(engl. The Crystal World, 1966)
aus dem Englischen übersetzt von Margarete Bormann
Suhrkamp Verlag, 1982
Der Lepra Arzt Edward Sanders wird kurz nach seiner Ankunft in der westafrikanischen Hafenstadt Port Matarre in mysteriöse Ereignisse verwickelt. Eigentlich will er nur für ein paar Tage ein befreundetes Kollegen Ehepaar in Mont Royal einige Kilometer Fluss aufwärts besuchen und persönliche Angelegenheiten ordnen. Doch die Transportwege nach Mont Royal sind unterbrochen und das Waldgebiet um den Ort ein militärisches Sperrgebiet.
Auch in Port Matarre scheint nicht alles normal zu sein. Über der Hafenstadt liegt ein merkwürdiges Licht das nur Hell und Dunkel kennt. Auch die Menschen wirken seltsam farblos. Dafür sind leuchtende, Kristall überzogene Objekte im Umlauf, die aus der Umgebung von Mont Royal stammen und auf dem Markt heimlich gehandelt werden.
Die angespannte Stimmungslage überträgt sich schnell auch auf Dr. Sanders und er beginnt mit der jungen französischen Journalistin Louise, die er in seinem Hotel kennen lernt, bereits in der ersten Nacht eine intime Beziehung. Louise, die der Ehefrau seines Freundes mit der Sanders eine kürzlich beendete Affäre hatte, verblüffend ähnelt wartet indes auf Nachricht ihrer Kollegen die bereits nach Mont Royal unterwegs sind. Ein Ertrunkener der mit Kristall überzogenem Unterarm aus dem Fluss gezogen wird, stellt sich als einer von Louise Kollegen heraus.
Als Sanders endlich eine Transportmöglichkeit nach Mont Royal findet und den Ort betritt, erwartet ihn eine wahre Wunderwelt aus Kristall. Der ganze Wald und alles was in ihm gefangen ist sowohl Gebäude, Tiere als auch Menschen befinden sich in einem fortschreitenden Prozess der Kristallisation. Der Magie des Kristallwaldes verfallen immer mehr Menschen auch seine ehemalige Geliebte Suzanne ist bereits in den Bann des Kristallwaldes geraten.
Sanders erlebt am eigenen Leib die wunderbare und lebensgefährliche Wirkung des Kristallwaldes. Er wird in eine bizarre Auseinandersetzung zwischen dem wahnsinnigen Architekten Ventress und dem Diamantgrubenbesitzer Thorensen hineingezogen, die scheinbar um Ventress Ehefrau geführt wird, aber letztlich nur den Todeswunsch beider Männer befriedigt. Alle Menschen die dem Einfluß des Waldes erliegen, werden von einer unbewussten und unstillbaren Todessehnsucht erfasst. Da sind Leprakranke die in dem Wald ihre Erlösung suchen. Ein Priester erwartet mitten im Wald in einer Kristall gewordenen Kirche seine Vereinigung mit Gott. Die Wissenschaft steht dem eskalierenden Phänomen hilflos gegenüber und entwirft Zeittheorien. Weitentfernte kosmische Ereignisse beginnen den Zeitvorrat des Universums aufzubrauchen. Die Zeit läuft aus. Als Folge erleidet die Materie so etwas wie eine Phasenverschiebung auf subatomarer Ebene (die genaue Begründung ist unglaubhaft aber für das Funktionieren des Roman völlig nebensächlich).
Sanders kann sich dem Einfluß des Waldes noch einmal mit letzter Anstrengung entziehen und flieht. Doch auch ihn hat der Kristallvirus bereits mental infiziert. Er ist nicht mehr in der Lage ein normales Leben zu führen und trennt sich nach seiner Rückkehr endgültig von Louise. Er bricht mit seinem bisherigen Leben und akzeptiert seine unausweichliche Bestimmung ...
Der Roman ist vollgepackt mit Metaphern, mit mythischen und christlichen Bezügen, der wissenschaftliche Hintergrund ist allerdings eine Farce und dient nur als Aufhänger für das Katastrophenszenario. Ballard entwirft in Kristallwelt eine Ästhetik des schönen Todes, dessen sich der Leser genauso schwer entziehen kann wie sein Held. Man kann fast verstehen warum Sanders zwangsläufig seinem unausweichlichen Schicksal entgegenfiebert. Allerdings, bei Lichte betrachtet ist auch ein ästhetisch schöner Tod genauso endgültig wie jeder andere auch und deshalb nicht erstrebenswerter. Man vergisst diesen Tatbestand leicht, da Ballard ein exzellenter Stilist ist und seine Erzählung sich flüssig und geradezu traumhaft schwerelos liest. Kristallwelt ist sicher keine SF aber eine wunderschöne, meisterhafte Erzählung der Phantastik.
Trurl
Bearbeitet von Trurl, 25 März 2004 - 08:51.