Hallo alle miteinander.
Sorry, daĂ es lĂ€nger dauerte. AusnĂŒchtern von Feier fraĂ Stunden.
Warum halte ich die folgenden Gedanken ĂŒber sogenannte Bestseller, speziell die QualitĂ€tsbestseller, fĂŒr beachtenswert, bei der Abzirkelung der Frage »Was ist gute SF«?
Zum einen, weil Unklarheiten ĂŒber Evaluierung von QualitĂ€t hoffentlich ausgerĂ€umt werden können (kurzfristig, langfristig);
andererseits, weil gerade die Aufmerksamkeit des Akademischen fĂŒr die Ausnahmeerscheinung der (literarisch) anspruchsvollen Massenerfolge zeigt, daĂ sich etwas tut in Sachen Literaturkritik. AnknĂŒpgungspunkte sind da.
AuĂerdem geht es hier auch um mögliche EIgenschaften von SF-Texten, die sowohl eingefleischte Genre-Fans als auch unbedarfte Normalos zu bezaubern weiĂ.
Die zusammengefassten Texte stammen wieder von Umberto Eco:
Zum ersten der Streichholzbrief
»Was ist ein Bestseller?« (l'espresso, 1994) zu finden in
»SÀmtliche Glossen und Parodien« (Hanser 2002, Seite 575);
Zum zweiten ein Auszug (ĂŒber QualitĂ€tsbestseller) aus
»Intertextuelle Ironie und mehrdimensionale LektĂŒre« (Vortrag, 1999) zu finden in
»Die BĂŒcher und das Paradies« (Hanser, 2003, Seite 215 ff)
Meine Anmerkungen wieder in {eckigen} Klammern.
AbkĂŒrzung fĂŒr QualitĂ€tsbestseller = QB.
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BEGINN ECO - TEXT EINS: ĂŒber Bestseller
Bestseller ist problematischer Begriff, weil
a) eine rein kommerzielle Kateogorie, schmeiĂt sehr unterschiedliche Werke in einem Topf (z.B.: Bibel, Pinocchio und Barbara Cartland); und
b) darunter vier verschiedene Dinge verstanden werden.
A) »best sold books«: BĂŒcher die sich eine Zeit lang gröĂter Beliebheit erfreuen (z.B. Onkel Toms HĂŒtte, Johanna Schopenhauer, Ritterromane);
B) »longseller«: Die
immergrĂŒnen BĂŒcher, die nicht 100 mal in den groĂen Stadtbuchhandlungen, sondern ĂŒbers Jahr jeden Tag in den kleinen Umlandbuchhandlungen verkauft werden. Werden von den Auswertungen nicht erfaĂt. (z.B. Bibel, Der Kleine Prinz, Siddharta) - {Also umschauen, was und wie Verkauf ausgewertet wird. Wie aussagekrĂ€ftig ist die amazon-Verkaufsrangliste? Wo bekommt man Jahres, Decaden und Milleniumsverkaufslisten her oder internationale Vergleiche? Im Börsenblatt des Buchhandels findet sich zumindest eine Verkaufsrangliste verschiedenster LĂ€nder.}
C) »best selling books«: BĂŒcher mit enormen Erfolg bei Erscheinen, der aber nicht notwendigerweise lang anhĂ€lt. - {Siehe Remitenten-Ramsch-LĂ€den; Dieter Bohlen, Stefan Effenberg, Martin Walser oder Judith Hermann wurden bei mir ums Eck bereits nach wenigen Wochen wieder zum halben Preis als MĂ€ngelexemplar verscherbelt.} - Weil Verlage (oder Konzerne) und Buchhandel damit gut gut verdienen, werdenâ Š
D) »best to sell books«: â Šgeneriert, extrich fĂŒr den Massenverkauf
entworfene BĂŒcher. Rezept: ein bischen Sex, ein bischen Geld, ein bischen Verbrechen, ein bischen Leben der höheren Kreise, oder auch â Š eine gut beschriebene Erektion pro Kapitel; â Š eine gut kalkulierte Mischung aus Tod und Grauen - Solche BĂŒcher zwecks Geldverdienen gab es und gibt es zu allen Zeiten, manche haben wegen ihrer
mythologischen QualitĂ€ten ĂŒberlebt (Alexandre Dumas).
Man darf nicht vergessen, daà Dante, Ariost (»Der Rasende Roland«), Manzoni (»Die Verlobten«) zu ihrer Zeit sich gut verkauften. Immerhin: wohl alle Schriftsteller wollen ein gutes Buch produzieren und (dennoch) von möglichst vielen Menschen gelesen werden (Ausnahme: provozierende Verweigerungs-Avantgarde, --> Arno Schmidt, W. S. Burroughs). Eco dann wörtlich:
»Ein gutes Buch schreiben zu wollen ist aber etwas anderes als einen Best-to-sell-Roman
mit einer Erektion pro Kapitel zu schreiben.«
Ăber eine Untersuchung Gian Ferrettis von 1994 ĂŒber QB (z.B. Italo Calvino »Wenn ein Reisender in einer Winternacht«). QB verkaufen sich gut,
»ohne mit Ingredienzen zu operieren, die dem Leser per se gefallen mĂŒĂten.«. QB erlauben LektĂŒre fĂŒr
naiven Leser auf einer ersten Ebene, und fĂŒr
gebildetere Leser auf stufenweise weiteren Ebenen (Zikkurat-BĂŒcher). Prinzip bekannt von Bibel oder jĂŒdischer Hermeneutik: neben dem Wortsinn noch mehere andere Sinne {z.B. in der Bibel: wörtlich, geistlich, historisch, allegorisch}.
In den letzten Jahren wurden immer mehr BĂŒcher nach diesem Stufenmodell geschrieben, was gut funktioniert z.B. bei Science-Fiction (William Gibson) oder Avantgarde (Thomas Pynchon). Solche Werke streben nach einem mehrschichtigen erzĂ€hlerischen SelbstbewuĂtsein, wie es historische
Longseller unabsichtlich schon immer taten â Š oder ausdrĂŒcklich absichtlich, wie Dante mit seiner »Göttlichen Komödie«
ECO - TEXT ZWEI: spezieller zu QualitÀtsbestseller
QB ist Buch, das vielen gefĂ€llt, obwohl es einen gewissen kĂŒnstlerischen Anspruch hat, sowie
»Leser mit Problemen und Verfahrensweisen konfrontiert, die frĂŒher allein das Kennzeichen der Elitekunst waren.«
Man beachte die möglichen Betrachtungsweisen:
1. Ist ein QB angelegt auf PopularitÀt und nutzt aber auch anspruchsvolle Textstrategien; oder
2. ist QB ein anspruchsvoller Roman, der mysteriöserweise populÀr geworden ist.
- Nimmt man 1. an, dann fragt man nach einer Strukturanalyse des Werkes. - {Siehe Schreibschulen-Rezepte, MĂ€rchen von Blockbuster-Drehbuch-Software};
- Geht man von 2. aus, unternimmt man ehr Rezeptionssoziologie, beobachtet VerÀnderungen in den Neigungen des Lesepublikums. Man unterschÀtze nicht:
a) Kategorie der
naiven Leser die gesÀttigt sind und Reiz von
Anspruchsvollerem entdeckt;
b) viele Leser heben Techniken der modernen Literatur absorbiert. Eco dazu wörtlich:
»Es handelt sich {beim QB} also keineswegs um auĂergewöhnliche PhĂ€nomene, sondern um solche, die in der Geschichte der Kunst und der Literatur nicht selten vorkommen, auch wenn sie sich von Epoche zu Epoche anders erklĂ€ren lassen.«
{An dieser Stelle nun gleich eine straffe Ăbersicht zum postmodernen ErzĂ€hlens und der Techniken der literarischen Moderne, die in QB eben auch massentauglich Anwendung finden. Ich folge darin dem Anfang des zweiten Eco-Textes.}
Postmodernes ErzÀhlen:
A) SelbstbezĂŒglichkeit: MetanarritivitĂ€t - Eigentlich ein alter Hut, bekannt seit Homers
»Singe mir, Museâ Š« (Beginn der Odysse).
a) Text reflektiert seine eigene Wesensart, oder
b) Stimme des Autors der sich Gedanken macht ĂŒber das macht, was er erzĂ€hlt, und womöglich den Leser auffordert, diese Gedanken zu teilen.
B) SelbstbezĂŒglichkeit / Dialogismus: Texte
»sprechen« miteinander - Offenkundig beim Zitatismus (z.B. Popsong-Titel als KapitelĂŒberschriften). Auch schon alter Hut (Dante zitiert Troubadur Arnaut Daniel). Eco dazu:
»Leser, die nicht imstande sind, diese Form des intertextuellen Zitats zu erkennen â Š sind vom VerstĂ€ndnis ausgeschlossen.«
C) Doppelcodierung: Mischung von hohen und populÀren Elementen {Melodiebögen von Henry Purcell bei den Beatles; Grundmuster des Helden-Weges wie bei Joseph Campell als Grundmuster eines Filmes.} Viele literarische Werke werden von breitem Publikum akzeptiert,
weil sie einen wiedererkennbaren Plot mit spannender Handlung bieten,
obwohl gelehrte Anspielungen und
anspruchsvolle Stilmittel verwendet werden.
Anspruchsvolle Stilmittel (siehe oben --> Kennzeichen der Elitekunst):
- innerer Monolog {James Joyce, Virginia Wolfe}
- Metanarratives Spiel {T.S. Eliot »The Waste Land«}
- Vielzahl der Stimmen bis zur Einmischung {mir fÀllt kein markantes Beispiel ein; hat jemand von Euch VorschlÀge?}
- Aufbrechen der Zeitlichen Folge {bin heute blanko, wieder kein knackiges Beispiel in meinem Hirn}
- rascher Wechsel der Stilregister {Mervyn Peake, Alban Nicolai Herbst}
- Vermischen von ErzÀhlebenen {erste und dritte Person; freie indirekte und erlebte Rede}.
{Nun ist es interessant, sich selbst zu beobachten, welche der folgenen Leserhaltungen man bezĂŒglich der Doppelcodierung hat.}
1. Man mag die Vermengung von
hohen und
niederen Ebenen nicht; setzt voraus, daĂ man die Mischung als solche erkennt.
2. Man fĂŒhlt sich wohl mit dem Wechsel von Schwierigkeiten/Entgegenkommen, Herausforderung/Einladung, feinem Humor/Brachialkomik usw.
3. Man betrachtet Text als liebenswĂŒrdige Einladung, genieĂt Werk ohne die Wechsel zu bemerken (= man kennt den Bezugsrahmen nicht).
ECO ENDE
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Ganz schlimm wÀre es nun, dies alles gleich irre zu ideologisieren, nur weil Begriffe wie
Elite, nieder, hoch, anspruchsvoll usw. gebraucht werden. - Trotzdem könnte man frei die reine Unterhaltung mittels Spannung und Plot mit dem Schauen eines Snooker-Turniers vergleichen, den postmodernen facettenreichen und stilpanoptischen Roman mit einer guten Folge des Philosophischen Quartetts (eigene Liebslingssportarten/Talksendungen einsetzten).
Ich hoffe ein wenig zu Diensten gewesen zu sein, mit diesem Ausflug.
GrĂŒĂe
molosovsky/alwo
Bearbeitung: Schweren Fehler korrigiert (siehe folgenden Sullivan-Beitrag) und eine Klammer geschlossen.
Bearbeitet von molosovsky, 08 April 2004 - 11:36.