Dann reihe ich mich doch verspätet in den Chor der Lobliedsänger ein:
Niels Westerboer- "Athos 2643"
Der DSFP-Gewinner 2023 in der Kategorie "Bester Roman" stand seit einiger Zeit auf meiner "to-read"-Liste. Dank der Leseschallenge habe ich ihn nun wesentlich früher gelesen, als es ohne den äußeren Anreiz der Fall gewesen wäre. Um es vorweg zu sagen: Die Lektüre hat sich mehr als gelohnt!
Auf dem ehemaligen Bergwerk-Asteroiden Athos, der heute einem reinen Männerkloster Heimstatt bietet, ist ein Mönch gestorben, als er scheinbar ohne äußeren Einfluss ins Straucheln geriet. Das Problem: Das dürfte eigentlich gar nicht geschehen, weil eine MARFA, eine Künstliche Intelligenz, die die Infrastruktur und die Abläufe auf Athos überwacht, solch einen Zwischenfall eigentlich gar nicht hätte zulassen können.
Inspektor Rüd soll die Hintergründe des Vorfalls aufklären und vor allem dafür sorgen, dass die MARFA ihre ethische Grundeinstellung von "util" zu "deon" ändert. Denn nur im "util"-Modus, der das Glück bzw. das Gute für die meisten Asteroidenbewohner maximieren will, ist es überhaupt denkbar, dass die KI auf die Idee kommt, der Tod eines Mitglieds der Gemeinschaft könne für die gesamte Gruppe von Vorteil sein. Problem: Diese Umstellung kann nur die MARFA selbst vornehmen. Dafür muss sie im "util"-Modus davon überzeugt werden, dass "deon" die bessere Alternative sei.
Unterstützt wird Rüd ebenfalls von einer KI namens Zack, deren oberste Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass Rüd nichts Schlimmes zustößt. Sie kümmert sich um Rüds Wohlbefinden. In jeder Hinsicht. Jeder! Ihre äußere Erscheinung entspricht nicht ganz Rüds Vorgaben seiner idealen Frau, kommt dem aber schon sehr nahe.
Gegen den Widerstand der Kloster-Oberen (die eine KI mit weiblicher Erscheinung erst gar nicht ins Kloster lassen wollten) klärt Rüd die Hintergründe des tödlichen Strauchelns eines Mönchs auf und schafft es nach dramatischen Wendungen, bei MARFA die entsprechende Umstellung der Ethik-Grundeinstellung zu bewirken. Aber Rüd trägt auch noch einige unbewältigte Lasten aus seiner Vergangenheit mit sich herum. Wird er endlich akzeptieren, dass seine Ex-Frau Phi nichts mehr mit ihm zu tun haben will? Und wie entwickelt sich die Beziehung zu Zack, wenn er ihr volle Entscheidungsfreiheit einräumt?
Das Besondere an dem Buch: Es ist komplett aus Zacks Perspektive geschrieben. Und das löst Westerboer meisterhaft. Er schafft es, dem Leser kompromisslos die Sicht einer KI auf die Welt zu vermitteln. Zack greift auf einen Riesen-Datenfundus zurück und sammelt permanent neue Daten. Dadurch schafft sie es, mit hoher Sicherheit die Handlungen der Menschen vorherzusagen. Aber sie versteht nicht wirklich die Motivationen und die Gefühle dahinter.
Das wäre bereits bemerkenswert, würde das Buch aber noch nicht zu etwas Besonderem machen. Aber Westerboer vermittelt diese grundsätzlich andere Welterfahrung auch auf der sprachlichen Ebene. Zacks Sprache hat eine eigene Textur, einen eigenen, nicht ganz menschlichen Grundgeschmack, der sich dem Leser untergründig vermittelt. Und er schafft es, dabei trotzdem nicht nur lesbar, sondern geradezu hypnotisch zu schreiben.
(Der einzige Kritikpunkt: Zu Beginn des 2. Teils (etwa nach zwei Dritteln des Romans) eskaliert mir die Action etwas zu sehr. Ich konnte nicht mehr nachvollziehen, warum ein derartiger Aufstand gemacht werden musste, um sich davon zu überzeugen, dass die MARFA auf "deon" umgeswitcht hatte. Aber das gibt sich nach wenigen Seiten wieder.)
Ich kann mich nur an wenige Bücher erinnern, die mir die grundsätzliche Andersartigkeit eines Protagonisty dermaßen eindrücklich vermittelt haben. "Athos 2643" hat so viele philosophische Probleme angesprochen, dass ich sicherlich noch einige Tage darüber nachdenken werde. Aber dies geschieht absolut unaufdringlich mit wohldosiert eingestreutem Infodump, der den Verlauf der eigentlichen Geschichte nicht nur nicht stört, sondern sogar voranbringt. Und am Ende ist der Quasi-Krimi-Plot gar nicht mehr wichtig. Ich kann mich an kein anderes Buch erinnern, das mir die Denkprozesse und die Erfahrungswelt einer KI dermaßen nahegebracht hat.
Ein würdiger Preisträger. Und einer der besten original deutschsprachigen SF-Romane seit langem!
Gruß
Ralf,
hat gegoogelt, wie eine "aristokratische Nase" aussieht, weiß es aber immer noch nicht
(Habe ich damit den "Turing-Ob"-Test bestanden?)