Da ich die beiden im Eingangspost erwähnten Stories übersetzt habe, bietet es sich ja förmlich an, meine zwei Cents dazuzugeben. Nun bin ich deshalb sicherlich etwas voreingenommen, andererseits kann ich meine Erfahrungen somit aus Übersetzer- und aus Lesersicht schildern.
Grundsätzlich geht es mir so wie Pogo: Ich mag es abwechslungsreich und kann mich an handwerklich gut gemachter Unterhaltungsliteratur genauso erfreuen wie an Werken mit sozialkritischen Zwischentönen (und an SF genauso wie an Fantasy und Horror). Allerdings hinterlassen bei mir Geschichten, in denen Missstände thematisiert werden, oftmals einen bleibenderen Eindruck. Und da ich bei Zwielicht nicht nur übersetze, sondern eine Übersetzung pro Ausgabe in Absprache mit Mammut und Achim Hildebrandt frei wählen darf (in diesem Fall "Laufschuhe"), spielt das natürlich bei meiner Auswahl eine gewisse Rolle.
Trotzdem versuche ich auch da auf Ausgewogenheit zu achten, und dabei ist gesellschaftliche Relevanz nur eines von vielen möglichen Kriterien. Bei "Laufschuhe" ging es mir bspw. nicht nur um die Darstellung der Zustände in vietnamesischen 'Sweatshops', sondern ganz banal auch darum, dass ich unbedingt etwas von Ken Liu übersetzen wollte (und dass er sein Okay gegeben hat, war eines der Highlights meiner noch jungen Laufbahn). In der vorigen Ausgabe hingegen war die von mir ausgewählte Story von Alyssa Wong eine abgründige Neuinterpretation des Meerjungfrauen-Mythos, was eher in Richtung Dark Fantasy ging, während in der nächsten Ausgabe eine "Friedhof der Kuscheltiere"-Variante von Kristi DeMeester folgen wird, also wieder eher klassischer Horror. Das sind alles Dinge, die ich gerne lese, und die deshalb logischerweise meine Auswahl beeinflusst haben.
Im Gegensatz dazu war "Die Villa Martine" von Mammut vorgegeben. Solch eine Anfang des 20. Jahrhunderts spielende Geistergeschichte übt auf mich als Leser jetzt keinen so großen Reiz aus, aber aus Übersetzersicht hat es trotzdem Spaß gemacht, die blumige Sprache des Originals ins Deutsche zu übertragen (wobei die Gratwanderung, dabei nicht ins zu Gestelzte abzurutschen, eine ganz eigene Herausforderung darstellte). Daran, dass viele Leser an diesen Klassikern Gefallen finden, ist ja nichts verkehrt. Ebenso sicherlich an denen, die gerne Splatter und Gore lesen - was ich nun wirklich überhaupt nicht mag. Aber gerade bei Magazinen, wo für die Stories außer dem Genre keine bestimmten thematischen Vorgaben gelten, ist man gut beraten, möglichst viele verschiedene Leserinteressen zu bedienen. Einerseits ist somit für jeden etwas dabei, andererseits kann man vielleicht sogar noch den Horizont mancher Leser erweitern.
(@Mammut: Kannst du die beiden Mails mit den Rückmeldungen mal an mich weiterleiten? Würde die gerne lesen.)
"What today's nationalists and neosegregationists fail to understand," Kwame said, "is that the basis of every human culture is, and always has been, synthesis. No civilization is authentic, monolithic, pure; the exact opposite is true. Look at your average Western nation: its numbers Arabic, its alphabet Latin, its religion Levantine, its philosophy Greek†¦ need I continue? And each of these examples can itself be broken down further: the Romans got their alphabet from the Greeks, who created theirs by stealing from the Phoenicians, and so on. Our myths and religions, too, are syncretic - sharing, repeating and adapting a large variety of elements to suit their needs. Even the language of our creation, the DNA itself, is impure, defined by a history of amalgamation: not only between nations, but even between different human species!"
- The Talos Principle