Form betreffen - festgemacht werden müßte.
Soweit als Beitrag fürs Gehirnstürmen zur gestellten Frage. Zumindest meinem Empfinden nach wäre es Wahnsinn, wenn sich Zusammenfassungen weiterer lohnend anmutender Bestimmungsversuche hier einfinden.
Grüße
molosovsky
Bearbeitet von molosovsky, 18 Mrz 2004 - 22:16.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#33
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 08:45
Bearbeitet von tichy, 19 Mrz 2004 - 08:48.
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#34
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 12:18
schneller gelesen als das Licht? †¦ denn wo der Eco-Text zu finden ist habe ich erwähnt: »Über Spiegel und andere Phänomene«, erhältlich bei dtv.
Tja, daß Stanislaw auf keinen rechten Nenner für die Bestimmung von guter SF kommt, hätte ich vermutet; daß er mehr Schubladen zum Einteilen findet, ebenfalls. - Nicht hauen jetzt, ich bin großer Lem-Freund.
Aber wandeln wir die Aussage von Lem in ein Kriterium um:
Im Zweifel sind SF-Werke, die das Produkt einer intelligenzlosen Phantasie sind faszinierender, wohingegen Produkte einer phantasielosen Intelligenz (grundsätzlich) langweiliger sind.
Also ich fände dies eine gar nicht so schlechtes zweites Kriterium. Dieses Kriterium ist vielleicht ehr ein Meßinstrument der Leser, die zuvörderst nach dem Unterhaltungswert in einem Werk suchen, aber hey - zu der Fraktion zähle ich mich auch.
Und nochmal: Phantasie kommt vom griechischen: sehen lassen, sehen machen. Also eigentlich redet man immer über das Vermögen: a) die selbst etwas vorstellen zu können, b) dieses selbst Vorgestellte wiedergeben zu können auf eine Weise, daß c) jemand dadurch an der Welt etwas bemerkt, etwas für ihn sichtbar wird, das er zuvor nicht gesehen hat.
Ganz einfaches Beispiel anhand der Frage: Wie sieht Schneewittchen aus?, immerhin die Schönste im ganzen Reich: Ihr Haar ist schwarz wie Ebenholz, ihre Lippen rot wie Blut und ihre Haut weiß wie Schnee. - Ich finde, daß, wenn man sich dies vor Augen vorzustellen versucht, man wirklich eine sehr lebhafte Idee von einer schönen Frau bekommt.
Ich siebe derzeit einige mögliche Kriterien aus einem äußerst dichten und etwas umständlichen Essay von Marcus Hammerschmitt und treibe mich weiter bei Onkel Eco (nicht Enzo) herum. - Meine Vermutung geht dahin, daß man mal auf den Autor-Leser-Vetrag gucken muß, und dann (nicht nur SF betreffend) zu ganz brauchbaren Kriterien kommen kann.
Weitere Schubladeneinteilung fände zumindest ich interessant und würde sie auch gerne hier lesen (obwohl das vielleicht eine Sammel- Diskussionsecke für sich vertragen könnte). Aber unter die 4 Wege wie oben bei Eco beschrieben, läßt sich sich wirklich die ganze Phantastik aufsortieren. Klassifizierungen sind immer karger, als dann die Artenvielfalt und man darf nicht übersehen, daß es zu Mischformen kommt. Alleine alle Zeitreisegeschichten die eine zukünftige Welt beschreiben, dann im Laufe der Geschichte in die Vergangenheit schwenken, dort Geschehnisse verändern und in eine veränderte Zukunft zurückfinden, können eine Mischung aus Metachronie und Uchronie sein, oder einfach nur Allotopie. In Wells klassischer Zeitmaschinen-Geschichte reist ja der Protag von der Gegenwart in die Zukunft: Utopie und Metachronie. - Und es gibt auch immer die Umkehrformen: ich habe da nur die Dysopie näher erwähnt.
Grüße
molosovsky
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#35
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 12:34
#36
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 15:28
Jaja schon -- ich dachte, vielleicht ist der Auftrag ja irgendwo im Internet zu lesen. Könnte ja sein, bei einem Umfang von 9 Seiten. P&F1 habe ich jetzt durch und will am Wochenende den Versuch einer Zusammenfassung wagen. -- tichyschneller gelesen als das Licht? †¦ denn wo der Eco-Text zu finden ist habe ich erwähnt
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#37
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 16:02
Na da bin ich echt gespannt. Viel Vergnügen! TrurlP&F1 habe ich jetzt durch und will am Wochenende den Versuch einer Zusammenfassung wagen.
Bearbeitet von Trurl, 19 Mrz 2004 - 16:02.
Wie die Welt noch einmal davonkam, aus Stanislaw Lem Kyberiade
- • (Buch) gerade am lesen:Jeff VanderMeer - Autorität
- • (Buch) als nächstes geplant:Jeff VanderMeer - Akzeptanz
-
• (Buch) Neuerwerbung: Ramez Naam - Crux, Joe R. Lansdale - Blutiges Echo
-
• (Film) gerade gesehen: Mission Impossible - Rogue Nation
#38
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 16:26
Ja, es gibt Aufgaben, an denen man nur scheitern kann. Aber ich werde versuchen, mit Würde zu scheitern! -- tichyNa da bin ich echt gespannt. Viel Vergnügen!
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#39
Geschrieben 19 Mrz 2004 - 19:45
zu dyke, tichy & Trurl: vielen Dank für die Sympathie, das Dabeibleiben und Mitmachen bei diesem Bestimmungsversuch was gute SF sei.
Natürlich ist dieses Unternehmen vollkommen müßig, aber mit entsprechender Vorsicht und Spaß an der Freud ist es denke ich fast schon eine Notwendigkeit, Geschmacks-Urteile im Zusammenghang zu denken. Mit Eco und hoffentlich folgenden weiteren Zusammenfassungen von bisherigen Bestimmungsversuchen zur SF werden hier ja erstmal vorsichtig Gerüste zum Klettern aufgebaut.
zu dyke: Danke für den Hinweis auf das Lexikon. Das Ausklammern von SF und Fantasy aus der Phantastik wie Zondergeld es nach Deinem Bericht macht, erscheint mir in der Tat mehr als kurios. - Stellt er da so einen Mülleimer hin auf dem Kulturindustrie (Kusch ins Eck, du Trivialliteratur du) steht und schmeißt dort so ungefähr alles hinein, was seit ca. 100 Jahren die Vorstellung der Bevölkerung kolonisiert? †¦ muß ich mir unbedingt anschaun, diesen Zondergeld.
zu tichy: Aufgaben angehen an denen man nur mit Würde scheitern kann †¦ Yes, das ist die richtige Haltung. - Läßt sich auch auf die SF und Phantastik übertragen. Die Zukunftsvisionen von gestern sind größtenteils die Lachkabinette von heute (nochmal Seitenhieb auf: Flash Gordon). - Bin schon gespannt, denn Phan&Futur* von Lem steht schon lange auf meiner »will ich haben«-Liste.
Ich mach mich jetzt ans Kleinzippen vom Hammerschmitt-Essay.
Grüße
molosovsky (oder Alex, wer nicht so viel Buchgestab klappern mag)
(*) mögliche Phonetik dieser Koseform: »Fun and Futur«.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#40
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 01:49
Vor einem Jahr las ich den Aufsatz White Light / White Heat - Science-Fiction und das Veralten der Zukunft von Marcus Hammerschmitt (zu finden in »Der Glasmensch«, Suhrkamp, S. 173ff) aus dem Jahr 1995.
Hat mich ziemlich schwindlig gemacht vor lauter zustimmenden Nicken, aber bisher ich habe es bisher nicht geschafft, diese 16 Seiten (9 Abschnitte) wirklich zu überblicken. Hammerschmitt bietet einen kenntnisreichen Rundumblick die SF an, Avantgarde genauso im Visier, wie die massentauglichen Serialien. Dabei formuliert er zuweilen etwas komplex, da er sich bemüht eine kritische Reflektion der SF mit einer Verteidugung derselben zu verschmelzen.
Die Anmerkungen in {eckigen Klammern} sind wieder meine, der Rest stammt aus dem Essay.
(HAMMERSCHMITT ANFANG)
1. Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann. {Schon mal sehr in meinem Sinne}
Über Bruce Sterlings Wort vom SF-Autoren als Hofnarren und dessen Beziehung zum Herrscher; in drei Fälen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; b) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. {Das sind ja ganz hervorragende Kriterien zur Qualitätsbestimmung. Vor allem wegen c) nöle ich oft.} - Woran soll der Hofnarr seine Zunge wetzen, wenn dem Herrscher die Gemeinheiten ausgehen?
2. Herausforderung für den Traum der SF: die technische Entwicklung ist dem Menschen weiter voraus, als dem guttut. Zwang der SF immer wieder dasselbe zu sagen, ist Reaktion auf beständiges bequemes Lügen der Massenmedien und Politiker, man hätte die technische Entwicklung schon im Griff. SF bietet da konsumierbare Katastrophen, aber nur selten wird der Rand hin zu unsagbarem Terror des schlechthin Unbekannten erreicht.
3. Die SF ist kindisch und das verleiht ihr große Kraft. Der kleine Professor {Bill Atersons Calivin und seine Zeitmaschine} verglichen mit dem großen Professor (Otto Hahn, Edward Teller). Der überzeugende Bluff der SF entspricht der Auftritt vom Hofnarren in den Gewändern des Herrschers †¦ Aussage der SF dabei: Alle Geschichten bereits mit dem ersten durch Faustkeil erschlagenen Neandertaler erzählt.
4. Die Stadt als eigentlicher Schauplatz der SF {erscheint mir doch etwas willkürlich einseitig}. Schilderung der Stadt als ein durch die Mittel der Technik ermöglichter Lebensraum entweder als a) trivialer Illusionismus, oder als b) schnodderige Punk-Kolportage. Über Wüste als das Biotop des einsamen elektronischen Cowboys (Lohngangster), dieser als Zeichen einer ermüdenden Technik, die ihre Niederlage nicht eingestehen will, weil die Puppen noch tanzen.
5. Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit {wer ist schon frei davon? Hammerschmitt selbst offenbar auch nicht ganz}, Ablehnung der Unterhaltungskultur {Adronos Eisenkugel}. Bis Ende der Schzigerjahre wird Grass mißtrauisch beäugt. SF wird verschmäht aber heimlich unter der Bettdecke verschlungen. Amerikanisierung {Einzug der Kulturindustrie} in Deutschland nur bezüglich Fernseh- und Essensgewohnheiten. Deutsche Literatur sorgt weiterhin überwiegend für Kopf- und Bauchweh, exzellentes kommt in schlechter Übersetzung aus Amerika {naja, ich bevorzuge die Herrn Engländer.}
6. Weißes Glühen sich entfaltenden technologischen Fortschritts zeichnet gute SF-Texte aus (Hammerschmitt offenbart sich als Hard-SFler}. Schaudern über posthumane Eigenschaften dieses Glühens = nicht intergrierte Technik. Die Versuche mit den wandernden Taugenichtsen der Romantik die Technik in den den Traum zurückzuholen und Versuch automatisierte Welt zu verstehen sind mißlungen.
Geräte spielen in SF Hauptrollen, dazu Vergleiche mit Western- und Krimiheld (Knarre, Brief, Geheimdokument, Zigarette). Über Entenhausen als kleinster gemeinsamer Nenner bezüglich Umgang mit Dingen.
Scheitert Technikrezeption rückt Körper zum Thema auf. Körper hat Technik nur seine eigene Gesundheit entgegenzusetzten, ansonsten ist er unterlegen †¦ Mißverhältnis der behäbigen Natur zur hektischen Technik offenbart Körper als einstmalig bewohnte Behausung der Seele.
7. Über Sekten (Hubbard & Co.) als Allianzen von SF mit den Zuständen, die der SF ihre Stoffe liefert. Adornozitat: wir leben in einer Welt, die krasseste Paranoia rechtfertigt, weil sie sie wahr macht. Im High-Tech-Disneyland schießen die Westworld-Roboter scharf.
8. Enge Nachbarschaft der SF zu Sympathie mit dem Menschen und dem Terror, den der Mensch gegen sich selbst entfesseln kann; dies lößt Unbehagen aus (Blick in Teufelsküche) und läßt staunen, daß SF vorhersagen kann.
Dazu Glühbrinen-Eddison: ihr ahnt nicht die Nähe von Konstruieren und Schreiben {siehe Eco-Zusammenfassung: Konjekturverfahren}. Über Nimbus der SF als Mahner und Seher †¦ aber aus neuen Technologien neue {mögliche} Katastrophen zu spinnen ist der Job eines phantastischen Autors, keine Hellseherei.
9. Technik wird abgelehnt, wenn Rückholung des natürlichen Bewußtseins angestrebt {natürliches Bewußtsein ist ein ganz heikler Begriff}. Frauen mögen keine SF; Konkurrenz zwischen (männlichen) Fortpflanzungstechnikern und selber gebähren könnenden Frauen (Hüterinnen der Natur), bis hin zu zukünftigen Feministischen Terrorismus.
Technik von Gestern wird heute der Lächerlichkeit preisgegeben, doch Kafka sagt: Forschrittsglauben kann doch nicht annehmen, daß Fortschritt schon stattgefunden hat, sonst hieße es ja nicht glauben.
Eines Sinnes sind: a) arrogantes Staunen über (technische) Errungenschaften der Vergangenheit, und b) Enttäuschung darüber, daß bisher Technik das vom Menschen geliehene Leben nicht zurückerstattet hat (und das kurz vorm Milleniumswechsel, ooch). Den Verfechtern einer Aszendenz-Theorie der Geschichte {Mythos vom Zivilisationsprozess, siehe Gegensatz Norbert Elias/H.P. Duerr} entgegnet SF trotzig: Geschichte hat noch gar nicht stattgefunden. †¦ das läßt die SF aber unzuträglich ernst erscheinen, was dem Hofnarren nicht gut steht.
SF also vornehmlich paradox, weil sie einerseits verkündet, daß nichts Neues unter der Sonne geschieht, andererseits aber schildert, was in der Zukunft noch geschehen muß.
(HAMMERSCHMITT ENDE)
Mein Eindrücke dazu: Die Beobachtung der Stadt als eigentlicher Schauplatz und Gegenständen als Hauptakteure finde ich zu stark betont: da bekomme ich gleich Lust mir eine Provinz-SF auszumalen in Holzhütten, wo Leute sich nur menschliche Belange erzählen {die Prä-Cogs in Spielbergs »Minority Report« am Schluß}. Hammerschmitt übersieht dabei die Kolonie, die Forschungsstation und schließlich das Raumschiff (oder ähnliches), sprich: die Technik als Überlebens-Zelle in unwirtlicher Umwelt, in Verlängerung der Symbiose Mensch/Pferd zu Centaur (Mensch/Auto zu organischem Gefährt †¦ siehe Babylon 5 Schattenschiffe, Borg bei TNG ff}. Hammerschmitt stellt zwar auch mal fest, daß die positiven Utopien der SF selten und meist schwachbrüstig sind, ist aber selber fixiert auf die Dialektik Technik-Mensch-Natur †¦ den Kultur- und Zivilisdationspessimismus teile ich aber weitestgehend.
Interessant die Aussage über Frauen die keine SF mögen, denn das scheint mir (zumindest tendenziell) wirklich so zu sein. Solage also SF vornehmlich von einem Geschlecht bevorzugt wird, ist sie verbesserungsfähig (so verstehe ich Emanzipation), was ein vorrübergehendes Kriterium für gute SF abgibt. Allgemeiner: Gute SF befriedigt den SF-Kenner einerseits, verschreckt andererseits den SF-Unbedarften nicht und unterhält beide.
Aus der Überschrift und dem Hauptthema von Hammerschmitts Essay entnehme ich ein weiteres neues Kriterium für gute SF: Die aus der Gegenwart extrapolierte Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln, wenn sie ernst gemeint ist. - Wenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die Qualität der SF des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
Der ganzen äußerst kritischen und leicht fatalistischen Haltung von Hammerschmitt extrahiere ich desweiteren die erstrebenswerte Qualität: Versuche die Versöhnung von Technik und Mensch zu unterstützen., denn daß deren Verhältnis arg unharmonisch ist, liegt auf der Hand {siehe: »Le monde diplomatique Atlas der Globalisierung«}.
Soweit dieses. Als nächstes knöpfe ich mir wieder was von Eco vor und zwischenzeitlich habe ich den ehr unfruchtbaren Text »Die Ordnung der Unordnung« von Dieter Penning in »Phantastik in Literatur und Kunst« Hrsg. von Christian W. Thomson und Jens Malte Fischer (WBD, 1980) gelesen. Ich sag nur psychoanalytischer und sozialkritischer Ansatz †¦ Gähn.
Grüße
molosovsky
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#42
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 12:39
Ein klares: Jein. Niemand verbietet der "ernsten Literatur", mit Außerirdischen zu spielen (Schlachthof 5) oder sogar Roman.Musicals zu schreiben, in denen Klöster getarnte Ninja-Killer-Ausbildungsstätten sind: Pynchons VINELAND. Auch ist es nicht "verboten", Wissenschaft einzubauen, seien es Geisteswissenschaften (wenn ich mich nicht irre: Thomas Mann, Dr. Faustus???) oder Naturwissenschaften: Houellebecq, Elementarteilchen... Ich sehe da kein "Mehr" in einer Genreliteratur. Eher ein "weniger" durch die Begrenzung. Wenn es nämlich nicht in die Schublade passt, dann hat es der Text ziemlisch schwer, nicht Alwo?1. Eröffnungssatz: Die SF hat heute Möglichkeiten, von denen die sogenannte ernste Literatur nur träumen kann.
Hah, ich empfinde das Gegenteil als Schwäche - nämlich die Oberflächlichkeit - nicht nur in der deutschen SF.Schwäche der deutschen SF: Hang zur Tiefgründigkeit
Bedeutet das, dass ein Buch dann schlechte SF, aber dennoch ein wunderbares Buch sein kann? Ich bin mir nicht sicher, ob ich solche Kriterien für wirklich brauchbar halte. Man kann natürlich Laßwitz aus der Sicht diverser Genres betrachten: Mann, der schreibt aber schlechte Krimis! Mag daran liegen, dass er, soweit ich weiss, keine Krimis geschrieben hat. Oder aber: Mann, die SF "darin" ist aber lachhaft, weil veraltet... Aber ist das wirklich wichtig für eine Bewertung eines Textes? Natürlich, hier geht es um die Bewertung von SF speziell. Aber ich versuche mit eigentlich solches Schubladendenken abzugewöhnen. Ich finde die Frage wichtiger, ob ein Buch gut "ist" oder nicht, als, ob ein Buch gute SF ist oder nicht. Denn was unterscheidet gute SF von guter Literatur? Am Ende doch nur eine genrespezifische Ausdrucksform. Letztendlich unbestimmbare Motive und Sujets, da sie genauso in anderen Genres auftauchen können. Man kann höchstens darüber streiten, ob ein Raumschiff schon SF macht. Ob ein Alien schon SF macht. Aber auch das ist ziemlich unergiebig, denke ich. Da möchte ich doch mal auf Vonneguts Text verweisen mit dem Titel "Science Fiction" (1965), veröffentlicht in seinem Buch DAS NUDELWERK. Hier schreibt er im ersten Absatz über "einen Roman [den er schrieb] über Menschen und Maschinen, in dem die Maschinen, wie es so geht, häufig besser wegkamen". Gemeint ist DAS HÖLLISCHE SYSTEM. Kritiker sagten, das sei SF. Vonnegut: "Das hatte ich nicht gewußt. Nach meiner Meinung hatte ich einen Roman über das Leben geschrieben, über das, was man so sieht und hört in Schenectady, einer handfesten Industriestadt, die linkisch im miesen Hier und Heute steht. Und seitdem steck ich zähneknirschend im Schubfach ,Science Fiction' und will da raus, zumal es manchen seriösen Kritikern als Pißbecken herhalten muß." Vonnegut meint, dass scheinbar jeder, der Technik zur Kenntnis nimmt, in das SF-Fach gesteckt wird. Er kennt durchaus Leute, die "sich mit Wonne als Sciene-Fiction-Autoren eingeordnet finden und nur mit Schaudern an den Tag denken, wo sie schlicht als Kurzgeschichtenschreiber oder Romanautoren gelten, die auch mal auf technische und wissenschaftliche Dinge zu sprechen kommen". Sf-Autoren haben nämlich ihre Kongresse, ihre Fans und ihre Kollegen, mit denen sie rege Korrespondenz hegen und Sauftouren machen... "Ich habe mich ein bißchen mit ihnen herumgetrieben, und es sind nette, amüsante Kerle, aber jetzt muß ich eine Wahrheit über sie aussprechen, bei der sie steilan die Decke gehen: Es sind Herdenmenschen. Sie bilden eine Art Loge. Wenn sie nicht so viel Spaß an ihrem eigenen Verein hätten, gäbe es die Kategorie Science Fiction nicht. Sie schlagen sich ganze Nächte um die Ohren und debattieren, ,Was ist Science Fiction wirklich?' Genauso sinnvoll könnte man erörtern, ,Was sind Rotarier? Was ist der internationale Orden der Guttempler?'" Dann lässt er sich ein wenig darüber aus, dass (übertrieben gesagt) in nur noch in SF-Magazinen jeder Schund und literarische Scheiß gedruckt wird; aber er "relativiert" ;-) "Geschmacklosigkeit auf diesem Gebiet muß man anderen [als den Herausgebern] vorwerfen - 75 Prozent der Schreiber und 95 Prozent der Leser, und nicht einmal Geschmacklosigkeit, sondern, daß sie kindisch geblieben sind." Also das Gegenteil von Hammerschmitt? Der sieht den Vorteil im "Kindbleiben" der SF? Er erzählt davon, wie er Lehrer war und seine pickligen Schüler auf SF standen. "Die meisten von ihnen haben doch ihren Oberschul-Abschluß geschafft. Und viele lesen jetzt mit heißen Ohren über Zukünfte, Gegenwarten und Vergangenheiten, mit denen niemand zu Rande kommt - 1984, UNSICHTBAR, MADAME BOVARY. Besonders scharf sind sie auf Kafka. Science-Fiction-Verfechter werden sagen: ,Klar! Orwell und Ellison und Flaubert und Kafka waren doch Science-Fiction-Autoren!' Sowas sagen die oft. Manche entblöden sich nicht, sogar Tolstoi einzigemeinden." Dann schreibt er darüber, dass die Verleger und Herausgeber von SF alle sehr gescheit sind und das Schlechte nur drucken, weil so wenig Gutes zu finden ist. Dann lobt er das, denn ab und an sind dazwischen einige "der besten Werke" in Amerika. "Und diese paar wirklich glänzenden Geschichten erscheinen bei ihnen trotz mieser Honorare und einem völlig unreifen Publikum nur, weil die künstliche Kategorie, das Schubfach Science Fiction, für manchen guten Schriftsteller immer Heimat bleiben wird. Diese Schriftsteller sind inzwischen älter geworden und dürfen Große Alte Männer genannt werden. Denn Ehrungen bekommen sie, ihre Loge überschüttet sie damit. Und mit Liebe. Aber die Loge wird zerfallen. Das passiert allen früher pder später. Und dann werden immer mehr Autoren aus dem ,Mainstream' (so heißt in der Science-Fiction-Szene die Welt außerhalb des eigenen Schubfachs) Technik in ihr Erzählen aufnehmen oder ihr zumindest den Respekt zollen, der einer bösen Stiefmutter gebührt. Unterdessen: Falls Sie Geschichten schreiben, bei denen es an Dialog, Motivierung, Charakterzeichnung und gesunden Menschenverstand noch hapert, seien Sie sich nicht zu schade, ein bißchen Physik oder Chemie hineinzurühren, vielleicht sogar Hexerei, und sie bei einem Science-Fiction-Magazin einzureichen." Grüße, RalphWenn also z.B. »Auf zwei Planeten« heute mehr unfreiwillige Komik als Abenteurluft verbreitet, ist das ein Minus für die Qualität der SF des Romans. Selbst wenn darin solche noch nicht erreichten technischen Wunderwerke auftauchen, wie sich selbst an der Decke in Schlitze und Fächer wegsortierende Klamotten.
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#43
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 13:47
Der Weitbrecht-Verlag hat 1998 eine erweiterte HC-Neu-Ausgabe herausgebracht. Sehr schön. habe sie gerade für 13 Euro (originalverschweißt) antiquarisch gekauft. Für den Bereich Phantastik absolut empfehlenswert. Nach der Einleitung von Zondergeld wird es wohl von ihm keine weitere aktualierte Ausgabe mehr geben. LG DykeWurde der Zondergeld eigentlich ergänzt? Ich habe nur eine Version von 1983 oder so...
#44
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 20:56
erstmal: Super Deine Zusammenfassung von Vonneguts »Das Nudelwerk«. Vonnegut (wie Pynchon) sind mir noch weitestgehend unbekannt. Diese beiden (wie auch Ruff) zeichnen sich durch eine gewisse Sonderstellung aus, denn sie haben definitiv Phantastik geschrieben, die teilweise viele Merkmale von SF auszeichnet, sie werden aber zumeist von der Genre-SF separiert †¦ seis aus eigener Motivation, oder der von Kritiern. Als semiotisch Herangehender schert mich das aber erstmal goor nüscht.
zu Deiner Bemerkung:
Ich rüge Hammerschmitt höchstens dafür, daß er diese Grenze zwischen dem Genre SF und der ernsten Literatur nicht selbst klar definiert, sondern scheinbar lediglich reagiert, den Spannung Feuilliton/Fandom Ausdruck verleiht; ich mag halt seine provokante Umkehrung der Aussage »SF ist trivial und hinkt im Anspruch der hohen Literatur deshalb hinterher[/b] †¦Ich sehe da kein "Mehr" in einer Genreliteratur. Eher ein "weniger" durch die Begrenzung. Wenn es nämlich nicht in die Schublade passt, dann hat es der Text ziemlisch schwer, nicht Alwo?
Ich schätze Hammerschmitts Essay als eine ganz gute Stimmungsschau der SF. Um aber zu klären, wann SF (Metachronie / Metatopie) vorliegt, habe ich mich deshalb auch an Eco orientiert.
Natürlich muß ich dem widersprechen, wenn mein derzeitiges Bemühen in Richtung »Suche nach objetiven Merkmalen zu Bestimmung von Qualität in der SF« geht. Mit Deiner trigonometrischen Vermessung (emotionelle, intellektuelle und handwerkliche Qualitäten zusammenspiegeln) verfolgst auch Du den Versuch der Objektivierung. Nichts ist rein †¦ außer mit Ariel gewaschene Wäsche : -)Was die Bewertung von Literatur angeht, bin ich ja nach wie vor der Meinung, dass es eine rein subjektive Sache ist.
Deinen Bericht über Herrn Vonnegut gibt einen guten Blick auf die Probleme der SF-Literatur, doch seine Probleme (oder die von Literaturkritiern) interessieren mich hier als Anzeiger für die Spannungen um die Bestimmung. Die Eco-Zusammenfassung (objektiver) ist erstmal mein Start, und laß Dich von dem Hammerschmitt (subjektiver) nicht auf falsche Fährte führen.
Interessant aber in der Tat: Kindbleiben bei Vonnegut abfällig, bei Hammerschmitt eigentlich neutral gemeint. - Ich selbst hege die Vermutung, daß Humor eine nicht unwesentliche Hilfe sowohl beim Schreiben als auch Lesen von SF ist, oder umgekehrt: viel SF verschenkt Haltungsnoten, weil sie einen zu ernsten Habitus an den Tag legt, für die Luftschlößer die sie errichten. Das soll noch kein ausformuliertes Qualitätskriterium sein, auch wenn die satirischen, komischen Elemente der hervorragenden SF eines Douglas Adams, Robert Shekley und auch P. K. Dick dazu anregen mögen.
Finde ich nicht unähnlich der oben von tichy zitierten Aussage von Lem über »intelligenzlose Phantasie« und »phantasielose Intelligenz«.Bedeutet das, dass ein Buch dann schlechte SF, aber dennoch ein wunderbares Buch sein kann?
Die Frage ist Gold wert, denn da kann ich mal klären: ich gebrauche den Begriff Literatur privat allgemein, als überliefertes und vorhandenes Schrifttum, einschließlich Wissenschaft, Musikpartituren und Keilschriften aus Babylon ect.; in diesem Thread beschränke ich mich allerdings auf narrative Texte (die anderen Medien wie Film, Spiel aber im Blick) noch und deren fiktionale Welten. Ergo: SF gehört zur Literatur, nur wird um SF viel Abgrenzerei betrieben und ich versuche zu klären, wie sinnvoll das ist und hoffe im Laufe dieser Klärung einige Dinge korrigieren zu können. Nur weil - sagen wir mal - Star Wars als SF verkauft wird, heißt das noch lange nicht, daß es sich hier um SF handelt (siehe Allotopie) †¦ und an aufschreckende Star Wars-Fans: Friede und langes Leben :-)Denn was unterscheidet gute SF von guter Literatur?
Grüße
molosovsky
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#45
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 21:14
sehr fein Deine Rezension zu Lems »Phantastik & Futurologie 1«. Ich hoffe es stört nicht, wenn ich hier darauf reagiere.
Hervorragend Deine geschlußfolgerten Regeln, nach denen Lem seinen Sachtext gestaltet hat. Ja, die Siebzigerjahre waren ein finsteres Zeitalter hermeneutischer Stilistik, und Akademiker pflegen ihre Marotten ebenso, wie Fandom-Spinner ihre Neurosen. Und: deshalb habe ich mich noch kaum mit dem ernsten Lem beschäftigt, bis auf: »Die Technologiefalle« (recht locker und verständlich geschrieben).
Zum Kapitel Sprache: Lems Einteilung ist mir vertraut. Ich orientiere mich aber hier an der Semiotik, die drei Blickwinkel kennt: a) Intenio Auctoris - die Absicht des Verfassers; hier beachtet man u.a. Absichtsaussagen und Biographie eines Autors; b) Intentio Lectoris - die Absicht des Lesers; hier beachtet man u.a. was Publikum das so interpretiert, wozu ein Text benutzt wird; und c) Intentio Operis - die Absicht des Textes, die man versucht unabhängig von a) und b) zu betrachten. Für manche ein strittiger Begriff, aber vielleicht akzeptabel, wenn man darunter das Bemühen versteht, die Funktionsweise der Sprache und die Zusammenhänge der über sie vermittelten Zeichen zu verstehen, Autor und Leser außen vorgelassen. Verständlich durch den Unterschied, wenn man fragt: »Was wollte der Autor bewirken?« und »Was bewirkt der Text tatsächlich?« (das deckt sich ja nicht immer zu 100 Pro. Beispiel aus der Filmwelt: Paul Verhoeven hatte sicher nicht die Absicht, daß durch »Starship Tropers« eine Welle junger Amerikaner begeistert zur Armee wollen. War aber so. Was hat er also verbockt, war macht seinen Film unklar, mißverständlich?)
Zur Klassifizierung: Problematisch finde ich die moralische Wertung von Märchen (eingebauter Automatismus zum Sieg des Guten), sowie die Behauptung, daß Fantasy die phantastischen Elemente (ich sag lieber: unserer realen Welt widersprechende kosmologische Strukturen) nicht (nie) in Frage stellt. Zumindest neue Werke wie Philip Pullmans »His Dark Materials«, Miévilles Bas-Lag-Romane wiederlegen das. Auch auf Pratchetts Scheibenwelt wird viel über die eigenen kosmologischen Strutur refelktiert und sogar Tolkiens Mittelerde ist zumindest grob ontologisch positioniert (was sogar recht bewußt geschah, doch ganz sicher bin ich da auch nicht, habe erst die Hälfte der »History of Middle-Earth« zu Hause).
Lems Unterscheidung der »nuklearen Operationen« finde ich recht gut, obwohl ich mit Spielstruktur hadere. Aber Spiel hat das was zu tun, nur vielleicht grundlegender als es Verfechter des Unterschiedes phantastisch/realistisch wahr haben möchten.
Lem streckt die Waffen, wenn er die subjektiv empfundene Qualität festlegen müßte. Ich vermute, daß er wie viele Intellektuelle seine Probleme damit hat, harte Logik und menschlicher Empfindung zusammenzudenken. Mögliche Auswege folgen mit meiner nächsten Zusammenfassung von Eco (»Mögliche Wälder« in »Im Wald der Fiktionen«, dtv 1996).
Lems Überlegungen zur Soziologie der SF klingen nicht unwahrscheinlich. Ich denke, daß auch ideolgische Gefechte in der SF und Phantastik selbst Turbulenzen und Minderungswirkung zeitigten: immerhin geht es hier um den Markt der Träume und Visionen.
Nicht die, aber eine bemerkenswerte EIgenschaft ist das von Lem und Dir erwähnte »Schillern« eines Kunstwerkeserkes, oder wie Lem es umständlich nennt: Polyinterpretierbarkeit, Simpeldeutsch Vieldeutigkeit oder reich an verschiednen plausiblen Betrachtungsweisen Die Fährte stimmt und darüber bring ich noch was.
Respekt für Deine Machetenschwingerei im Lembegriffsdschungel. Man sieht sich wieder auf der nächsten Lichtung.
Grüße
molosovsky
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#46
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 23:10
Ich scheine "Obejktivität" anders zu verstehen als Du. Vielleicht weil ich in erster Linie vom Konstruktivismus geprägt bin? Objektiv würde für mich bedeuten: losgelöst (unbeeinflusst) vom Subjekt. Meine Bewertung ist aber rein (!) subjektiv, da sie meiner subjektiven Einschätzung entspricht, die durch meine subjektiven Erfahrungen geprägt ist. Eine objektive Aussage ist meinem Verständnis nach eine Aussage, die allgemeingültig ist. Und mein Zweifel ist groß, dass man allgemeingültige Aussagen über Literatur geben kann (abgesehen von der Länge des Textes etc.). Für mich kann Vonnegut einer der größten Autoren überhaupt sein, für jemand anderen kann er der unbegnadeste Autor der Welt sein. Und es gibt keine objektive Realität, die eine der Aussagen als richtig oder falsch darstellen kann. Sag mal, Alwo, ich teile ja Deine Ansicht, STAR WARS sei keine SF, aber ich frage mich, wie es bei anderen Dingen steht: 1984? Fahrenheit 451? Die Mars-Chroniken? Schöne neue Welt? Elementarteilchen? Schlachthof 5? Alien? Die Bücher von Miéville? Ich denke, da wird es interessant. Gruß, RalphMit Deiner trigonometrischen Vermessung (emotionelle, intellektuelle und handwerkliche Qualitäten zusammenspiegeln) verfolgst auch Du den Versuch der Objektivierung.
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#47
Geschrieben 20 Mrz 2004 - 23:37
Thomas Sebesta/Neunkirchen/Austria
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#48
Geschrieben 21 Mrz 2004 - 15:02
Ich finde das Fortschreiten der Disskusion sehr spannend und angenehm. Bevor ich weitermache, will ich eine Sammlung bisher gebrachter Argumente (die mir interessant erscheinen) bieten. - Meine Anmerkungen/Entgegnungen finden sich wieder in {eckigen Klammern}, sonst alles Zitate von Euch (ich hoffe stets sinngemäß richtig verknappt). Ihr werdet staunen, wie viele Kriterien schon genannt wurden, trotz der Tendenz zu zögern, wenn es darum geht absolute/allgemeingültige Kriterien aufzustellen/anzuerkennen oder zu formulieren. Ich hoffe, der keimende Mut entwickelt sich weiter.
Kriterien bisher:
________ALLGEMEIN:
†¢ Unterhaltungswert - Trurl, Guest, ThK, Fisch, eRDe7
†¢ Handlung, Originalität, Konsitenz der Ideen und Charakterisierung und wie Charaktere gefallen. - Guest
†¢ Gute Ideen, stimmiges Verhältnis von Inhalt und Mitteln. - molosovsky
†¢ Intellektueller Nährwert, Unterhaltungswert, konsistentes Desing der Welt, naturwissenschaftliche schlüssige Idee - ThK
†¢ Bewertung der emotionellen und intellektuellen Anregung/Wirkung, sowie der handwerkliche Gestaltung. - eRDe7
________SCHLÜSSIGKEIT:
†¢ Realistische Extrapolationen (1984); zutreffende Prognosen (Schockwellenreiter) - ThK
†¢ Eingehaltene Regeln der inneren Logik der fiktiven Welt. - Trurl
†¢ Originelle halbwegs realistische Zukunftsvision. - tichy
†¢ Spüren welche Auswirkungen Wissenschaft auf Menschen haben könnte - rockmysoul67
†¢ Noch nicht Vorhandenes Leser glaubhaft machen. - Fisch
†¢ Die Plausibilität der aus der Gegenwart in die Zukunft extrapolierten möglichen Welt. - molosovsky (--> Eco)
_______ANFORDERUNG:
†¢ Wesentliche Aussagen über Welt oder Natur des Menschen. - Trurl
†¢ Alien-Kultur darf keine primitive Kopie der menschlichen Kultur sein. - Trurl
†¢ Versuche die Versöhnung/Harmonisierung von Technik und Mensch zu unterstützen. - molosovsky (--> Hammerschmitt)
†¢ Ich postuliere mal, dass eine Geschichte, welche Raumschiffe, Aliens usw. enthält als Königsklasse der SF gilt. Insoferne wäre es leicht zu beurteilen was gute SF wäre. - nekropole
________LANGFRISTIG:
†¢ Die aus der Gegenwart extrapolierte fiktive Welt der Zukunft sollte möglichst langsam zur Lachnummer vergammeln, wenn sie z.B. ernst gemeint ist. - molosovsky (--> Hammerschmitt)
†¢ Nur über belanglose Werke kann man nicht diskutieren; also gute Qualität ist, wenn Werk (kontroverse) Auseinandersetzung anregt/ermöglicht - Trurl
†¢ In drei Fällen wird Hofnarr ausgebuht: a) Wenn er den selben Witz zweimal erzählt; B) wenn der Witz zu weit ging; c) wenn der Witz nicht weit genug ging. - molosovsky (--> Hammerschmitt)
†¢ Literarische Qualität kann Alterungsverfall der Zukunftsvision auswiegen (Verne, Orwell). - tichy
________NEGATIV:
†¢ Schlecht: Inkonsistenz bei Beschreibung der Welt. - Guest
†¢ Schlecht: Unbegründete Wandlungen im Handlungsfluß nur um erdachte Sackgasse zu umgehen. - Fisch
†¢ Schlecht: SF-Umfeld dient nur als Kulisse. - tichy
†¢ Schlecht: Holzhammermoral - Guest - {Wenn Du damit sowas wie Ayn Rand »Atlas Shrugged« meinst, oder gewisse stereotype poetische Gerechtigkeit, sag ich Jupp.}
Feststellungen, Überlegungen:
________HALTUNG DES LESERS:
†¢ SF kann gehörig Wissen vermitteln z.B. Astronomie, Physik, Chemie, Medizin, Computertechnik. - ThK
†¢ Wissen nötig, um Feinheiten zu verstehen (Solaris); Geschmack alleine zu wenig als Kriterium - Trurl
†¢ Urteil aus dem Bauch; Quintessenz gesammelter Erfahrung (guter Geschmack). - Helmut W. Mommers
†¢ Reiz älterer Bücher: Wie hat man sich damals (vor 30 - 50 Jahren) Zukunft vorgestellt. - Rusch
________GESCHMACK & VIELFALT:
†¢ Probleme ergeben sich erst beim Vergleichen, wenn Urteile zur Diskussion gestellt werden - Trurl
†¢ Marcel Reich-Ranicki Methode = es gilt die Meinung, die am »eloquentesten« vertreten wird. - Trurl {»Am eloquentesten« vielleicht ersetzten durch »am lautesten« :-)}
†¢ Geschmack entscheidet und zeigt damit Vielfalt der SF - ThK
†¢ Andersartigkeit, Vielfalt akzeptieren und schätzen lernen. - Michael Schmidt
________WERTUNG & GRENZEN:
†¢ SF muß nicht mehr leisten als sonstige Literatur; kann aber Grenzen der beschriebenen Welt weiter stecken. - misc
†¢ Man sollte SF-Literatur nach den Regeln der Literatur beurteilen. - nekropole
†¢ Wenn alles als Literatur betrachtet wird und keine Genre-Grenzen fehlen, fällt Schutz für gewisse Werke weg - Trurl - {Du meinst, fallen Werke als schlecht durch, weil sie von mir aus bedenklich nah zur Soap (TV-Serien) stehen? Ich denke, daß ist nicht unbedingt so, wenn der wegfallende Schutz auch klärend wirken kann.}
†¢ Auf das Etikett kommt es nicht an, sondern auf Umgang mit Mitteln, die man mit Etikett assoziiert. - eRDe7
†¢ Was ist schlechte SF? Ist das abgegrenzt, greift Geschmacksentscheidung. - Ronni
†¢ Gute Bewertungen/Rezis liefern Entscheidungshilfen für Leserorientierung - Michael Schmidt
†¢ Journalismus: kann anhand von Wahrheitsgehalt überprüft (bewertet) werden - Naglfar
Fragen:
†¢ Darf SF alles, oder was darf SF? - Trurl
†¢ Preisverleihungen = Geschmacksurteile, weil Abstimmungen, sprich: Mehrheitseintscheidungen und Vergleich von Qualtät dadurch gar nicht möglich? - Trurl
†¢ Ist Roman gut wenn lediglich: 1-spannend geschrieben, 2-Story wie Uhrwerk läuft, 3-lesbar in zwei Stunden? - Trurl
†¢ Ist ein Text der Motive eines Genres nutzt dem Genre zugehörig (Houllebecq), oder wenn der Autor sich sozusagen dem Genre SF verweigert? - eRDe7 - {Zum Fall des Autor: Welche Autorität hat ein Autor bezüglich der Interpretation seines eigenen Werkes, welche Rechte haben die Leser und wie versucht der arme Text sich zwischen den beiden Gruppen zu behaupten und seine Message/Botschaft zu wuppen? Wem sollten wir helfen, auf wen konzentrieren?}
†¢ Sollte man »realistische« SF von Phantastik trennen? - Trurl - {Wenn es der Wahrheitsfindung dient†¦}
†¢ Bedeutet das, dass ein Buch dann schlechte SF, aber dennoch ein wunderbares Buch sein kann? - eRDe7 - {Kurz und knapp: Ja.}
Irrtümer:
†¢ Veränderung/Entwicklung ist maßgeblicher Inhalt der SF. - MartinHoyer - {Man kann sagen, daß alle narrativen Texte von Veränderung handeln. - natürlich gibt es den Fall, daß die fiktive Welt von einer alles umfassenden Harmonie bestimmt ist (Beispiel (spekulativ): Einflüße östlichen Denkens klammert dialektische Dynamik; oder auch (moralisch): Bösewicht verliehrt und Held bekommt Prinzessin.), trotzdem: Kein mir bekanntes erzählendes Werk vermittelt inhaltlich Stillstand. Es fände ja sonst keine Handlung statt.}
†¢ Allerdings haben Charaktere gerade in der SF die Möglichkeit, nicht nur sich anzupassen, sondern alternativ auch die Gesellschaft zu verändern. Das passiert in der Fantasy beispielsweise nicht, denn hier kann nur die Besetzung wechseln. - MartinHoyer - {Du meinst also, daß Charaktere in Fantasy-Texten keine Entwicklung durchmachen †¦ hmmm. Von was reden dann die Leser, wenn sie über Frodos oder Aragons Entwicklung diskutieren, oder was ist Steerpikes Weg in Gormenghast, wenn nicht ein Streben und Ringen, ein Entwicklungsroman (und viel von der Gesellschaft oder den Umständen, gegen die sie sich winden, lassen sie auch nicht unverändert). Inwiefern treffen wir also in der Phantastik allgemein und der SF (oder Fantasy) speziell auf Weiterführungen der Tradition des Bildungsromans (ich sag nur: Moorcocks »Elric von Melniboné«) Ich räume aber ein: durch die Möglichkeiten der SF/Phantastik lassen sich sehr starke und eindrückliche Bilder für Entwicklungen finden.}
†¢ †¦Mainstream' (so heißt in der Science-Fiction-Szene die Welt außerhalb des eigenen Schubfachs)†¦ - eRDe7 (--> Vonnegut) - {Auch wenn Gebrauch der Bezeichnungen für verschiedene phantastische Texte in der Öffentlichkeit größtenteils bequemlichem Schludern folgt, kann man heute 2004 nicht mehr bestreiten, daß die SF (von Solaris mit Cloony bis Klingonisch in der VHS) längst im Mainstream angekommen ist. Dies sowohl dem Mainstream als den vermeitlichen Außenseitern klarzumachen wäre ein trefflich Ding.}
†¢ SF ist ein Label (Aldiss: SF ist, was in Buchhandlungen als SF angeboten wird.) - nekropole - {Die Vermutung beschleicht mich, das Aldiss dies nicht tierisch ernst gemeint hat. Womöglich wollte er damit darauf aufmerksam machen, daß der Unterhaltungsindustrie, den Verlagen und heutzutage ganz besonders der Marketingabteilung zuviel Bestimmugnshoheit zuerkannt wird. Auf eine pragmatische Art und Weise hat er freilich recht, doch kann man ihn dennoch als Mahner verstehen, der den Labeln und Etiketten mißtraut.)
----------------------------
Sehr ergiebig soweit, für meinen Geschmack. Ich lass diesen Beitrag jetzt mal einfach mal wirken.
Grüße
molosovsky
P.S.: Schreibfehler bearbeitet, zwei, drei Erwiderungen hinzugefügt.
Bearbeitet von molosovsky, 22 Mrz 2004 - 03:12.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#49
Geschrieben 21 Mrz 2004 - 16:04
Nur, um es richtigzustellen: Vonnegut hat diese mir zugeschriebene Aussage 1965 gemacht. Da sah das noch anders aus. Uidem würde ich die wunderbare Soderbergh-Verfilmung nicht als "Mainstream" betrachten, da sie bei der "Masse" wohl eher durchgefallen ist, weil zu ruhig und zu subtil. Bessere Beispiele wären da wohl Matrix und Herr der Ringe etc.†¦Mainstream' (so heißt in der Science-Fiction-Szene die Welt außerhalb des eigenen Schubfachs)†¦ - eRDe7 - {Auch wenn Gebrauch der Bezeichnungen für verschiedene phantastische Texte in der Öffentlichkeit größtenteils bequemlichem Schludern folgt, kann man heute 2004 nicht mehr bestreiten, daß die SF (von Solaris mit Cloony bis Klingonisch in der VHS) längst im Mainstream angekommen ist. Dies sowohl dem Mainstream als den vermeitlichen Außenseitern klarzumachen wäre ein trefflich Ding.}
Eigentlich meinte ich damit: Kann ein Buch schlecht sein und dennoch gute SF? Kurz interessieren wir uns "nur" für Bücher, weil sie SF sind - oder weil sie gut sind? Entscheiden "wir" uns wirklich für ein BUch, weil da SF drauf steht? Um noch ein paar Fragen hinzuzufügen. Grüße, RalphBedeutet das, dass ein Buch dann schlechte SF, aber dennoch ein wunderbares Buch sein kann? - eRDe7 - {Kurz und knapp: Ja.}
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#50
Geschrieben 21 Mrz 2004 - 19:52
Nun der vorerst letzte Zusammenfassungsbeitrag.
Wieder ein Text von Eco, in dem ich reiche Anregung gefunden habe, für die Fragestellung nach den Eigenschaften guter SF, oder guter Literatur ganz allergemein. - Ich leg gleich los, denn diesmal ist der Originaltext 25 Seiten lang; »Mögliche Wälder« (in »Im Wald der Fiktionen« - Havard-Vorlesungen 1994, dtv 1996, S. 101ff). - {Musik: H.R.Kunze »Korrekt«, Track 01: Der Wald vor lauter Bäumen}
(ECO ANFANG)
Lächerlichkeit der Frage von König Vittorio Emanuel III bei Betrachtung eines Gemäldes (ländliche Idylle): »Wie viele Bewohner hat das Dorf?«
Grundregel Fiktionsvertrag: (--> Coleridge: »Willing suspension of disbelief« - willentliche (freiwillige) Aussetzung/Unterlassung der Ungläubigkeit/des Zweifels)
†¢ Der Autor tut so, als ob er die Wahrheit sagt;
†¢ Der Leser tut so, als wäre das, was Autor erzählt, wirklich geschehen. - Ecos Beobachtung: bis Auflagenstärke von einigen Tausend kennen die Leser den Fiktionsvertrag; aber spätestens ab 1. Millionen haben viele scheinbar nie davon gehört. - Beispiel: Ein Leser (moniert fehlenden Brand aus wirklicher Welt, der bei Parisbeschreibung in »Foucaultschen Pendels« nicht vorkommt) geht also für Eco zu weit, »†¦als er verlangte, eine ausgedachte Geschichte müsse restlos und vollständig mit der wirklichen Welt, auf die sie sich bezieht, übereinstimmen.«
»Wie es scheint, suspendieren wir unsere Ungläubigkeit auf einige Dinge, und nicht auf andere«, wenn wir bei den Grimms den sprechenden Wolf akzeptieren, jedoch gleich annehmen, daß Rotkäppchen tod ist, nur weil der Wolf sie gefressen hat.
Frage von König Vittorio Emanuel III also gar nicht sooo lächerlich, denn der Zauber jeder erzählenden Fiktion ist, »daß sie uns in die Grenzen einer Welt einschließt und irgendwie dazu bringt, diese Welt ernst zu nehmen.«
Fiktive Welten basieren immer auf der realen Welt. Manzonis Landschaftsbeschreibung gründen auf geographischen Merkmalen der realen Welt. Kafka führt in »Die Verwandlung« die ungeheuerliche Veränderung Samsas auf dem Hintergrund der realen Welt ein (Zimmer, Reaktion der Familie). Noch unwahrscheinlicher als Kafka: Edwin Abbott und sein »Flatland«: Beschreibung einer zweidimensionalen Welt, deren Bewohner und ihrer Kultur; »†¦die ganze in der realen Welt erworbene geometrische Erfahrung wird aufgeboten, um diese irreale Welt möglich zu machen.« z.B. Kastenunterschiede durch Anzahl der Ecken, genaue Erläuterung der Wahrnehmung ect. Abbotts Welt ist geometrisch und perzeptorisch (die Wahrnehmung betreffend) möglich; (sprechende Wölfe zumindest physiologisch durchaus auch möglich: Stimmorgane und Hirn haben sie ja.) Abbotts mögliche Wesen kommen mittels konventioneller Beglaubigungsverfahren zu fiktionaler Existenz.
SELF-VOIDING-FICTION = narrative Texte, die ihre eigene Unmöglichkeit demonstrieren, wie in Robbe-Grillets »Die blaue Villa in Hongkong«: a) widersprüchliche Versionen ein und desselben Ereignisses, b) ein und derselbe Ort (Hongkong) ist/ist nicht Ort der Handlung, c) widersprüchliche Zeitfolge (A dann B aber auch B dann A), d) ein und dasselbe fiktive Wesen auf mehreren Existenzebenen (Person, Skulptur, Theateraufführung ect). - Beispiel optische Illusion der unmöglichen Stimmgabel {oder vieler Motive bei M.C. Escher}: Verwirrung wenn Regeln der 2-D-Geometrie und Regeln der perspektivischen Darstellung von 3-D-Objekten zugleich gelten sollen.
»Also müssen wir zugeben, daß wir selbst bei der unmöglichsten aller Welten, um von ihr beeindruckt, verwirrt, verstört oder berührt zu sein, auf unsere Kenntnis der wirklichen Welt bauen müssen. Mit anderen Worten, auch die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist.« - Bedeutet: fiktive Welten sind Parasiten der wirklichen Welt {warum nicht auch/oder Symbionten?}. Keine Regel, wie viele fiktive Elemente maximal möglich sind, im Gegenteil: große Flexibilität; und was nicht speziell erwähnt wird, stimmt wohl mit wirklicher Welt überein (oder ist nicht wichtig für Handlung). - Beispiel: komischer Effekt in Geschichte von Campanile, wo Mann dem Kutscher sagt: »Bringen sie die Kutsche mit, und das Pferd«. - Beispiel nicht erwähntes (weil banal) Pferd bei Nerval (Kutschfahrt ohne Pferd wäre Gothic Novel, oder Märchen wenn Mäuse statt Pferden).
Rex Stout-Krimis (Nero Wolfe) spielen in New York, sind also kontrollierbar. Über literarische Fanship und Pilgerstätten (Bakerstreet in London, Bloomsday in Dublin). Taxifahrt in N.Y. zum Alexanderplatz wäre also ein Fehler. Aber: Kafkas Welt in »Der Prozess« ist wie elastischer nicht-euklidischer Kaugummi (Ausgänge eines Hauses führen in verschiedene Stadtteile). - Unterschied: a) fiktionales Universum ist viel kleiner als reale Welt (einige Personen, wohldefiniert sind Ort und Zeit), oder b) fiktionale Welt fügt realer Welt Personen und Ereignisse hinzu, endet nicht, sondern dehnt sich ständig weiter aus. - Obwohl Parasiten, ermöglichen kleinere Welten eine Konzentration auf endliche, der unseren sehr ähnliche Welten; Überschreiten der ontologischen Grenzen der fiktiven Welten nicht möglich, also Erforschung der Tiefe.
Über Figur bei Standal (Rot & Schwarz) weiß man mehr (nämlich: alles was man wissen muß; z.B. unwichtig: erstes Spielzeug, deshalb nicht erwähnt), als über eigenen Vater. - Beispiel Autorin Invernizio erzählt zu viel, sprich: nicht wichtig für Geschichte (Aussehen Turiner Bahnhof). - Leser der fehlenden Brand in »Foucaultschen Pendel« bemängelt akzeptiert also nicht, daß fiktive Welt kleinere Dimension hat als reale Welt. - Umgekehrt (löblich): Leser haben Paris nach Beschreibung im »Pendel« geformt (machten außschließlich Photos von Dingen, die im Roman vorkommen).
SPIEL: »†¦Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder †¦ um sich mit den physischen Gesetzen der Welt vertraut zu machen und sich in den Handlungen zu üben, die sie eines Tages im Ernst vollführen müssen. In gleicher Weise ist das Lesen fiktiver Geschichten ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben. Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.« = therapeutische Funktion der erzählenden Literatur, und Grund des Geschichtenerzählens; Mythen geben Wust aus Erfahrungen eine Form {Alle Narrationen und damit z.B. Religionen sind Sinnmachmaschinen --> Rüdiger ich mach schon mal den Wein auf Safranski im »Philosophischem Quartett«}.
GESPENST WAHRHEIT: wohl leicht bestimmbar in wirklicher Welt (Vortragsort, Vortragsdatum, Ort und Zeit des Todes von Napoleon), in fiktiver Welt ist es wahr im Rahmen der möglichen Welt (Heirat Hamlet & Orphelia = unwahr; Heirat Scarlett O'Hara & Rett Bulter = wahr). - Über den Wahrheitsbegriff: Vortragsdatum und Ort abhängig von Gregorianischen Kalender; Farbe der Kravatte blau = heute wahr ( unwahr nach antiker Farbauffassung, die anderen Grenzverlauf von Blau und Grün hat) †¦ lauter hollistische Annahmen. Unmittelbare Kontrolle möglich, ob bei Vortrag hinter Eco ein Gürteltier ist.
»Wir glauben, in der realen Welt müsse das Prinzip der Wahrheit (Truth) gelten, in den fiktiven Welten dagegen das des Vertrauens (Trust). Dennoch ist auch in der realen Welt das Prinzip des Vertrauens ebenso wichtig wie das der Wahrheit.« - Dazu wieder die Kulturelle Enzyklopädie (--> Hillary Putnam): zu neun Zehnteln verläßt sich ein Mensch bezüglich des Wissens, über das was wir Welt nennen, auf andere (z.B. daß es eine Stadt wirklich gibt, in der man noch nie war; wann und wo Napoleon gestorben ist). - Erfahrung lehrt Eco: Kulturelle Enzyklopädie liefert zufriedenstellendes Bild der Welt; die Art diese Darstellung zu akzeptieren, unterscheidet sich wenig davon, wie wir mögliche Welten in fiktiven Geschichten akzeptieren.
UNTERSCHEIDUNG: Sprechende Wölfe im Märchen {oder Disney} akzeptabel, aber bei Begegnung mit echten Wölfen Verhaltensorientierung nach Zoologiewerk - Schwer zu erklären warum wir so entscheiden; Es ist komplexer zu entscheiden, ob Aussagen der Kulturellen Enzyklopädie zu Napoleons Tod wahr sind, als ob Scarlett & Rett geheiratet haben.
Beispiele: a) In Dumas Musketier-Fortsetzung »Zwanzig Jahre danach« ersticht Athos den Sohn von Milady (beide Männer Erfindung), bleibt also wahr, solange ein Exemplar des Buchs existiert; b) in »Drei Musketiere« wird Lord Buckingham von Felton erstochen (beide historsich reale Figuren), bei neuem Fakt der Geschichte müßten Historiker ihren Text korrigieren, die Welt von »Musketiere« zweigt weiter Richtung Fiktion (--> Uchronie) ab, bleibt dort wahr. - Fiktive Welten haben dadurch ein Wahrheitsprivileg, in ihnen kann Wahrheitsbegriff nicht in Frage gestellt werden (Wahrheitsprivileg liefert auch Maßstäbe für die Grenzen der Interpretation {†¦ wenn Jack the Ripper seine Taten anhand seiner Bibelauslegung begründet}.)
Beispiel einer abwitzigen Rotkäppchen-Interpretation (als alchemistische Anleitung zur Trennug von Quecksilber und Schwefel). - Eco dazu: »Man kann aus Texten herauslesen, was sie nicht explizit (ausdrücklich) sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineininterpretieren« {Wobei: Doppel- und Mehrdeutiges nicht willkürlich zu etwas Eindeutigem aufgelößt werden darf, siehe »Total Recall«-Ende mit Schwarzenegger.}
Zweifel an realer Welt: Waren die Amerikaner wirklich auf dem Mond? (leichtere Entscheidung in Fiktion: Flash Gordon war auf dem Planeten Mungo) - Beglaubigung für Mondlandung: Bestätigung durch Konkurrenten UdSSR. Die Entscheidung was in wirklicher Welt wahr ist, erfordert Entscheidung darüber, wieviel Vertrauen man der Gemeinschaft entgegenbringt; welchen Teil der Globalen Kultrurellen Enzyklopädie man anerkennt.
Führt Leser einen Irrtum beim Lesen ein (glaubt, daß zur Zeit von »Krieg & Frieden« die Kommunisten in Russland herrschen), bleibt das Privatsache. Text liefert Profil für Modell-Leser (z.B. langer Dialog in Französiisch als Beginn von †Krieg & Frieden«). - Autor muß also nicht nur wirkliche Welt als Hintergrund voraussetzten, sondern Leser auch mit Infos über wirkliche Welt liefern, die der Leser womöglich nicht kennt {Mathe in »Cryptonomicon« um Davenports Charakter erfassen zu können; Details über Ringkampf um Garp von John Irving verstehen zu können}. Beispiel: Rex Stout erwähnt Kreuzung 4. und 10. Straße (Sonderfall im West Village, aber nicht wichtig für Handlung) in New York - wer die Stadt grob kennt, könnte verwirrt sein, denn dort heißt es gewöhnlich Kreuzung Street (Breiten) & Avenue (Längen). - Schluß-Ausklang: Von Walter Scott, der Voranstellung historischer Infos für nötig hält. - Über Washington Irvings Paralipse: »Wer je eine Fahrt den Hudson hinauf gemacht hat†¦« - Bis Ann Radcliff, die sich bezüglich Aussehen Südfrankreichs selbst täuschte (oder aus hohler Unkenntnis Südfrankreich für »Mysteries of Udolfo« einfach erfand).
(ECO ENDE)
----------
So, ich denke, mit den Zusammenfassungen der beiden Eco-Texte (und natürlich erst recht, wenn man die vollständigen Texte ließt) hat man als SF- und Phantastik-Liebhaber/Fan genug Werkzeug zur Hand, um alle potentiellen Little Green Man-Award-Kandidaten schön genüßlich zu zerpflücken.
Damit hätte ich für mich erst mal geklärt, wie ich diese ganzen Fragen und Probleme angehe, wenn man Phantastik und sonstige Literatur auseinander halten will. Nekropole warf das schöne Wort Königsklasse ein. Von meiner Warte aus betrachte ich schon länger die Phantastik als Königsklasse der Literatur, denn hier spielen die wirklich wagemutigen Fabulateure (andererseits kann man hier auch leichter ILM-Effekte dazu mißbrauchen von sonstigen Schwächen abzulenken).
Bei allen die es nervt, welche Werke bei Eco so angeführt werden, weil das irgendwelche obskuren alten Schinken sind, möchte ich mich entschuldigen. - Danke für die Geduld.
Grüße
molosovsky
P.S.: Bearbeitung - Schludrigkeiten augebügelt.
Bearbeitet von molosovsky, 22 Mrz 2004 - 11:31.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#51
Geschrieben 21 Mrz 2004 - 20:35
dies bringt vielleicht noch einige Nuancen mit ins Spiel..Das beste was ich zu diesem Thema gelesen habe, stammte aus dem Vorwort von Andreas [Eschbach-Anm.d.V]' ... Vorwort zu Silverbergs "Es stirbt in mir": Es wird Zeit, dass sich die Science Fiction sich die erzählerischen Techniken und Ansprüche der normalen Literatur aneignen und ihre selbstzufriedene Isolation überwinden (muß)... Heino ...Ich denke, es gibt objektive Kriterien zur Beurteilung des technischen Könnens eines Autoren. Dazu gehören Grammatik, Wortschatz u.ä. Das gleiche gilt für Musiker (Harmonieverständnis, Spieltechnik) oder auch Maler (Pinselführung, Schattenwurf). Da aber jeder Mensch auf das Ergebnis durch die subjektive Wahrnehmung anders anspricht, kann es doch gar keine allgemeingültige Definitition geben... Nepharite ...Qualität als Summe (oder Wie-auch-immer-Verknüpfung) aller potenziell wahrnehmbaren Eigenschaften oder als Summe der wahrgenommenen Eigeschaften? Nehmen wir den Fall an, dass jeder alle Eigenschaften (materielle sowie immaterielle) eines Romanes wahrnehmen kann, dann haben wir aber immer noch keine Wertung: angenommen ein Roman hat genau zwei Eigenschaften A und B. Person 1 bewertet/gewichtet A mit "0" und B mit "1", Person 2 umgekehrt. Wer hat Recht? Wie groß ist die Qualität dieses Romanes? Die Fragen stellen sich bei den wahrgenommen Eigenschaften analog. Es ist offensichtlich, dass nicht die Anzahl der Eigenschaften ausschlaggebend für die Bestimmung des "Verknüpfungsergebnisses" ist -nach dem Motto, je mehr Eigenschaften, desto höher, größer die Qualität-, sondern alleine die Meinung des Einzelnen... bungle ...Die tiefere Schicht des Lesers ist eine Konstante des Menschseins, der Mensch braucht Geschichten, Erzählungen um sich als Mensch zu entfalten und existieren zu können. Ein SF-Roman (warum nicht? ) kann den Mensch als Zeitgenossen mit Unterhaltungsbedürfnis befriedigen, weil er handwerklich gut geschrieben, d.h. spannend und farbig und originell. Aber erst wenn der Roman durch die Geschichte die er transportiert die tiefere Schicht erreicht berührt, dann ist er wirklich gut, besitzt er wahre Qualität...
Bearbeitet von nekropole, 21 Mrz 2004 - 20:37.
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#52
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 00:14
hier Reaktionen auf Ralph (eRDe7) und nekropole.
zu nekropole: Peinlich für mich, aber im Verlaufs der Diskussion auf SF-Fan wurde ich von einigen Ping-Pongs dort etwas irritiert und ich habe mich seit dem dort verunsichert zurückgehalten. Kein Vorwurf von mir, SF-Fan hat ein feines Forum †¦ - Was Du von dort an Zitaten hierher importierst, ist recht gemischt. Nützlich aber erscheint mir (hoffentlich sinngemäß gekürzt; mein Sabbel wieder in {eckigen Klammern}):
†¢ SF sollte auf Entwicklugen in allgemeiner Literatur bzgl. erzählerische Techniken und Ansprüche eingehen, sich nicht nicht isolieren. - Eschbach (--> Silverberg) - {Schlicht richtig, fair und einzige Art, daß sich hüben und drüben was entwickelt. Die allgemeine Literatur, wie sie die Verlage über die Leut streuseln, ist nämlich auch nicht überall dufte und dort isoliert sichs in machen Ecken auch fein vor sich hin {Popfraktion}.)
†¢ Technisches Können (Wortschatz, Grammatik, Spach- und Stilvermögen) oder Unvermögen liefert objektive Kriterien. - Heino - {Wird schwer mitzureden für jene, die wenig vom Handwerk wissen und verstehen. Semiotik (also auch Eco) unterscheidet hier den semantischen und den ästhetischen Leser. Ersterer will nur wissen wie die Geschichte ausgeht (löst der Erzähler Marcel sein Problem mit derverlohrenen Zeit? †¦ fängt Ahab den Wal? †¦ kann Luke die *Seele* von Anakin retten?), zweiterer beobachtet und genießt auch wie da was erzählt wird. Siehe auch aristotelische Poetik: zwei Arten von Katharsis. a) »homöopatisch« wie bei Rocky Horror Picture Show; b) »allopathisch« so mit Brecht'schem Verfremdungs/Distanzoierungseffekt, im Kino derzeit sowas wie »Dogville«, Klassiker der Moderne hier: Monthy Python. - Die Nähe zu Orgien und eleusischer Initiation hat die League of akademische Stubenhocker schon vor langer Zeit zu Bevorzugern von letzterem werden lassen. Das ist ein Quell von öder oder arger Holzhammermoral.}
†¢ Mehrschichtigkeit ist gut; wenn Unterhaltungsleser auf Schicht 1 befriedigt wird, tiefere Schichten sich für tieferlesende Menschen Menschen eröffnen. - bungle - {Dazu demnächst was.}
Der Beitrag von Nepharite (Verknüpfungsergebnis †¦ alleine Meinung bestimmt Qualitätswertung) ließt sich wirr und soweit ich ihn verstehe, betreibt er das, was man früher Sophisterei nannte. Ich halte mich an Überprüfbares. Er hat dort aber auch noch gescheites geschrieben, erinnere ich mich grob.
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zu Ralph: Habe das mit Vonnegut ergänzt.
Will nun so nützlich wie ich kann auf Deine Advocati Diabolo-Fragen antworten :-)
Doch zuerst Klärung †¦ unter Obejektivität verstehe ich was im Duden steht: »strenge Sachlichkeit; objektive (--> sachliche, nicht von Gefühlen und Vorurteilen bestimmte; unvoreingenommene, unparteische) Darstellung unter größtmöglicher Ausschaltung des Subjektiven (Ideal wissenschaftlicher Arbeit); Ggs. --> Subjektivität.« - Unterstreichugen von mir. Ergänz: Ideal: »1) jemand, etwas als Verkörperung von etwas Vollkommenen; Idealbild. 2) als eine Art höchster Wert erkanntes Ziel; Idee nach deren Verwirklichung man strebt.« - Ich weiß nicht, auf welchem Gerüst die Konstruktivisten kraxeln, habe lange nicht mehr nachgeschaut †¦ was ich vielleicht mal wieder tun sollte, oder?
Kurz: das mit allgemeingültig laß ich also ganz locker über den Tischrand kullern. Wiegesagt, sehr schwer die Erfordernisse logischen Denkens mit menschlichem Verständnis zusammenzubringen. Meiner Meinung nach aber nötig für Beschäftigung mit Literatur (Kunst), wenn man werten will.
Fallen imho folgende von Dir hochgeworfene Werke auf die SF-Seite?
1984 / Schöne neue Welt ? - Beide eindeutig ja, wenn Leser weiß, wann die Bücher entstanden sind, und ein wenig über die Zeitumstände informiert ist.
Alien - Nur Film 1: Ja. Ist sogar sehr gute und innovative SF. Heute noch autentisch wirkende Menschenkultur, intimeres Darstellerspiel als bis dahin in SF üblich. Sonst: Sonderfall einer Serie, bzw. einer multimedialen fiktiven Welt (Film, Buch, Comic, Verbindung zu Kosmos von Giger, PC-Spiele); solche Gebilde könnte man Neo-Mythos nennen (siehe auch Eco: »Der Mythos von Supermann« in _Apokalyptiker und Integrierte_, Fischer 1989). Sehr komplex zu beurteilen, aber in der Regel beruht ihr Erfolg nicht außschließlich auf dem Marketinggemörser der Werbung und des Hypes, sondern es steckt was dahinter. - Ich werde diesbezüglich noch mal was zu Bestsellern bringen (hihi).
China Miévilles Bas-Lag-Romane (Perdido Street Station, The Scar - deutsch jeweils zweiteilig): Der Autor sagt: »Ich schreibe Weird Fiction« (unheimliche, ulkig, verrückte Literatur); die Bücher scheren sich feuchten Kericht um Genre- oder E/U-Grenzen und liefern entsprechend potenten Zunder; sprachlich zudem äußerst vielfältig und wirkungsbewußt gehandhabt.
Jetzt kommts: den Rest (Fahrenheit 451, Mars-Chroniken, Elementarteilchen, Schlachthof 5) kenne ich nicht. (Ich höre das Kramen nach faulen Tomaten.) Stehen aber alle auf meiner »Will ich mal längeren Blick drauf werfen, vielleicht auch ganz lesen«-Liste.
Soderbergh hat Oscars bekommen und Kassenmagneten abgeliefert; Cloony ist ein häufiger Cover-Beau; Zielgruppe halt nicht der Äktschn-SF-Mainstream, sondern der Östötik-SF-Mainstream †¦ so what? Vielleicht ist das was Du die Masse nennst, für mich bereits der Pöbel, der Mob und Mainstream hat damit verglichen für mich eine positive, mäßigende Nebenbedeutung. - Bessere Beispiele für Mainstream-Phantastik sind Matrix und LOTR auf jeden Fall, wie auch: Harry Potter, Xena, Herkules, Stargate, Star Trek, Zamonien-Bücher, SF-Mangas, die vielen Superheldenfilme der letzten Monate, voranschreitende Verlagerung von Autoren aus SF/Fantasy-Kategorie in Allgemeine Reihe †¦†¦zudem würde ich die wunderbare Soderbergh-Verfilmung {Solaris} nicht als "Mainstream" betrachten, da sie bei der "Masse" wohl eher durchgefallen ist, weil zu ruhig und zu subtil. - Bessere Beispiele wären da wohl Matrix und Herr der Ringe etc.
Deine neuen Fragen gefallen mir sehr, habe ich mir auch schon oft gestellt, vor allem:
Dieses »Wir« macht mich nervös †¦ ich selbst mag Bücher die eigen sind (wie man im Alpenraum formulieren würde). Bücher die wie ein Mensch Sünder und Heiliger zugleich sind, so in etwa. Ich benutze schon auch mal Bücher, um nur reflektionslos abzutauchen, zwecks Entspannung (Brunetti-Krimis, Satterthwaith-Krimis, Sedaris-Kurzgeschichten, Stephen Fry-Romane, Lobo-Comics). - Bei Phantastik habe ich einen gewissen Anspruch, und wenn ich einen elendigen Sumpf wie »Drachenbeinthron« doch komplett durchwate, dann um etwas über das Genre rauszubekommen.†¢ Kurz: interessieren wir uns "nur" für Bücher, weil sie SF sind - oder weil sie gut sind?
†¢ Entscheiden "wir" uns wirklich für ein BUch, weil da SF drauf steht?
Bis zur nächsten Düne
Grüße vom »Den Meister des jüngsten Tages« im Bibliotheks-Flohmarkt abgestaubt habenden
molosovsky
P.S.: Bearbeitet - Fehler gebügelt.
Bearbeitet von molosovsky, 22 Mrz 2004 - 13:17.
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#53
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 10:28
Auf Basis des bisher gesagten schlage ich zwei Punkte vor:
1. Objektive und subjektive Qualität von Literatur
Wir sind uns, glaube ich, weitgehend einig, dass es durchaus objektive Maßstäbe gibt, die sehr gute Hinweise auf eine hohe Qualität eines literarischen Werkes (nicht nur SF) liefern; sie sind letztlich gut zusammengefasst unter Lems Bild des "schillernden", vielschichtigen Werkes. Ecos "Name der Rose" ist ein gutes Beispiel außerhalb der SF: man kann dieses Buch mehrmals lesen, und es wird dabei nicht nur nicht langweilig, sondern man entdeckt dabei immer wieder neue Aspekte.
Wir sind uns dabei aber bewusst, dass es zumindest Einzelfälle gibt, die dadurch nicht erfasst werden. Es gibt sowohl vielschichtige Werke, die konstruiert, leblos und somit langweilig sind, als auch simpel strukturierte Werke, die in ihrer klaren Einfachheit, vielleicht sogar Naivität, eine Saite in uns schwingen lassen. Das scheinen mir aber Extremfälle zu sein: Die meisten Werke, die mir als "literarisch gelungen" in Erinnerung geblieben sind, erfüllen die Bedingung der Vielschichtigkeit.
2. Unterscheidung SF im weiteren / engeren Sinne
Zur SF im weiteren Sinne zählt alles, was sich in einem SF-Umfeld abspielt. Aber nicht alle Werke nutzen dieses Umfeld in der gleichen Weise. Als SF im engen Sinne definiere ich daher Werke, deren inhaltlicher Kern sich wirklich mit den Implikationen zukünftiger Entwicklungen auseinandersetzt.
Wer beispielsweise eine Geschichte erzählt, in der man zur individuellen Mobilität nicht mehr ein Fahrzeug, sondern das "Beamen" benutzt, der schreibt ganz klar SF. Wenn sich dieser Aspekt darauf beschränkt, dass der Protagonist sich damit morgens zur Arbeit beamt und abends zurück, dann ist das "nur" SF im weiteren Sinne. Wenn sich der Autor aber damit beschäftigt, dass eine solche Erfindung ja auch ganz neue Möglichkeiten für Kriminalität, Privatsphäre, Tourismus, Wirtschaft usw. usw. mit sich bringt und diese Implikationen ausleuchtet, dann haben wir es mit "wahrer" SF zu tun.
Es fällt mir schwer, dieser "wahren" SF nicht instinktiv eine höhere Qualität zuzuschreiben. Aber das ist natürlich in dieser Allgemeinheit falsch: Auch ein werk der "SF im weiteren Sinne" kann literarisch immer noch hervorragend sein. Wirklich "schlechte" (also z.B. dümmlich-unrealistische) SF kann meines Erachtens aber auch literarisch nicht mehr gut sein, dazu wird sie von der nachlässigkeit in dem SF-Aspekt zu sehr diskreditiert.
Damit wende ich mich übrigens ausdrücklich gegen die landläufige Ansicht, "wahre" SF sei durch möglichst viele technische Details ausgezeichnet. Es geht nicht um die Erklärung der neuen Erfindungen, sondern um das Durchspielen der Konsequenzen, die sie mit sich bringen!
-- tichy
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#54
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 12:01
Schönes Beispiel, weil gerade beim www.horror-forum.com jemand geschrieben hat, es handle sich bei dem Buch um "Edelkitsch". Okay, das war kein Argument, ausser wieder für die subjektive Bewertung. Ich denke, man kann soetwas wie einen "kulturellen Maßstab" postulieren, um Literatur zu bewerten. Die Messung erfolgt aber subjektiv. Und der Maßstab ist nichts Ewiges, sondern flexibel, je nach Blickrichtung. Der argentinische Schriftsteller Pablo De Santis hält zum Beispiel P. K. Dick für so bedeutend wie James Joyce. Oder Art Spiegelman sagt, Dick sei für die 2. Hälfte des 20. Jh. das, was Kafka in der ersten war. Literaturwissenschaftler sträuben sich vermutlich die Haare, wenn sie soetwas hören. Dick und Kafka? Wenn man die Wirkung ihrer Werke auf die Kultur betrachtet, kann man vielleicht tatsächlich von einer Ähnlichkeit ausgehen. Wenn man ddas Handwerkliche ihrer Texte vergleichet, nun, da verwandelt sich aus meiner Sicht Dick zu einem Nichts. Aber ich kannmir durchaus vorstellen, dass es Leute gibt, die sagen würden: Kafka kann man nicht lesen und Dick ist spannend, also schreibt Dick besser. (So wie mal eine Buchhändlerin zu mir sagte, Kafka könne nicht schreiben, wenn ich wissen wolle, was wirklich gut geschrieben ist, dann solle ich mal Kraussers Melodien lesen. Nichts gegen Krausser, aber an Kafka kommt er aus meiner Sicht nicht ran...) Was mich ein wenig traurig macht: Wenn ich den kulturellen Maßstab an die Literatur anlege (also das, was sich im Laufe der Jahrtausende als "Gut" herausgestellt hat), somit also z. B. das Handwerkliche betrachte oder die "Intelligenz" der Umsetzung, der Ideen etc., dann fallen die meisten SF-Werke doch ziemlich ab. Natürlich ist es immer so, dass der Größtteil von irgendeinem Genre Müll ist, aber nach diesen Maßstäben sollte ich dann von nun an nur noch Nabokov lesen...Ecos "Name der Rose" ist ein gutes Beispiel außerhalb der SF: man kann dieses Buch mehrmals lesen, und es wird dabei nicht nur nicht langweilig, sondern man entdeckt dabei immer wieder neue Aspekte.
Womit sich ein weiteres Mal herausstellt, dass die Dinge, die ich bisher SF nannte, gar keine sind. Dick, Bradbury, Strugatzki... Denen geht es nicht darum, was irgendetwas in der Zukunft irgendwas auslösen kann, sondern darum, das Hier und Jetzt zu untersuchen. Nicht: Was wird sein, sondern: Was ist?Als SF im engen Sinne definiere ich daher Werke, deren inhaltlicher Kern sich wirklich mit den Implikationen zukünftiger Entwicklungen auseinandersetzt.
Hm, und wenn er einen Umhang und einen spitzen Hut dabei trägt und die Worte Abrakadabra sagt und es zaubern statt beamen nennt? Oder wenn er es Hatschi oder jaunten nennt? Ein Prozess, der mich irgendwie an D. Adams Fliegen erinnert: Auf die Erde schmeißen, nur daneben. Gruß, Ralph ps: Alwo - guter Kauf!!!! Ich bin bei Voltaires Kalligraph - stecke aber gerade in der Mitte fest, wo es irgendwie nachlässt...Wer beispielsweise eine Geschichte erzählt, in der man zur individuellen Mobilität nicht mehr ein Fahrzeug, sondern das "Beamen" benutzt, der schreibt ganz klar SF.
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#55
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 12:27
Kafka hat für mich etwas von einem Bodybuilder, der vor Kraft kaum noch laufen kann: Kafka kann man gelegentlich vor lauter Bedeutungsschwere kaum noch lesen. Das kommt ein bisschen an das heran, was ich mit "vielschichtig, aber zu konstruiert" meine; da ist es dan Sache des persönlichen Geschmacks, ob es mir zuviel wird oder noch nicht. Dick und Kafka hatten einen enormen Einfluß auf ihre jeweilige Sparte. Nur dass das bei Kafka eben die Hochliteratur war und bei Dick SF -- in den Augen der Hochliteratur also: Schund. Daher wird ein traditionell zur Hochliteratur tendierender Literaturwissenschaftler Kafka sicher einen höheren Stellenwert einräumen.Kafka kann man nicht lesen und Dick ist spannend, also schreibt Dick besser.
Keine im engeren Sinne vielleicht, je nachdem, welche Werke Du betrachtest. Für Dick gilt das aber sicher nicht: Lem zeigt doch in seiner lobenden Besprechung von "Ubik", dass dieses Werk eines der ganz wenigen ist, die die "virtuelle Realität" (hier in Form des "Nachlebens" der Sterbenden) ihrer Bedeutung angemessen behandelt hat. Ähnliches gilt für ganz viele Werke Dicks.Womit sich ein weiteres Mal herausstellt, dass die Dinge, die ich bisher SF nannte, gar keine sind.
Naja, das ist dann ja wohl keine SF mehr. Wobei man sicher durchaus auch in einem Fantasy-Rahmen ähnliche Problematiken thematisieren kann wie in einem genuinen SF-Rahmen (ich wüsste aber nicht, wozu das gut sein sollte). -- tichyHm, und wenn er einen Umhang und einen spitzen Hut dabei trägt und die Worte Abrakadabra sagt und es zaubern statt beamen nennt?
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#56
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 12:59
jetzt fange ich einmal zu meckern an, auch wenn ich in die eigentliche Diskussion noch nicht eingreifen kann. Aber etwas juckte mir schon bei SF-Fan in den Fingern: die Begriffe
OKJEKTIV und QUALITÄT
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass jeder, der sie nutzt etwas anderes darunter versteht
Zu OBJEKTIV
Dies ist eine Eigenschaft die meiner Meinung KEIN Mensch hat, denn jeder ist durch Umgebung, Ausbildung, Kultur, Emotionen, Vorurteile geprägt, die ihm keine Chance dafür lassen.
Zu QUALITÄTWahrig Deutsches Wörterbuch
ob|jek'tiv <Adj.> gegenständig, tatsächlich; sachlich, vorurteilsfrei, unparteiisch; allgemein gültig; subjektiv; ein objektives Urteil; eine Sache objektiv betrachten
Ob|jek|ti|vi'tät <[-vi-] f. unz.> objektive Beschaffenheit, Allgemeingültigkeit, objektive Betrachtungsweise, Sachlichkeit, Vorurteilslosigkeit; Subjektivität
www.wissen.de
objektiv - [lateinisch] - vorurteilslos, allgemein gültig; nicht gefühlsmäßig, sondern sachlich bestimmt.
Objektivität - [lateinisch]
Sachlichkeit, Einstellung auf den Gegenstand; die Fähigkeit, sich in der Beurteilung von Menschen, Situationen und Sachverhalten so wenig wie möglich von eigenen Vorurteilen, Sympathien, Antipathien, Wünschen u. Ä. leiten oder beeinflussen zu lassen.
Ist auch keine naturgegebene allgemeingültige Sache, sondern eine Übereinkunft von „Entscheidungsträgern“, welche Beschaffenheit/Fähigkeit eine bestimmte vordefinierte Sache zu einem bestimmen Zeitpunkt besitzen soll/muss. Das funktioniert bei materiellen Gegenständen recht ordentlich, da an vorher allgemeingültig definierten kulturell-unabhängigen Vorgaben gemessen werden kann. Allerdings bei Abstraktem, wie Kunst funktioniert es meiner Meinung nach nicht mehr. Wir verlassen uns auf die angeblichen „Experten“.
Da der literarische Qualitätsbegriff (sofern es überhaupt einen einheitlichen gibt, lasse mich gerne belehren) so gut wie keine außereuropäischen Kulturen mit einbezogen hat, kann er nur auf europäische angewandt werden. Vielfach bezieht er sich auch nur auf die sprachliche Form und selten auf Inhalt und Botschaft. Viele Diskussionen darüber, über die Jahrhunderte zeigt ja auch, wie emotionsbezogen sie geführt wurden/werden.Wahrig Deutsches Wörterbuch
Qua|li'tät <f.> Art, Beschaffenheit, Brauchbarkeit; Sorte, Güte, Wertstufe; Eigenschaft, Fähigkeit; <Phonol.> Vokalfärbung, z.B. e gegenüber o; → a. Quantität; auch er hat seine Qualitäten; ausgezeichnete, hervorragende, gute Qualität; er hat besondere Qualitäten; beste, mittlere Qualität; der Kaffee ist von ausgezeichneter Qualität [<lat. qualitas „Beschaffenheit, Verhältnis, Eigenschaft“; zu qualis „wie beschaffen“]
Qualität - Philosophie
Beschaffenheit, Eigenschaft; eine der klassischen Kategorien.
Für viele z. Bsp. ist der Vermerk „Von MRR empfohlen“ ein Qualitätssiegel - für mich eher abschreckend (immer wieder in Selbstversuchen testend). Eine Definition aus sf-Fan gefällt mir ganz gut:
Wobei das gleiche Buch beim gleichen Leser zu verschiedenen Zeitpunkten total unterschiedlich ankommen kann.bungle
...Die tiefere Schicht des Lesers ist eine Konstante des Menschseins, der Mensch braucht Geschichten, Erzählungen um sich als Mensch zu entfalten und existieren zu können.
Ein SF-Roman (warum nicht? ) kann den Mensch als Zeitgenossen mit Unterhaltungsbedürfnis befriedigen, weil er handwerklich gut geschrieben, d.h. spannend und farbig und originell. Aber erst wenn der Roman durch die Geschichte die er transportiert die tiefere Schicht erreicht berührt, dann ist er wirklich gut, besitzt er wahre Qualität...
Persönlich frage ich mich immer:
„Müßte dieses Buch am Lager-/Kaminfeuer erzählt werden, schlafen sie nach einer Viertelstunde ein, oder kämen alle am nächsten Abend wieder, da sie wissen wollen, wie es weiter geht.“ Denn daraus entstand ja schließlich die „Literatur“.
Wobei ich auch hier langsam ins Schwanken komme, denn bei Thomas Manns Zauberberg kam ich trotz mehrerer Anläufe nicht über 100 Seiten hinaus - die Lesung von Gerhard Westphal dagegen hat mich gefesselt.
Und dann, was heißt „GUT“?? Für einen Spannungsleser doch bestimmt etwas anderes, als für viele Literaturkritiker. Ein Krimi-Leser legt andere Maßstäbe an, als ein Leser von „romance“.
Also meine Empfehlung „Objektiv“ streichen und sollte jemand die „eierlegende Wollmilchsau“ parat haben, bitte jetzt hervorholen, sonst die Qualitätsmerkmale zusammenfassend eindeutig für einen Roman definieren, dabei wohl wissend, das sie nur für diese Diskussion Gültigkeit haben.
Und zum Ende meiner Mittagspause zurück zu „Was ist gute SF??“ Was ist eigentlich „SF“?
LG Dyke - back to work - daher nur Rechtschreibprüfung darüber gejagt und nicht richtig Korrektur gelesen
Bearbeitet von dyke, 22 Mrz 2004 - 13:01.
#57 Gast_Guest_*
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 13:25
Ach so. Du meinst also, wenn unfreiwillig etwas getroffen wurde (UBIK ist ganz sicher KEIN Roman über virtuelle Realitäten, zumindest nicht, wenn man Dicks Intention betrachtet, sondern ein Roman über Realität. Es geht also nicht um Cyberspace oder Technik, es geht nicht um Kältekammern etc.), ist es auch gut. Also wenn es aus der heutigen Sicht ein Roman über virtuelle Welten wird... So wie Morels Erfindung von A. Bioy Casares... Die "ganz vielen Werke Dicks" haben in ihrer Thematik eigentlich immer "nur" drei Punkte: 1. Was ist menschlich (was meinen Menschen aus) - Antwort: Agape. 2. Was ist die Realität? - Antwort: Das was noch immer da ist, wenn man nicht mehr dran glaubt. 3. Wie werden wir erlöst? - Antwort (nach seinem letzten Roman): Zen (als Interpretation vonmir allerdings nur). Da ist nicht eine Frage: Wie verändert Technik das Leben in der Zukunft oder dergleichen. Oh Mann, jetzt fange ich schon wieder an... Nach 6 Jahren habe ich eigentlich langsam genug über PKD gesagt... Aber ich habe doch noch einmal eine Frage aus eigenem Interesse: Wenn jemand von einer Zukunftswelt schreibt, in der sich inzwischen Mystik und Wissenschaften angenähert haben (das ist irgendwie in meinen eigenen Geschichten dauernd der Fall...), würde man das als SF akzeptieren? Beste Grüße, RalphFür Dick gilt das aber sicher nicht: Lem zeigt doch in seiner lobenden Besprechung von "Ubik", dass dieses Werk eines der ganz wenigen ist, die die "virtuelle Realität" (hier in Form des "Nachlebens" der Sterbenden) ihrer Bedeutung angemessen behandelt hat. Ähnliches gilt für ganz viele Werke Dicks.
#58
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 13:36
Du sprichst mir aus der Seele! Oder wie es von Maturana so schön gesagt wurde: Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Und ein Beobachter ist immer seinen eigenen Interpretationen unterworfen... Grüße, RalphZu OBJEKTIV Dies ist eine Eigenschaft die meiner Meinung KEIN Mensch hat, denn jeder ist durch Umgebung, Ausbildung, Kultur, Emotionen, Vorurteile geprägt, die ihm keine Chance dafür lassen.
R. C. Doege: Ende der Nacht. Erzählungen (2010)
R. C. Doege: YUME. Träumen in Tokio (2020)
#59
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 14:02
Jetzt gerade nur eine Sache:
Was meinst Du genau mit SF-Umfeld? - Umfeld in den Regalen des Buchhandels; Soziales Umfeld der Leserschaft oder Interessensorganisation; Umfeld der Ideen?tichy: Zur SF im weiteren Sinne zählt alles, was sich in einem SF-Umfeld abspielt.
Nekropole postuliert, daß sich die Königsklasse der SF durch das Vorkommen von Raumschiffen und Aliens auszeichnet. Das mag erstmal etwas plump und tumb wirken, aber er trifft es ganz gut finde ich. Tatsächlich liefert die Globale Kulturelle Enzyklopädie uns die Information, daß es spätestens mit dem Wandel unserer Sonne zu einem Rotem Riesen aus ist mit der Kinderstube Erde. Dieses Wissen wird die bereits vorhandenen Bemühungen des Menschen ins All aufzubrechen nur weiter steigern. Raumschiffe (oder andere vorstellbare Verfahren, siehe »Contact«) müssen also die obligatorische Annahme aller in die Zukunft extrapolierten möglichen Welten sein, in denen die Menschheit sich zu einem neuen Leben zwischen den Sternen aufgemacht hat. Und die Kontroverse um die Existenz von Aliens ist ja nicht nur eine zwischen Heinrich Mustermann und Lieschen Müller, sondern auch eine zwischen den jeweiligen Vertretern der hehren Wissenschaftszunft †¦ meiner Kenntnis nach bisher eine Glaubenssache. Es ist aber einfach interessanter sich eine interstellar agierende Menschheit vorzustellen, die nicht komplett allein durch die Weiten düßt. - Nekropole grenzt aber damit alle narrativen Zukunftwelten aus, in denen es auf der Erde noch nicht zur Sternfahrerei langte, und es auch keinen Kontakt zwischen Aliens und Menschen gibt. Demnach wäre sowas wie »Mad Max« oder »Postman« für ihn nichts, was zur Königsklasse der SF gehört. Es stimmt also: egal wie man seine Kreise zirkelt, es finden sich immer Ausnahmen innerhalb und außerhalb des Radius.
Bis auf weiteres
molosovsky
MOLOSOVSKY IST DERZEIT IN DIESEM FORUM NICHT AKTIV: STAND 13. JANUAR 2013.
Ich weiß es im Moment schlicht nicht besser.
#60
Geschrieben 22 Mrz 2004 - 14:49
Ich würde Dick da nicht unterschätzen. Natürlich hatte er wieder sein "Grundprogramm" im Kopf, also die Frage "Was ist die Realität". Ausgearbeitet wird dieses Thema hier aber ganz geschickt in einer Spielart der virtuellen Realität (die Maschinerie, die den Sterbenden noch eine Weile das Weiterleben ermöglicht). Zu welchem Grad die Objekte der virtuellen Welten dabei aus einem Computer oder aus dem Hirn des Sterbenden kommen, spielt nur eine technische Rolle. Kern der Sache bleibt: Dick hat die VR für seine Realitätsfrage genutzt.UBIK ist ganz sicher KEIN Roman über virtuelle Realitäten,
Wie ich schonmal sagte: SF liegt vor, wenn phantastische Elemente auftreten, die als wissenschaftlich erklärbar dargestellt werden.Was meinst Du genau mit SF-Umfeld?
Es gibt da keine harte Grenze zwischen SF und Fantasy. Solche Geschichten liegen eben dazwischen. Übrigens: Irgendeine willkürliche "Königsklasse der SF" anhand von vorkommenden Objekten zu definieren halte ich für wenig hilfreich -- schon deshalb, weil diesem Begriff die Aura von besonderer Meisterschaft anhaftet, die in diesem Fall nicht gerechtfertigt ist. Aus ähnlichen Gründen halte ich "Mord" auch nicht für die Königsklasse des Krimis, denn einen Mordkrimi zu schreiben ist nicht schwieriger als einen Taschendiebstahlkrimi. Eher sogar umgekehrt: Ein Krimi ohne Mord und SF ohne Aliens ist in gewisser Weise sogar schwieriger, weil sich der Autor mehr Mühe geben muss, um Spannung bzw. "sense of wonder" zu erzeugen. -- tichyWenn jemand von einer Zukunftswelt schreibt, in der sich inzwischen Mystik und Wissenschaften angenähert haben, würde man das als SF akzeptieren?
Bearbeitet von tichy, 22 Mrz 2004 - 14:52.
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