Hallo all Ihr, die Ihr diesem Thread geduldig folgt.
Nun der vorerst letzte Zusammenfassungsbeitrag.
Wieder ein Text von Eco, in dem ich reiche Anregung gefunden habe, für die Fragestellung nach den Eigenschaften guter SF, oder guter Literatur ganz allergemein. - Ich leg gleich los, denn diesmal ist der Originaltext 25 Seiten lang;
»Mögliche Wälder« (in »Im Wald der Fiktionen« - Havard-Vorlesungen 1994, dtv 1996, S. 101ff). - {Musik: H.R.Kunze »Korrekt«, Track 01: Der Wald vor lauter Bäumen}
(ECO ANFANG)
Lächerlichkeit der Frage von König Vittorio Emanuel III bei Betrachtung eines Gemäldes (ländliche Idylle):
»Wie viele Bewohner hat das Dorf?«
Grundregel Fiktionsvertrag: (--> Coleridge:
»Willing suspension of disbelief« - willentliche (freiwillige) Aussetzung/Unterlassung der Ungläubigkeit/des Zweifels)
†¢ Der Autor
tut so, als ob er die Wahrheit sagt;
†¢ Der Leser tut so, als wäre das, was Autor erzählt, wirklich geschehen. - Ecos Beobachtung: bis Auflagenstärke von einigen Tausend kennen die Leser den Fiktionsvertrag; aber spätestens ab 1. Millionen haben viele scheinbar nie davon gehört. - Beispiel: Ein Leser (moniert fehlenden Brand aus wirklicher Welt, der bei Parisbeschreibung in »Foucaultschen Pendels« nicht vorkommt) geht also für Eco zu weit,
»†¦als er verlangte, eine ausgedachte Geschichte müsse restlos und vollständig mit der wirklichen Welt, auf die sie sich bezieht, übereinstimmen.«
»Wie es scheint, suspendieren wir unsere Ungläubigkeit auf einige
Dinge, und nicht auf andere«, wenn wir bei den Grimms den sprechenden Wolf akzeptieren, jedoch gleich annehmen, daß Rotkäppchen tod ist, nur weil der Wolf sie gefressen hat.
Frage von König Vittorio Emanuel III also gar nicht sooo lächerlich, denn der Zauber jeder erzählenden Fiktion ist,
»daß sie uns in die Grenzen einer Welt einschließt und irgendwie dazu bringt, diese Welt ernst
zu nehmen.«
Fiktive Welten basieren immer auf der realen Welt. Manzonis Landschaftsbeschreibung gründen auf geographischen Merkmalen der realen Welt. Kafka führt in »Die Verwandlung« die ungeheuerliche Veränderung Samsas auf dem Hintergrund der realen Welt ein (Zimmer, Reaktion der Familie). Noch unwahrscheinlicher als Kafka: Edwin Abbott und sein »Flatland«: Beschreibung einer zweidimensionalen Welt, deren Bewohner und ihrer Kultur;
»†¦die ganze in der realen Welt erworbene geometrische Erfahrung wird aufgeboten, um diese irreale Welt möglich zu machen.« z.B. Kastenunterschiede durch Anzahl der Ecken, genaue Erläuterung der Wahrnehmung ect. Abbotts Welt ist
geometrisch und
perzeptorisch (die Wahrnehmung betreffend) möglich; (sprechende Wölfe zumindest physiologisch durchaus auch möglich: Stimmorgane und Hirn haben sie ja.) Abbotts mögliche Wesen kommen mittels
konventioneller Beglaubigungsverfahren zu fiktionaler Existenz.
SELF-VOIDING-FICTION = narrative Texte, die ihre eigene Unmöglichkeit demonstrieren, wie in Robbe-Grillets »Die blaue Villa in Hongkong«:
a) widersprüchliche Versionen ein und desselben Ereignisses,
b) ein und derselbe Ort (Hongkong) ist/ist nicht Ort der Handlung,
c) widersprüchliche Zeitfolge (A dann B aber auch B dann A),
d) ein und dasselbe fiktive Wesen auf mehreren Existenzebenen (Person, Skulptur, Theateraufführung ect). - Beispiel optische Illusion der unmöglichen Stimmgabel {oder vieler Motive bei M.C. Escher}: Verwirrung wenn Regeln der 2-D-Geometrie und Regeln der perspektivischen Darstellung von 3-D-Objekten zugleich gelten sollen.
»Also müssen wir zugeben, daß wir selbst bei der unmöglichsten aller Welten, um von ihr beeindruckt, verwirrt, verstört oder berührt zu sein, auf unsere Kenntnis der wirklichen Welt bauen müssen. Mit anderen Worten, auch die unmöglichste Welt muß, um eine solche zu sein, als Hintergrund immer das haben, was in der wirklichen Welt möglich ist.« - Bedeutet: fiktive Welten sind Parasiten der wirklichen Welt {warum nicht auch/oder Symbionten?}. Keine Regel, wie viele fiktive Elemente maximal möglich sind, im Gegenteil: große Flexibilität; und was nicht speziell erwähnt wird, stimmt wohl mit wirklicher Welt überein (oder ist nicht wichtig für Handlung). - Beispiel: komischer Effekt in Geschichte von Campanile, wo Mann dem Kutscher sagt: »Bringen sie die Kutsche mit, und das Pferd«. - Beispiel nicht erwähntes (weil banal) Pferd bei Nerval (Kutschfahrt ohne Pferd wäre
Gothic Novel, oder Märchen wenn Mäuse statt Pferden).
Rex Stout-Krimis (Nero Wolfe) spielen in New York, sind also kontrollierbar. Über literarische Fanship und Pilgerstätten (Bakerstreet in London, Bloomsday in Dublin). Taxifahrt in N.Y. zum Alexanderplatz wäre also ein Fehler. Aber: Kafkas Welt in »Der Prozess« ist wie elastischer nicht-euklidischer Kaugummi (Ausgänge eines Hauses führen in verschiedene Stadtteile). - Unterschied:
a) fiktionales Universum ist viel kleiner als reale Welt (einige Personen, wohldefiniert sind Ort und Zeit), oder
b) fiktionale Welt fügt realer Welt Personen und Ereignisse hinzu, endet nicht, sondern dehnt sich ständig weiter aus. - Obwohl Parasiten, ermöglichen
kleinere Welten eine Konzentration auf endliche, der unseren sehr
ähnliche Welten; Überschreiten der ontologischen Grenzen der fiktiven Welten nicht möglich, also Erforschung der Tiefe.
Über Figur bei Standal (Rot & Schwarz) weiß man mehr (nämlich: alles was man wissen muß; z.B. unwichtig: erstes Spielzeug, deshalb nicht erwähnt), als über eigenen Vater. - Beispiel Autorin Invernizio erzählt zu viel, sprich: nicht wichtig für Geschichte (Aussehen Turiner Bahnhof). - Leser der fehlenden Brand in »Foucaultschen Pendel« bemängelt akzeptiert also nicht, daß fiktive Welt kleinere Dimension hat als reale Welt. - Umgekehrt (löblich): Leser haben Paris nach Beschreibung im »Pendel« geformt (machten außschließlich Photos von Dingen, die im Roman vorkommen).
SPIEL: »†¦Streifzüge durch fiktive Welten haben die gleiche Funktion wie Spiele für Kinder †¦ um sich mit den physischen Gesetzen der Welt vertraut zu machen und sich in den Handlungen zu üben, die sie eines Tages im Ernst vollführen müssen. In gleicher Weise ist das Lesen fiktiver Geschichten ein Spiel, durch das wir lernen, der Unzahl von Dingen, die in der wirklichen Welt geschehen sind oder gerade geschehen oder noch geschehen werden, einen Sinn zu geben. Indem wir Romane lesen, entrinnen wir der Angst, die uns überfällt, wenn wir etwas Wahres über die Welt sagen wollen.« = therapeutische Funktion der erzählenden Literatur, und Grund des Geschichtenerzählens; Mythen geben Wust aus Erfahrungen eine Form {Alle Narrationen und damit z.B. Religionen sind Sinnmachmaschinen --> Rüdiger
ich mach schon mal den Wein auf Safranski im »Philosophischem Quartett«}.
GESPENST WAHRHEIT: wohl leicht bestimmbar in wirklicher Welt (Vortragsort, Vortragsdatum, Ort und Zeit des Todes von Napoleon), in fiktiver Welt ist es
wahr im Rahmen der möglichen Welt (Heirat Hamlet & Orphelia = unwahr; Heirat Scarlett O'Hara & Rett Bulter = wahr). -
Über den Wahrheitsbegriff: Vortragsdatum und Ort abhängig von Gregorianischen Kalender; Farbe der Kravatte blau = heute wahr ( unwahr nach antiker Farbauffassung, die anderen Grenzverlauf von Blau und Grün hat) †¦ lauter hollistische Annahmen. Unmittelbare Kontrolle möglich, ob bei Vortrag hinter Eco ein Gürteltier ist.
»Wir glauben, in der realen Welt müsse das Prinzip der Wahrheit (Truth
) gelten, in den fiktiven Welten dagegen das des Vertrauens (Trust
). Dennoch ist auch in der realen Welt das Prinzip des Vertrauens ebenso wichtig wie das der Wahrheit.« - Dazu wieder die Kulturelle Enzyklopädie (--> Hillary Putnam): zu neun Zehnteln verläßt sich ein Mensch bezüglich des Wissens, über das was wir Welt nennen, auf andere (z.B. daß es eine Stadt wirklich gibt, in der man noch nie war; wann und wo Napoleon gestorben ist). - Erfahrung lehrt Eco: Kulturelle Enzyklopädie liefert zufriedenstellendes Bild der Welt;
die Art diese Darstellung zu akzeptieren, unterscheidet sich wenig davon, wie wir mögliche Welten in fiktiven Geschichten akzeptieren.
UNTERSCHEIDUNG: Sprechende Wölfe im Märchen {oder Disney} akzeptabel,
aber bei Begegnung mit echten Wölfen Verhaltensorientierung nach Zoologiewerk - Schwer zu erklären warum wir so entscheiden; Es ist komplexer zu entscheiden, ob Aussagen der Kulturellen Enzyklopädie zu Napoleons Tod wahr sind, als ob Scarlett & Rett geheiratet haben.
Beispiele: a) In Dumas Musketier-Fortsetzung »Zwanzig Jahre danach« ersticht Athos den Sohn von Milady (beide Männer Erfindung), bleibt also wahr, solange ein Exemplar des Buchs existiert;
b) in »Drei Musketiere« wird Lord Buckingham von Felton erstochen (beide historsich reale Figuren), bei neuem Fakt der Geschichte müßten Historiker ihren Text korrigieren, die Welt von »Musketiere« zweigt weiter Richtung Fiktion (--> Uchronie) ab, bleibt dort
wahr. - Fiktive Welten haben dadurch ein
Wahrheitsprivileg, in ihnen kann Wahrheitsbegriff nicht in Frage gestellt werden (Wahrheitsprivileg liefert auch Maßstäbe für die
Grenzen der Interpretation {†¦ wenn Jack the Ripper seine Taten anhand seiner Bibelauslegung begründet}.)
Beispiel einer abwitzigen Rotkäppchen-Interpretation (als alchemistische Anleitung zur Trennug von Quecksilber und Schwefel). - Eco dazu:
»Man kann aus Texten herauslesen
, was sie nicht explizit (ausdrücklich) sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineininterpretieren« {Wobei: Doppel- und Mehrdeutiges nicht willkürlich zu etwas Eindeutigem aufgelößt werden darf, siehe »Total Recall«-Ende mit Schwarzenegger.}
Zweifel an realer Welt: Waren die Amerikaner wirklich auf dem Mond? (leichtere Entscheidung in Fiktion: Flash Gordon war auf dem Planeten Mungo) - Beglaubigung für Mondlandung: Bestätigung durch Konkurrenten UdSSR. Die Entscheidung was in wirklicher Welt wahr ist, erfordert Entscheidung darüber, wieviel
Vertrauen man der Gemeinschaft entgegenbringt; welchen Teil der Globalen Kultrurellen Enzyklopädie man anerkennt.
Führt Leser einen Irrtum beim Lesen ein (glaubt, daß zur Zeit von »Krieg & Frieden« die Kommunisten in Russland herrschen), bleibt das Privatsache. Text liefert Profil für Modell-Leser (z.B. langer Dialog in Französiisch als Beginn von †Krieg & Frieden«). - Autor muß also nicht nur wirkliche Welt als Hintergrund voraussetzten, sondern Leser auch mit Infos über wirkliche Welt liefern, die der Leser womöglich nicht kennt {Mathe in »Cryptonomicon« um Davenports Charakter erfassen zu können; Details über Ringkampf um Garp von John Irving verstehen zu können}. Beispiel: Rex Stout erwähnt Kreuzung 4. und 10.
Straße (Sonderfall im West Village, aber nicht wichtig für Handlung) in New York - wer die Stadt grob kennt, könnte verwirrt sein, denn dort heißt es gewöhnlich Kreuzung
Street (Breiten) &
Avenue (Längen). - Schluß-Ausklang: Von Walter Scott, der Voranstellung historischer Infos für nötig hält. - Über Washington Irvings Paralipse: »Wer je eine Fahrt den Hudson hinauf gemacht hat†¦« - Bis Ann Radcliff, die sich bezüglich Aussehen Südfrankreichs selbst täuschte (oder aus hohler Unkenntnis Südfrankreich für »Mysteries of Udolfo« einfach erfand).
(ECO ENDE)
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So, ich denke, mit den Zusammenfassungen der beiden Eco-Texte (und natürlich erst recht, wenn man die vollständigen Texte ließt) hat man als SF- und Phantastik-Liebhaber/Fan genug Werkzeug zur Hand, um alle potentiellen
Little Green Man-Award-Kandidaten schön genüßlich zu zerpflücken.
Damit hätte ich für mich erst mal geklärt, wie ich diese ganzen Fragen und Probleme angehe, wenn man Phantastik und sonstige Literatur auseinander halten will. Nekropole warf das schöne Wort Königsklasse ein. Von meiner Warte aus betrachte ich schon länger die Phantastik als Königsklasse der Literatur, denn hier spielen die wirklich wagemutigen Fabulateure (andererseits kann man hier auch leichter ILM-Effekte dazu mißbrauchen von sonstigen Schwächen abzulenken).
Bei allen die es nervt, welche Werke bei Eco so angeführt werden, weil das irgendwelche obskuren alten Schinken sind, möchte ich mich entschuldigen. - Danke für die Geduld.
Grüße
molosovsky
P.S.: Bearbeitung - Schludrigkeiten augebügelt.
Bearbeitet von molosovsky, 22 März 2004 - 11:31.