8. Februar 2018, 15:33 Ortszeit Sagard
Jessicas Wohnung, Sagard, Rügen, Deutschland
Jessica war drauf und dran, Joan ein weiteres Mal anzurufen, als sie Geräusche auf dem Hof vernahm. Es war Joan. Jessi sah auf die Uhr. 'Mehr als eine halbe Stunde!', dachte sie verärgert. 'Sie muss sich diesen Scheiß endlich abgewöhnen!'
Joan, wohl wissend, welches Donnerwetter auf sie zukommen würde, ließ sie allerdings erst gar nicht zu Wort kommen. „Tut mir leid!“, rief sie, kaum, dass sie das Apartment betreten hatte. „Mein Endgegner hat mir unerwartete Schwierigkeiten bereitet!“
„Das haben Endgegner so an sich!“, erwiderte Jessica ungehalten. „Deswegen sind sie ja auch Endgegner! Aber mit dieser Einstellung wirst Du es nicht weit bei der Ostsee-Zeitung bringen!“
Beide Mädchen hatten vor kurzem ein Volontariat bei der Ostsee-Zeitung ergattert. Ihr Job bestand darin, interessante Personen aus dem Internet zu identifizieren und mit diesen Exklusiv-Interviews zu führen. Mit ihrer Technik- und Computer-Affinität schienen die Beiden ideale Kandidatinnen für den Job zu sein. Jedenfalls war das die Meinung in der Redaktion der Ostsee-Zeitung gewesen.
Nun hatten sie allerdings einen etwas anders gelagerten Auftrag erhalten. Nachdem die bekannte Perry-Rhodan-Serie auf den Jubiläumsband 3000 zusteuerte, sollten sie einen geeigneten Kandidaten aus den Reihen der aktiven Autoren identifizieren und selbständig interviewen. Natürlich mittels der modernen Hightech, die ihnen zur Verfügung stand. Und selbstverständlich aus ihrer 'jugendlichen, unverbrauchten Sicht', wie es die zuständige Redakteurin formuliert hatte.
'Frisch, fromm, fröhlich, frei!', hätte man das wohl früher genannt, wie es Jessi mit einem Anflug von Zynismus gegenüber Joan formuliert hatte. Das änderte jedoch wenig am Resultat. Heute wollten - nein: mussten! - sie die Feinplanung hinkriegen. Und sich für einen der möglichen Kandidaten entscheiden. Ansonsten würden sie in arge Terminnöte geraten.
„Hast Du schon einen geeigneten Kandidaten gefunden?“, fragte Joan unschuldig.
Jessica seufzte.
„Umph!“, machte sie. „Wir sollten und diesen Robert Corvus anschauen. Immerhin hat er einen Youtube-Channel. Und er scheint die technischen Möglichkeiten zu haben, die wir von unserem Interviewpartner erwarten.“
„Was meinst Du mit 'anschauen'?“, wollte Joan wissen. „Videos anschauen?“
Jessi nickte. „Dann kriegen wir schon mal einen Eindruck von ihm!“
Joan setzte sich neben ihre Freundin, während Jessi den Youtube Channel des Autors öffnete.
„7 Tipps zum Umgang mit Kritik“, las sie. „Vielleicht sollten wir damit anfangen. Immerhin könnte es ja sein, dass wir ihn kritisieren müssen!“
„Was Gott bewahren möge!“, bemerkte Jessica grinsend. „Immerhin - 'Kritik ist ein Recht' schreibt er. Das macht ihn ja schon mal sympathisch! Also gut, schauen wir uns das mal an!“
Sehr viel schlauer waren sie nach Ansehen des Videos jedoch nicht. Immerhin wussten sie jetzt, dass Corvus nicht direkt durch den Bildschirm springen würde, sollten sie sich anmaßen, etwa die eine oder andere kritische Frage zu stellen.
„Wir müssen wohl oder übel in Medias res gehen!“, orakelte Jessica düster. „Hier, sieh dir das an.“
„Hyperraum“, las Joan „Einige Überlegungen zu Dimensionen und dem Hyperraum im Zuge der Konzeption eines Science-Fiction-Romans.“
Sie stöhnte. „Haben wir Ahnung von dem Kram?“
„Du vielleicht nicht!“, erwiderte Jessica kühl. „Ich hingegen habe mir letztens immerhin den anderthalb Stunden langen Vortrag von Brian Greene zum Thema 'Hyperspace' angesehen, während Du mal wieder mit einem Endgegner zu tun hattest. Demzufolge bin ich da im Moment ziemlich fit!“
Joan hatte sich die Geschichte schon mehrfach anhören müsste und wusste, dass Brian Greene aktuell der Guru unter den „Hyperspace Freaks“, wie sie nannte, war. Außerdem musste sie zugeben, dass er ziemlich gut aussah, was Jessis Faszination erklären mochte.
„Aber - das sind mehr als vierunddreißig Minuten!“, wandte sie dennoch ein.
„Ungefähr genauso lang wie einer Deiner Versuche, diesen Endgegner zu überwinden!“, bemerkte Jessica. „Komm schon! Du wirst es überstehen!“ Sie spielte das Video ab.
Joan musste sich zwingen, nicht bereits nach wenigen Minuten in einen leichten Schlaf zu fallen. Jessica hingegen schien voll konzentriert und nickte das eine oder andere Mal. Die Argumente schienen nichts neues für sie zu sein.
'Kunststück!', dachte Joan. 'Sie liest ja auch ständig dieses Zeug von Tratlonovich und Rayes!'
Als die Dreißig-Minuten-Marke überschritten war, wurde jedoch auch Joan hellwach. Das Video wäre bald zu Ende. Sie durfte sich jetzt keine Blöße geben.
So entging es ihr auch nicht, dass Robert Corvus sich am Ende seines immerhin 34 Minuten langen Videos zum Thema Hyperraum eine überraschende Bemerkung nicht verkneifen konnte: „Wir wissen ja alle, dass es den in Wirklichkeit nicht gibt... Hä Hä Hä!“
Jessica klickte blitzartig den Pausenknopf und starrte Joan an. Joan war ebenso überrascht.
„Haben wir das jetzt gerade wirklich so gehört?“, wollte sie wissen. „Der Typ labert uns länger als eine halbe Stunde lang voll, um uns dann zu erklären, dass es 'das Zeug' gar nicht gibt?“
„Ja!“, entgegnete Jessica. „Das habe ich genau so verstanden. Ich kann aber gern noch mal ein paar Sekunden zurückspulen!“
Joan winkte ab.
„Muss nicht sein! Also gut - Corvus ist unser Kandidat. Und dann wird er uns eine Reihe unbequemer Fragen beantworten müssen.“
Jessica nickte. „Zum Beispiel, ob er jemals etwas von einem gewissen Theodor Kaluza gehört hat!“
Bearbeitet von Arl Tratlo, 08 Juni 2017 - 12:32.