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Unter welchen Umständen darf die Haupthandlung stark in den Hintergrund treten?

Handlung Plot Nebenhandlungen

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10 Antworten in diesem Thema

#1 Weltraumschrott

Weltraumschrott

    Cybernaut

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Geschrieben 25 März 2019 - 11:35

In einem Ratgeber zum kreativen Schreiben habe ich gelesen, dass die Entwicklung der Handlung eine herausragende Rolle beim Schreiben einnehmen sollte und der Autor die Handlung eher zügig als langsam vorangetrieben werden sollte. In vielen Büchern, die ich gelesen habe, nimmt die Handlung/Haupthandlung tatsächlich viel Raum ein. Beschreibungen der Umgebung, Gedanken der Figuren und Geschehnisse, die mit der Haupthandlung nichts zu tun haben, nehmen meist eher wenig Raum ein.

 

In diesem Thread möchte ich mehr darüber erfahren, unter welchen Umständen ein Zurücktreten der Handlung die Qualität/den Lesegenuss der Geschichte fördert anstatt ihm abträglich zu sein.

 

Hier zwei Beispiele (allerdings aus dem Breich Fantasy):

 

Ben Aaronovitch: Der Galfen von Tyburn (Teil 6 der Reihe)

Als londoner Polizist für Übersinnliches wird Peter Grant mit allerlei mysteriösen und kuriosen Verbrechen und Problemen konfrontiert.

Die Geschichte ist aus der ich-Perspektive des Protagonisten geschrieben.

Es fließen ungewöhnlich viele Gedanken über Dinge, die mit der Haupthandlung nichts oder nur am Rande zu tun haben, in die Erzählung ein: In einer oft lockeren Sprache und auf humorvolle Weise nehmen Anekdoten, historische Hintergründe und Beschreibungen sehr viel Raum ein. Anstatt zu stören, trägt dies zum Lesegenuss bei.

Das liegt möglicherweise daran, dass die Anekdoten etc. u.a. aufgrund der Erzählperspektive als Gedanken des Protagonisten erscheinen und die Anekdoten durchaus unterhaltsam sind.

 

Patrick Rothfuss: Die Königsmörderchronik

In einer mittelalterlich anmutenden Fantasywelt wird die Geschichte des angehenden Magiers Kvothe erzählt.

Die Haupthandlung tritt extrem stark in den Hintergrund. Stattdessen wird auf interessante Weise die Entwicklung des Protagonisten geschildert. Viele kleinere Abenteuer werden beschrieben, während die Haupthandlung für lange Zeit ruht. Die Abenteuer sind meist abgeschlossene, interessante Geschichten und Anekdoten.

Ich kenne keine Geschichte, in der die Haupthandlung derart lange ruht bzw. in den Hintergrund rückt. Dennoch handelt es sich um eines der besten Bücher, dass ich jeh gelesen habe.

Möglicherweise braucht es gar nicht eine einzelne, ununterbrochene Handlung, um den Leser zu unterhalten. Stattdessen können scheinbar auch viele, kleine Geschichten unterhaltsam sein.

 

 

 



#2 Uwe Post

Uwe Post

    FutureFictionMagazin'o'naut

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Geschrieben 25 März 2019 - 14:35

Ich kann Dir dazu meine Einschätzung als Autor nennen, aber die ist sicher alles andere als allgemeingültig, ferner kommt es eigentlich mehr auf die Einschätzung von Lesern an  :happy:

 

Ich finde die Entwicklung der Haupthandlung für einen Roman wichtig, weil das den Leser bei der Stange hält. Er oder sie möchte wissen, wie die Quest des Helden endet, ob der Protagonist am Ende seine große Liebe findet oder was hinter dem "großen Geheimnis" steckt, dem die Helden auf der Spur sind. Am besten funktioniert das, wenn der Leser dabei mit den Handlungsträgern mitfiebert, und dazu sollte er mit ihnen sympathisieren können.

 

Damit sind wir schon bei einem sehr guten Grund für Nebenhandlungen: Diese können dazu beitragen, dem Leser die Protagonisten ans Herz wachsen zu lassen. Sei es in Form von Rückblenden oder Anekdoten oder kleinen Nebenhandlungssträngen. Eine Figur (und damit der Roman) wirkt viel lebendiger, wenn z.B. der Weltraumtramp einem Sturmtruppler heimlich ein Herzchen auf die Rüstung malt, als wenn nur da steht: "Manchmal kam Smith auf seltsame Ideen".

 

Gerade in der Fantasy, aber auch in Ferne-Welten-SF, kommt es außerdem darauf an, die fiktive Welt lebendig erscheinen zu lassen. Das funktioniert mit ausufernden Beschreibungen, aber auch mit Nebenhandlung, denn nur eine komplexe, vielschichtige, mit allen Sinnen beschriebene Welt wirkt real und nicht wie eine Kulisse aus lieblos bemalter Pappe. In lebendige, real wirkende Welten taucht ein Leser lieber ein als in eine oberflächlich beschriebene, die ihm fremd ist.

 

Ein weiterer Grund für das Zurücktreten der Haupthandlung: Wenn der Autors den Fokus nicht auf der Unterhaltung des Leser legt, sondern wenn er ihm etwas "mitteilen" möchte, das ihm am Herzen liegt.  Das sind oft philosophische, aber auch sozial- oder naturwissenschaftliche Diskussionen. Das Resultat ist dann oft nicht wahnsinnig spannend, aber lehrreich, es regt zum Nachdenken an. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der erste Roman der neuen SF-Reihe von Heise Online ("Die letzte Crew des Wandersterns"). Dessen Haupthandlung kann man in einem Satz zusammenfassen, nichtsdestotrotz ist das ganze Buch lesens- und nachdenkenswert.

 

Schließlich gibt es die Form des Episodenromans. Ich kenne das aufgeführte Beispiel von Rothfuss nicht, aber es scheint nach Deiner Beschreibung in diese Richtung zu gehen. Gibt es auch in der SF, allerdings ist mein persönlicher Eindruck, dass es hilfreich ist, zumindest zwischen einigen Episoden Verknüpfungen zu schaffen. Auch das wirkt dann sehr real, denn genau so funktioniert ja unsere Welt: Ganz viele Dinge geschehen gleichzeitig, aber viele hängen auf teilweise überraschende Weise miteinander zusammen. Ein Beispiel aus der SF hierfür wäre Eschbachs "Haarteppichknüpfer". Allerdings glaube ich, dass ein solcher Episodenansatz auch gehörig in die Hose gehen kann, weil er nicht den Erwartungen der meisten Leser entspricht. Natürlich kann man auch bewusst mit Gewohnheiten brechen, aber es birgt ein Risiko. Man muss als Autor sein Handwerk gut beherrschen, um sich nicht zu verzetteln und letztlich nur eine Sammlung von Kurzgeschichten im gleichen Universum als "Roman" erscheinen zu lassen.


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#3 Weltraumschrott

Weltraumschrott

    Cybernaut

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Geschrieben 26 März 2019 - 09:43

Hallo Uwe,

Danke für deinen Beitrag. Du hast ja mehrere Gründe dafür genannt, die Erzählung zumindest zeitweise in den Hintergrund rücken zu lassen. Darüberhinaus wird für einen Schriftsteller sicherlich eine wesentlich Frage sein: Akzeptiert der Leser, dass die Erzählung in den Hintergrund tritt?

Du hast ja in Deinem Beitrag bereits darauf hingewiesen, dass es häufig die Haupthandlung ist, die den Leser bei der Stange hält. Bei Geschichten, in denen die Haupthandlung stark in den Hintergrund rückt, müssten dementsprechend die Elemente, die mehr Raum einnehmen (Beschreibungen, Anekdoten etc.), dies kompensieren, also entweder (auch) unterhaltsam sein oder dem Leser Bedeutung vermitteln.

In den beiden oben genannten Beispielen sind die Elemente unterhaltsam, sodass der Leser das Buch nicht aus der Hand legt. Außerdem erfüllen sie auch noch von Dir genannte Gründe, für deren Einsatz: Die Welt bzw. deren Figuren wirken echter und veranlassen den Leser gedanklich stärker in die erdachte Welt einzutauchen.



#4 Uwe Post

Uwe Post

    FutureFictionMagazin'o'naut

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Geschrieben 26 März 2019 - 10:00

 

 

Akzeptiert der Leser, dass die Erzählung in den Hintergrund tritt?

Solange das vorübergehend ist und der Leser sich nicht langweilt, sicher. Es kann passieren, dass Leser für sie weniger interessante Abschweifungen überblättern oder "querlesen", bis es mit der für sie interessanteren Haupthandlung weitergeht.

 

Es gibt noch einen Spezialfall: Eine Geschichte mit anfangs mehreren Handlungsebenen, bei denen erst nach und nach klar wird, in welchem Zusammenhang sie stehen, bzw. was eigentlich die Haupthandlung ist. Ich finde, dass in solchen durchaus reizvollen Fällen nach etwa 10% des Buchs (bei Drehbüchern ist hier üblicherweise der erste "Plot Point"), spätestens aber nach einem Drittel, klar sein sollte, worin die Haupthandlung besteht. Sonst besteht die Gefahr, dass der Leser die Orientierung verliert oder nicht versteht, was der Autor von ihm will.


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#5 Frank Lauenroth

Frank Lauenroth

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Geschrieben 26 März 2019 - 10:49

Es gibt noch einen Spezialfall: Eine Geschichte mit anfangs mehreren Handlungsebenen, bei denen erst nach und nach klar wird, in welchem Zusammenhang sie stehen, bzw. was eigentlich die Haupthandlung ist.

Warum muss ich jetzt gerade an 'Sterne in Asche' denken? ;)


† In memoriam Michael Szameit / Christian Weis / Alfred Kruse / Rico Gehrke                                                          : Aktuelle Projekte und neue Veröffentlichungen :                                                'Gleich' ist der Tod des kleinen Mannes.


#6 AlvarBorgan

AlvarBorgan

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Geschrieben 26 März 2019 - 10:51

Sehr schöner Beitrag von Uwe Post.

 

Meine 2 cents:

Mir persönlich fällt es schwer, Handlung zackig voranzutreiben, selbst in Kurzgeschichten, bei denen Weglassen und Verdichten ja unumgänglich ist.

Wo ich mir doch so viele Gedanken zum Setting, den Hintergründen und dem Zukunftsentwurf gemacht habe ...

 

Ich bin also wohl jemand, dem der Ratschlag der Schreibratgeber hilft, sich zu fokussieren.

 

Filme werden immer schneller geschnitten, statt Spielfilmlänge schauen wir kürzere Serien, Online-Texte werden bis zur Twitter-Länge verkürzt - wir werden an kürzere Formate gewöhnt, die schnell zur Sache kommen. Daher scheint mir der Ratschlag schon sinnvoll, wenn man heutige Leser erreichen will. Ich werde mir eher Gedanken machen, wie ich besser darin werde, mit Drive zu erzählen.

 

Klassischerweise durfte ein Roman natürlich beliebig abschweifen, bis hin zur "Suche nach der verlorenen Zeit". Da drehte sich die Welt aber auch noch langsamer.



#7 Ender

Ender

    Temponaut

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Geschrieben 26 März 2019 - 11:00

Filme werden immer schneller geschnitten, statt Spielfilmlänge schauen wir kürzere Serien, Online-Texte werden bis zur Twitter-Länge verkürzt - wir werden an kürzere Formate gewöhnt, die schnell zur Sache kommen. [...]  Klassischerweise durfte ein Roman natürlich beliebig abschweifen, bis hin zur "Suche nach der verlorenen Zeit". Da drehte sich die Welt aber auch noch langsamer.

 

Das würde ich so nicht unterschreiben.

Der Reiz bei Serien liegt ja gerade darin, dass sie sich - im Gegensatz zu 90-130minütigen Filmen - die Zeit nehmen, eine LÄNGERE Geschichte zu erzählen. Die einzelnen Folgen einer Serie mögen kürzer sein, aber in der Gesamtheit ist sie viel ausführlicher. 

Und auch in der Literatur, und hier gerade in der Phantastik, ist der Trend zu Trilogien oder noch längeren Reihen ja ungebrochen.

 

Mir geht es da eher umgekehrt so, dass ich mir oft wünsche, sie würden schneller zur Sache kommen ...



#8 Uwe Post

Uwe Post

    FutureFictionMagazin'o'naut

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Geschrieben 26 März 2019 - 11:09

Wollte ich auch gerade sagen  :happy:  SerienFOLGEN sind natürlich kürzer als Spielfilme, aber ich denke, da muss man jeweils Staffeln als Einheit betrachten (Anthologieserien natürlich ausgenommen). Serien eignen sich zur Umsetzung vieler Romane viel besser, Spielfilme können dem Inhalt oft nicht gerecht werden. Selbst eine ausufernde Filmtrilogie wie Herr der Ringe hat ja einiges aus den Büchern weggelassen.

Tatsächlich finde ich aber auch umgekehrt, dass viele Serien ihre an sich eher dünne Handlung zu sehr auswalzen. Ich denke aber, das hängt stark vom Geschmack des Betrachters bzw. Lesers ab. Sieht man ja auch an Enders Kommentar, der sich (wie ich oft auch) wünscht, manche Autoren würden etwas schneller zur Sache kommen. Als Leser lasse ich die Finger von Trilogien, ich konsumiere lieber mehrere verschiedene Geschichten als eine extrem lange. Aber da gibt es eben unterschiedliche Vorlieben. Heißt: Als Autor sollte man sich sorgfältig überlegen, wer die anvisierte Zielgruppe ist, und ob daher eine 3x800-Seiten-Trilogie oder ein knackiger 300-Seiten-Einzelroman der bessere Plan ist.


Bearbeitet von Uwe Post, 26 März 2019 - 11:10.

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#9 Dyrnberg

Dyrnberg

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Geschrieben 26 März 2019 - 11:19

Ich für mich definiere "Literatur" auch und im Besonderen daran, dass mir als Leser die Haupthandlung nicht unglaublich wichtig ist, sondern dass ich die Geschichte lese, weil mir der Weg (der Lektüre) Freude bereitet, nicht unbedingt das Ziel (wie geht die Sache aus?).

 

Exemplarisch: Bei "Der Zauberberg" ist mir die Haupthandlung völlig egal. Auch das Ende... egal. Jede Seite selbst ist ein Genuss. Ob eine Szene nun eine Story "vorantreibt" oder nicht, ist völlig sekundär. Oder, damit man nicht nur im Olymp, sprich bei Thomas Mann, bleibt: Wenn ich einen Roman von Franzen fertig gelesen habe, kann ich zwei Wochen später schon nicht mehr die Haupthandlung nacherzählen, weil sie eben für den Lesegenuss quasi sekundär war.

 

Ich fürchte, mein Fazit als Leser hilft jedoch keinem Autoren weiter, denn es lautet: Wenn jemand erzählen kann, darf er alles. Auch die Haupthandlung völlig in den Hintergrund treten lassen, weil es mir als Leser in diesem Fall nicht mal auffällt.



#10 AlvarBorgan

AlvarBorgan

    Ufonaut

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Geschrieben 26 März 2019 - 13:26

Was die Gesamtlänge von Serien angeht, habt ihr natürlich Recht. Und der Zauberberg ist ein sagenhafter Roman. Aber eben auch aus einer anderen Generation. Anderes Beispiel: Ich bin ja großer Fan von William Gibson. Aber ich wünsche mir, er würde mehr Wert auf Handlung legen, statt solange am Design der Inneneinrichtung seiner Zukunftswelt zu feilen.

#11 Uwe Post

Uwe Post

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Geschrieben 27 März 2019 - 11:31

... und falls es nicht schon jedem klar gewesen wäre, zeigen die beiden letzten Postings, dass die Geschmäcker verschieden sind.

 

Im Fall der hier im Forum diskutierenden SF-Autoren, die wohl alle ein bisschen weniger berühmt sind als Thomas Mann oder William Gibson, ist es schon wichtig, sich zu überlegen, welche Maßnahmen geeignet sind, um eine möglichst große Zielgruppe zu erreichen. Denn 1000 oder 500 oder 100 oder 50 oder 10 oder 5 Leser (Käufer), das sind die Dimensionen, von denen wir reden. Natürlich kann man auch schreiben, wie einem die Nase gewachsen ist, ohne über Zielgruppenwirkung nachzudenken. Ich fürchte allerdings, Autoren, die das tun, landen meist (nicht immer!) bei den letztgenannten Zahlen. Die, die sich etwas mehr Gedanken machen, bei den mittleren  :happy:

 

Was eigentlich eine Binsenweisheit ist.


Bearbeitet von Uwe Post, 27 März 2019 - 11:32.

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