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[Textauszüge] "Paradision"


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3 Antworten in diesem Thema

#1 utopia

utopia

    Nochkeinnaut

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Geschrieben 29 August 2004 - 06:28

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Eine utopische Erzählung über einen beinahe-perfekten Staat, parallel dazu der Bericht über die Verstrickung in eine Verschwörung:
Eine Kellnerin sieht in die Zukunft: Endlich haben die Menschen es geschafft. Im Immerwährenden Reich muß keiner mehr für seinen Lebensunterhalt sorgen, Krankheiten gibt es nicht, alle sind glücklich und zufrieden. Die Gründer des Weltstaats haben Fehler vergangener Zeitalter ausgemerzt. Langeweile, Überdruß, Kinderfeindlichkeit, die zum Untergang vergangener Kulturen führten, sind unbekannt. Es ist wie im Paradies.
Ein junges Erzieherpaar teilt die Begeisterung der Bevölkerung für die Regierung. Bis eines Tages einer ihrer Schüler entführt wird. Auf der Suche nach ihm entdecken sie das schreckliche Geheimnis um die Entstehung des Reichs ...

Kostenloser Download des vollständigen Romans als pdf und als doc unter

http://www.christian-von-kamp.de/

Anbei zwei Textauszüge. Bin gespannt auf Eure Kommentare.


Auf den Höhepunkt ihrer Reise bereiteten sich alle durch ein mehrtägiges Fasten vor. Dann brachen sie auf, zum Zentrum von Magna.
Auf den ersten Blick waren die Neulinge enttäuscht. Unter dem "Tempel der Verehrung der Weisen" hatten sie sich etwas anderes vorgestellt. Zugegeben, der erzene Kubus war riesig - aber eben vollkommen schmucklos. Man betrat ihn durch eine fast unscheinbare Öffnung, kaum mehr als ein größeres Loch, über dem eine Tafel mit der Aufschrift "Zum besten aller" hing.
Doch kaum waren sie eingetreten, als ihnen fast die Augen übergingen. Sie waren geblendet von solch einer Schönheit.
Das eigentliche Heiligtum befand sich in der Mitte der von außen nüchternen, innen aber glänzenden Hülle. Es war eine über dem Boden schwebende Kugel von der Größe eines mehrstöckigen Wohnhauses. Ihre Farbe bestand aus einem tiefen Blau, das mit unbegreiflicher Intensität leuchtete. In dem Blau flossen, in den Formen wuchernder und vergehender Pflanzen, Bäche von Gold. Jun fühlte sich entfernt an Lapislazuli erinnert, doch was sie hier sahen, war tausendfach prächtiger.
Die Luft duftete süßlich, und alle fühlten sich ungewöhnlich wohl, als sie sich auf Spiralwegen aus weichem Metall dem ersehnten Sanktuarium näherten. Und dann standen sie unmittelbar vor dem schwebenden Wunder und konnten ihre Augen nicht wegwenden von diesem faszinierenden Schauspiel.
Nach und nach traten die Besucher auf eine Plattform, die sich direkt unter der Kugel befand. An dieser Stelle hatte sie eine kreisrunde Öffnung, und jeder, der unter ihr stand, schwebte langsam nach oben in ihr Inneres hinein.
Oben befand sich eine ebensolche Öffnung, aus der die Verehrer wieder herausschwebten und sanft auf einer dort angebrachten Rampe abgesetzt wurden.
Man kam einzeln oder paarweise ins Heiligtum hinein. Keine Frage, daß Mai und Jun gemeinsam hochschwebten. Dabei hatten sie ein kribbeliges Gefühl im Bauch.
Im Inneren war es vollkommen still. Tiefe Dunkelheit umgab sie, nichts ließ sich erkennen. Sie merkten, daß die Bahn ihres Schwebeflugs sich änderte und eine Kraft sie zur Seite zog. Langsam, ganz langsam, wurde es hell. In einem weiten Kreis bewegten sie sich um das Zentrum der Kugel herum. Und dort sahen sie eine Projektion - oder war es eine Vision? Um einen großen Tisch herum, auf dem sich ein Modell des Reichs mit Bergen und Flüssen, mit den Städten und natürlich mit Magna befand, lagen fünfzig ältere Frauen und Männer mit unterschiedlicher Hautfarbe, gekleidet in strahlend weiße Gewänder, die meisten von ihnen mit langen grauen Haaren, und schienen zu diskutieren. Das mußte er sein, der Rat der Weisen, von dem sie schon so oft gehört hatten! Hier, in diesem Gremium, fielen die Entscheidungen zum Wohl aller Bewohner des Reichs. Welch ein Anblick war ihnen da vergönnt: Sie durften sie sehen, die Erhabenen und Edlen, die mit Weisheit Erfüllten, denen jeder einzelne Reichsbürger so unfaßbar viel verdankte!
Immer wieder umkreisten sie diese Gestalten und fühlten sich dabei so unsagbar glücklich! Langsam wurde es wieder dunkel, und dann erschien, von Licht umflossen, ein einzelner weiser Mann in einem purpurfarbenen Umhang, würdiger noch aussehend als die anderen, mit tief gefurchtem Gesicht und Vollbart, und sie wußten, es konnte sich nur um den Großen Weisen handeln, der schon seit langer, langer Zeit dem Rat vorstand und der im Volksmund schlicht und einfach "der Alte" genannt wurde. Ernst und schweigend blickte er zu Mai und Jun herüber, die langsam näher und näher an dieses überlebensgroße Bild heranschwebten; dann endlich öffnete er den Mund, und, ihnen zulächelnd, sprach er mit tiefer Stimme: "Sprecht mir nach: Wir wollen alles zum Wohle aller tun!" Mit großem innerem Schauer sprachen die beiden den Satz nach. Und sie verneigten sich tief vor dem Alten.
Auch als die Erscheinung längst wieder entschwunden war, hallten ihre eigenen Stimmen noch lange nach in der Dunkelheit, und der Satz schien sich hundertfach, ja tausendfach zu wiederholen. Und dann trat wieder tiefe Stille ein. Die beiden waren noch so entzückt von dem Geschauten und Gehörten, daß sie kaum wahrnahmen, wie sie wieder nach oben zu schweben begannen. Als sie die Kugel verließen und auf der Rampe landeten, war ihnen, als erwachten sie aus einem Traum. Beide fühlten kurzzeitig einen inneren Schmerz, sie wußten nicht, warum.
Nachher fragten sie Inee, wie viele Stunden sie in der Kugel verbracht hätten. Sie lächelte ihnen geheimnisvoll zu und verriet ihnen, es seien nur wenige Sekunden gewesen.
Tief beeindruckt von allen Erlebnissen, verließ die Schülergruppe Magna. Diesmal folgten sie einem anderen Weg. Doch seltsam, wieder führte dieser zwar durch Wüste und Steppe, aber das Klima war jetzt bedeutend angenehmer als bei der ersten Wanderung durch die unfruchtbare Zone um die Stadt. Ob dies wohl, fragte sich Jun, an den Verborgenen Maschinen liegt? Es war nicht üblich, viel über sie zu sprechen; vermutlich leisteten sie vieles von dem, das die Bewohner des Reichs als fast selbstverständliche Wohltaten hinnahmen.


Klein und dick, Mondgesicht und einen Haarkranz. Ich fühlte mich ein wenig an den Schauspieler und Komiker Danny de Vito erinnert. Eigentlich hatte ich mir einen "Agenten" anders vorgestellt. Nachdem ich mich im Hauptbahnhof durch dichte Menschenmassen gedrängt und mehrere Haken geschlagen hatte, um mögliche Verfolger abzuwimmeln, stieg ich in einen großen schwarzen Wagen mit undurchsichtigen Scheiben (Ich weiß, ich weiß, aber was kann ich dafür, wenn die Wirklichkeit so viele Klischees bedient?).
Oliver gab mir nicht die Hand, ja er schaute mich zuerst nicht einmal an. Daher äußerte auch ich mich nicht und verharrte still neben ihm. Auf ein Zeichen Olivers hin setzte der Chauffeur den Wagen in Bewegung.
Der Agent wirkte, als sei er in Gedanken versunken. Endlich kamen - halblaut - Worte über seine Lippen, aber er schien zu sich selbst zu reden und meine Gegenwart gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
"Daß Künstler einfach nie darüber nachdenken, was ihre Kunst anrichten könnte. Alle Welt spricht von Verantwortung, aber Künstler scheinen da eine Ausnahme zu sein ..."
Abrupt wandte Oliver sich mir zu, so daß ich erschrak.
"Ist Ihnen denn überhaupt nicht bewußt, daß Phantasie gefährlich werden kann?" Ich schaltete auf stur und blickte einfach geradeaus. Keineswegs war ich bereit, auf derartige unsinnige Vorwürfe einzugehen. Hätte der Wagen sich nicht in Fahrt befunden, wäre ich ausgestiegen. Ich wollte gerade den Wunsch äußern anzuhalten, als Oliver mit sanfterer Stimme erklärte: "Bitte verstehen Sie uns, Herr von Kamp. Wir sind besorgt ... sehr besorgt. Entschuldigen Sie vielmals, wenn ich mich aus eben dieser Besorgnis heraus ein wenig ungehalten benahm. Tatsächlich beobachten wir, seit Ihr letztes Buch erschienen ist, gewisse nachahmende Tendenzen. Auch aus dem Ausland wurde uns derartiges zugetragen. Sie werden verstehen, wenn ich Einzelheiten nicht vor Ihnen ausbreite, auch keine Quellen nennen darf."
Er schwieg. Überrascht und neugierig zugleich wartete ich.
"Wir sind uns gar nicht sicher, daß Ihr Buch immer der eigentliche Auslöser solch radikalen Gedankenguts war. In einem Fall konnten wir mit hundertprozentiger Sicherheit den Zusammenhang mit Ihnen - vielmehr mit Ihrem Roman - ermitteln. In einem oder zwei anderen Fällen sieht es eher so aus, als hätten sich Ideen, die den Ihren ähnlich sind, zeitgleich andernorts entwickelt. Sie sind erstaunt?" Er grinste mich breit an. "Tatsächlich konnten wir immer wieder beobachten, daß vergleichbare radikale Gedanken sich parallel in verschiedenen Gegenden, manchmal sogar Weltteilen, entfalten. Und das ist der Punkt ...", er nickte mir mehrfach zu, ehe er fortfuhr, "das genau ist der Punkt, an dem Sie uns helfen können, terroristischem und demokratiefeindlichem Handeln, das auf solchen Ideen aufbaut, vorzubeugen und entgegenzuwirken."
Ich sah ihn fragend an.
"Sie ahnen - nein, Sie wissen es bereits. Unser Wunsch: Bringen Sie Ihre Einfälle zu diesem Thema zu Papier, also Überlegungen zur Eliminierung der Unangepaßten und Unbequemen, zur Gehirnwäsche, zur gewaltsamen oder gewaltfreien Bildung von Regierungen, aber auch z.B. zur Verführung und 'Einlullung' der einfachen wie der anspruchsvolleren Menschen - Gedanken, wie sie Ihnen in den Sinn kommen, sagen wir, um einen weiteren Roman á la 'Dereinst ...' zu schreiben. Und - stellen Sie sie uns zur Verfügung, statt sie in Buchform der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Ihnen ist klar, das hat eine doppelte positive Konsequenz: Zum einen finden sich keine verbrecherischen Nachahmer Ihrer Ideen mehr, zum anderen wissen wir frühzeitig Bescheid, wie Vorstellungen aussehen könnten, die sich - wie gesagt parallel - in anderen Köpfen entwickeln - in Köpfen, die nicht so wohlwollend sind wie Ihr Schriftsteller-Kopf."
Das Wort "wohlwollend" klang mehr wie "naiv". Ich war hilflos und wußte nicht, was ich sagen sollte.
"Herr von Kamp", sagte Oliver geradezu pathetisch, "Herr von Kamp, Sie sind es der Menschheit schuldig. Sie, ja Sie, können Schlimmeres verhüten. - Mit Sicherheit sind Sie Idealist, innerlich berührt Sie der Mammon nicht, das ist sehr schön, aber ... irgendwie müssen auch Sie leben, und Sie wollen Ihr Leben ja auch genießen, nicht wahr? Was ich sagen will: Natürlich werden wir für Ihre Leistung bezahlen, Ihnen entgehen schließlich Einnahmen aus dem Buchgeschäft - und wir zahlen nicht schlecht. Doch das nur am Rande."
"Aber, Herr ... Oliver ... das ganze muß ich mir noch reiflich durch den Kopf gehen lassen ..."
"... sagte der Kunde zur Verkäuferin und ließ sich nie mehr bei ihr blicken. - Hören Sie, ich bin ein geduldiger Mensch, aber man sollte meine Geduld nicht zu sehr strapazieren."
Zuckerbrot und Peitsche. Das liebe ich.
"Bitte halten Sie an!" rief ich dem Fahrer laut zu. Der reagierte nicht.
"Aber, aber", redete Oliver wieder besänftigend auf mich ein und hob seine kurzen, breiten Hände, als würde ich ihn mit einer Waffe bedrohen. "Wollen wir denn Mißverständnisse zwischen uns aufkommen lassen? Sie haben vollkommen recht, nicht einfach auf mein Wort zu vertrauen. Beweise wollen Sie, und die sollen Sie auch erhalten." Er griff in seine Aktentasche und zog eine Mappe hervor. "Hier einige Zeitungsausschnitte, die ... Aber sehen Sie selbst." Er öffnete die Mappe und reichte mir daraus das oberste Blatt. Es war die Kopie eines kurzen Zeitungsartikels. Ich las ihn mehrmals durch. In Österreich waren demnach bei einem jungen Mann, dessen Wohnung die Polizei wegen Verdachts auf illegalen Waffenbesitz durchsucht hatte, große Mengen eines tödlichen Nervengifts entdeckt worden. Außerdem fanden sich bei ihm auch meine sämtlichen Romane, einschließlich 'Dereinst ...', sowie eine Art Schwarze Liste angeblich 'minderwertiger' Menschen seines Wohnorts, einer kleinen Gemeinde nahe Wien.
Oliver gab mir die Kopien zweier weiterer Zeitungsberichte, die diesen Fall betrafen. Dem einen war zu entnehmen, daß die Polizei von einem terroristischen Hintergrund ausging, auch Komplizen vermute, diese aber bisher nicht ermitteln konnte. Der andere Bericht handelte davon, daß mehrere psychiatrische Gutachten übereinstimmend zu dem Ergebnis kamen, der mutmaßliche Terrorist sei nicht geistesgestört, sondern voll schuldfähig.
Ich muß gestehen, bei allem Mißtrauen, das ich Oliver entgegenbrachte, war ich doch schockiert. Mit zitternder Hand gab ich ihm die Blätter zurück.
"Überlegen Sie es sich. Und sobald Sie sich entschieden haben, rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an." Oliver reichte mir eine Visitenkarte. Auf einmal war er die Höflichkeit in Person. "Übrigens: Ich werde natürlich veranlassen, daß Sie nicht weiterhin beschattet werden. WIR vertrauen Ihnen."
Der Wagen hielt an. Oliver legte seine Hand auf meine Schulter. "Eine Kleinigkeit noch, ehe ich es vergesse: Ich empfehle Ihnen freundlichst, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Absolutes! Wir verstehen uns." Es klang allerdings nicht "freundlichst", sondern wie eine Drohung.
Als ich ausstieg, herrschten in mir Unruhe und Verwirrung.

#2 rockmysoul67

rockmysoul67

    Temponaut

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Geschrieben 31 August 2004 - 18:31

Na, dann wollen wir mal.

Zuerst mal zwei Komplimente.

Du hast viel Text geschrieben und den Roman zu Ende gebracht. D.h., du hast Durchsetzungsvermögen. Eine der wichtigen Grundvoraussetzungen, die ein Schriftsteller braucht.

Dann sind der Text und die einzelnen Sätze problemlos zu verstehen.
Viele publizierte Texte sind nur mühsam nachzuvollziehen: Manchmal sind Sätze nur zu verstehen, wenn sie man sie dreimal liest, oder die Sätze an sich sind zwar verständlich, aber der Leser kann den Inhalt nicht auf Anhieb folgen.
Diese Art von Problemen kennst du nicht, denn "Paradision" ist gut lesbar. Du hast die Gabe (oder die Erfahrung) klar und deutlich zu schreiben.

Ende der Komplimente ...

Ich bin nicht begeistert von der Wahl und dem Aufbau des Themas.

Themawahl

Eine Utopie? Die Zukunft und alles scheint gut, aber in Wirklichkeit ist der Wurm drin? Gibt es ein ausgelutschteres Thema?

Okay, das ist meine persönliche Meinung. Es gibt sicher Leute, die eine neu geschriebene Utopie als interessant empfinden.
Doch sogar ich werde begeistert sein, wenn diese Utopie

A ) besonders originell ist. Die Zukunftswelt zeichnet sich z.B. durch eine unbekannte Technologie oder einen unerwarteten sozialen Hintergrund aus. Sie unterscheidet sich von den bisherigen Utopien.

ODER

B ) der Stil ist sehr gut, die Ereignisse sind sehr spannend, ja, der Schriftsteller versteht sein Handwerk und weiss sein Publikum mitzureissen.

Deine beiden Textbeispiele erfüllen nicht Punkt A. Ein bisschen Hypnose oder Zeitverschiebung durch nicht näher beschriebenen mysteriösen Maschinen haut mich nicht vom Hocker. Auch ein drohender Agent in einem schwarzen Wagen nicht. Was Möglichkeit B anbetrifft: Dein Stil und die Handlung sind unzufriedenstellend (siehe weiter unten).

Aufbau

Mir scheint, hier gibt es einen Rahmen in einem Rahmen in einem Rahmen.

Der Leser liest nicht einfach eine Geschichte, die in der Zukunft abspielt. Nein, die Zukunft wird "gesehen" und "erzählt".
(Du schreibst - wir lesen: ) Ein Mann (Rahmen 1) schreibt ein Buch (Rahmen 2) in der eine Kellnerin (Rahmen 3) die Zukunft (eigentliche Erzählung) sieht und beschreibt. Sehe ich das so richtig?

Ich liebe Novellen mit ihren Rahmen. Aber für den längeren, modernen Roman gefallen mir persönlich nur zwei Lösungen. Die Rahmen sind entweder von einem ausgezeichneten Autor stilistisch sehr gut eingebettet oder sie sind sehr einfach gestrickt (nach dem Motto: Jetzt wo wir am Lagerfeuer sitzen, erzähle ich euch mal eine spannende Geschichte; es war einmal ...).

Die Frage ist, ob du diese stilistische Hürde geschafft hast. Um das zu bestimmen, muss man schon den ganzen Roman lesen. Jedenfalls ist es alles andere als einfach, einen Rahmen überzeugend in einen Roman einzubauen. Insbesondere Anfänger erzählen am Besten nur die Kerngeschichte. Stilistische Experimente sind eher erst nach viel Schreiberfahrung angesagt.

Genug zu Themawahl und -Aufbau, kommen wir zu Inhalt und Stil.


Du erzählst nicht, du beschreibst.

Dies ist dein grösster Fehler. Dein Ziel sollte sein, die Leute unterhalten zu wollen, nicht sie mit einem Bericht zu langweilen.

Ich stelle es mir so vor, dass du eine Blaupause hattest (entweder im Kopf oder bereits auf dem Papier), die im etwa so aussah:

Eine Schülergruppe befindet sich vor dem schlichten Tempel/Heiligtum.
Jun und Mai gehen hinein.
Im Innern ist es (Kontrast) sehr schön, Mai und Jun fühlen sich sehr glücklich.
Sie sehen die "Weisen" und sprechen sogar mit dem wichtigsten Weise.
Sie sind sehr, sehr entzückt.
Bei der Rückkehr erfahren sie von der Lehrerin, Inee, dass sie nur ein paar Sekunden im Innern waren (statt mehrere Minuten, wie sie dachten).
Notiz: Hier gibt es erstmals die verborgenen Maschinen.

Oder bei der zweiten Textprobe:

Agent Oliver gibt Schriftsteller (Typus: Selbstbild) eine "Chance". Der Autor muss mit ihm zusammenarbeiten, denn sonst ...

Das sind zwei gute Gerüste, auf die man bauen kann.

Leider bist du bei der Ausarbeitung nicht sehr weit gekommen. Die Endversion ist nicht viel mehr als die ausgeschriebenen Grundgedanken mit ein paar unausgearbeiteten Figuren, hier etwas Dialog hineingeworfen, dort irgendein unwichtiges Ereignischen hinzugefügt. Die Leseproben haben Knochen, aber kein Fleisch.

Du beschreibst, wie die Kinder hineingehen, dort sich auf eine bestimmte Weise fühlen und ein Erlebnis haben.

Aber hat der Leser mit den Kindern mitgefiebert? Nein.

Wenn du eine einzige Person hineingeschickt hättest, hättest du nur ein limitiertes Arsenal gehabt, um deren Empfinden und Gedanken darzustellen.
Du löst dies gut, durch zwei Kinder eintreten lässt.
Aber du nutzt die Gelegenheit nicht. Statt den Kindern miteinander sprechen zu lassen oder ihre unterschiedlichen Gedanken oder Gefühle abwechselnd zu bringen, sagst du nur: Es geschieht a, sie fühlen b, c taucht auf und dann ist es ohne eine Nachbesprechung bei d schon fertig.
Dies ist eine Beschreibung, kein Miterleben.


Sogar der einzige interessante Dialog geschieht indirekt:

Nachher fragten sie Inee, wie viele Stunden sie in der Kugel verbracht hätten. Sie lächelte ihnen geheimnisvoll zu und verriet ihnen, es seien nur wenige Sekunden gewesen.

Wie wäre es mit:

Inee, die Lehrerin, fragte mit einem wissenden Lächeln: "Sagt mal, wie lange glaubt ihr, wart ihr dort drin?"
"Wohl zehn Minuten. Und es war wunderschön!", sagte Mai fröhlich.
"Und doch", sagte Inee, "hat das Ganze nur ein paar Sekunden gedauert."
"Das kann nicht sein", sagte Jun.
"Die Zeit vergeht langsamer im Heiligtum. Ihr wart nur kurz weg."
Mai und Jun schauten zweifelnd in die Runde, doch sie erhielten nur zustimmendes Kopfnicken der anderen Kindern.

Oder bei Gedanken:

Ob dies wohl, fragte sich Jun, an den Verborgenen Maschinen liegt?

Wie wäre es mit:

"Liegt dies an den verborgenen Maschinen?", fragte Jun sich.

Das ist ein echter Gedanke. Schon besser. Oder noch ein bisschen ausbauen, vielleicht so:

"Pfff, es ist viel wärmer als vorhin. Kontrollieren die Maschinen etwa die Temperatur?", überlegte Jun. Sie wollte Inee fragen, doch da fiel ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass ihre Mutter sie eingeschärft hatte, dass Fragen über Weltstrukturen unhöflich sind.


Kommen wir zum zweiten Textauszug.

Hier hast du wohl viel Handlung und Dialog. Es scheint etwas los zu sein: ein Gespräch, eine Drohung.

Doch auch hier schaffst du es nicht, um den Text Leben einzuhauchen.
Du zögerst hinaus und beschreibst die Gedanken. Der Agent Oliver spricht zuerst nicht, dann philosophiert er, dann kann er die Gedanken des anderen anscheinend lesen, dann folgen eine ausschweifende Entschuldigung und viel Blablabla (fast ständig nur von Oliver, es ist sehr monologisch), um erst dann die Drohung auszusprechen.
Die Drohung finde ich übrigens gut gelungen.
Aber wäre hier nicht die Supergelegenheit da, um Oliver sagen zu lassen, was denn in Roman "Dereinst" steht oder um welches radikale Gedankengut es eigentlich geht? Das Gespräch selbst ist nicht sehr informativ und der Leser ist über die Umstände weiterhin im Ungewissen.
Wenn ich als Leser einen Wink kriege, kann ich Olivers Befürchtungen wenigstens verstehen. Zusätzlich könnte der Autor (die Figur, meine ich) auf Olivers direkte Anschuldigungen reagieren. So wie es jetzt ist, ist der Autor nur eingeschüchtert und wagt kaum zu denken. (Weshalb eigentlich? Irgendwo steht: "Ich war hilflos und wusste nicht, was ich sagen sollte". Nicht ganz: Du weisst nichts zu sagen.)

Sorry, aber dieses ganze Gespräch empfinde ich als schwammig.
"Was" besprochen wird, hast du im Griff (so hast du hier die Kernpunkte Drohung und die veränderte Lebenssituation des Autors). Doch das "Wie" ist bei dir sehr mager.

Um Dialog besser zu machen, solltest du dir überlegen, wie Leute in Wirklichkeit reden (damit ein Gespräch realistisch erscheint) und was packend wäre zu sagen (damit der Leser sich nicht langweilt).



Dies alles ist natürlich meine persönliche Meinung. Vielleicht irre ich mich und sind die Grundideen deines Romans so gut, dass ein knapper Stil im Gesamtbild nicht mal so schlecht ist. Du solltest "Paradision" keinesfalls umschreiben, denn immerhin bist du fertig. (Eine fertige Arbeit sollte man ruhen lassen und vielleicht nach ein paar Jahren nochmals überarbeiten.) Aber überlege dir bei künftigen Arbeiten ein bisschen, wie du den Leser bei der Stange halten kannst.

#3 utopia

utopia

    Nochkeinnaut

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Geschrieben 06 September 2004 - 11:51

Hallo rockmysoul67,zunächst einmal ganz herzlichen Dank für Deine ehrliche Kritik und für Deine Komplimente. Vor allem die Art und Weise Deiner Kritik finde ich sehr angenehm, und man kann daraus eine Menge lernen.Ich denke, einiges dazu entgegnen zu können. Zunächst ganz allgemein: ein Großteil Deiner Kritik trifft mit Sicherheit zu, wenn man nur die beiden Leseproben betrachtet. Vielleicht war es mein Fehler, nicht zuerst eine Inhaltsangabe des Romans oder wenigstens einige Erläuterungen vorangestellt zu haben. Was ich sagen will: Wenn man den gesamten Roman liest, sieht manches anders aus. So jedenfalls stellt es sich mir, der die ganze Geschichte vor Augen hat, dar. Ich stehe jetzt in einer etwas schwierigen Situation, weil ich als Autor auch zugleich Kritiker zu sein versuche. Dennoch will ich es mal wagen.Zur Wahl des Themas:Bei dieser Utopie steht das Soziale im Vordergrund, weniger die unbekannte Technologie. Vieles an den äußeren Dingen im Immerwährenden Reich hat weniger "technischen" als vielmehr symbolischen Charakter, z.B. das Licht, das als "hartes Licht" und als "langsames Licht" etwas sehr Oberflächliches darstellen soll. Vermutlich war die Auswahl der Leseproben insofern unglücklich, weil sie zum sozialen Thema wenig hergeben. Weiter unten bringe ich einige Auszüge, die die soziale Brisanz der Erzählung in einem anderen Licht erscheinen lassen dürften.Ich räume ein, aus der utopischen Literatur vieles nicht zu kennen. Es wäre auch anmaßend, dies von sich glauben zu wollen. Dennoch möchte ich die Behauptung aufstellen, dass "Paradision" manches Neue enthält, weil es nicht zuletzt auch eine Zukunftsprojektion aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Man denke z.B. an die gegenwärtige Diskussion um die "Überalterung" der Gesellschaft, weil es immer weniger Kinder gibt, damit zusammenhängend auch die Abtreibungs- und die Euthanasiediskussion ; an die Verdummung der Schüler angesichts der gegenwärtigen Schulpolitik; an der Heranzüchtung von perfekten Konsumenten; an Klonen und Genexperimente; an die Glücksforschung: was muss der Mensch alles machen, um (jedenfalls vordergründig) glücklich zu werden; an immer mehr Gesetze, die den Menschen über den Kopf wachsen; an zunehmende Freiheiten in den westlichen Gesellschaften; an die New Age Bewegung; an ethische und spirituelle Umbrüche, und noch manches mehr. Gut, sicher wurden alle diese Themen hier und da (manche sogar häufig) in der utopischen Literatur thematisiert. Aber in diesem Zusammenspiel? Das hat natürlich seinen Grund: In "Paradision" geht es der Gruppe der sog. Weisen, die die Regierung bilden, darum, das gesamte Weltwissen daraufhin zu untersuchen, was frühere Völker und Kulturen richtig und falsch gemacht haben, weshalb Kulturen einfach untergegangen sind, und aus diesen Erkenntnissen heraus eine perfekte Welt zu bilden, in der alle glücklich und zufrieden leben. Es gelingt anscheinend, doch zu welchem Preis? (Hier will ich natürlich nicht zu viel verraten).Zum Rahmen:Es gibt eine Rahmengeschichte in der Gegenwart, die etwa ein Drittel des gesamten Romans einnimmt. Hier geraten eine Kellnerin (die unfreiwillig in Menschen aus der Zukunft "hineinversetzt" wird und das Immerwährende Reich miterlebt) und ein Schriftsteller in eine weltweite Verschwörung, die gewisse Parallelen zur Geschichte aus der Zukunft aufweist. Nun, Utopien haben durchweg einen Bezug zur Gegenwart. Rahmengeschichte und die Binnengeschichte des Zukunftsreichs sind miteinander verflochten und bedingen einander, z.B. in der Weise, dass die erste Hälfte der Zukunftsgeschichte Eingang findet in einen Roman des Schriftstellers (Roman im Roman), der wiederum Grund wird für die Verstrickung in die Verschwörung. Und weiter: die bedrängte Lage des Schriftstellers ist gleichsam Ursache für die Fortsetzung des Romans im Roman. Ich gebe Dir vollkommen recht, man müsste den ganzen Roman lesen, um den überzeugenden Einbau des Rahmens beurteilen zu können. Ich als Autor bin vielleicht zu nah dran.Zu Inhalt und Stil:Du hast sicher recht, ich neige manchmal mehr zum Beschreiben als zum Erzählen. Das mag man als Mangel ansehen, wenn man eher nach aktuellerer Machart schreiben möchte, die die Spannung einer Geschichte vor allem durch eine bewegte Darstellung (die ich persönlich je nach Situation auch als angebracht ansehe) hervorrufen möchte, manchmal leider auch durch Übercharakterisierungen (jeder kleinsten Kleinigkeit wird eine ungeheure Bedeutung beigemessen, jeder Windhauch scheint das nahende Verderben anzukündigen). Ich persönlich neige im großen und ganzen mehr zu einer ruhigeren Form, in der sich aber die untergründige Spannung um so besser entwickeln kann. Ob mir das dann gelingt, das müssen andere entscheiden. Doch ich möchte jetzt keineswegs den Eindruck vermitteln, unbelehrbar zu sein, und werde zukünftig mehr auf das erzählerische Element achten. Um ehrlich zu sein: ein wenig hege ich dabei auch die Befürchtung, allzu leicht in leeren Aktionismus abzugleiten.Was die zweite Leseprobe betrifft, so bist Du hier auf eine falsche Spur geraten, weil Du nicht die ganze Geschichte kennst. Der Leser nämlich hat den Roman "Dereinst ..." bereits gelesen, es ist der Roman im Roman, und weiß daher, was Oliver mit seinen Andeutungen meint.Unten bringe ich noch einmal Leseproben, damit die eigentliche Zielrichtung des Romans etwas deutlicher wird.Danke nochmals für Deine Kritik!Textprobe 1:Gerade wollte ich zahlen, da trat regennaß Moni ein. „Teilen wir uns noch eine Flasche Merlot?“ fragte sie mich und war schon in der Küche verschwunden. Gerne blieb ich sitzen. Sich mit ihr zu unterhalten hatte immer etwas Befreiendes. Die Gegenwart der meisten meiner „Freunde“ und Bekannten finde ich eher anstrengend. Es wird mir fast immer erst im nachhinein bewußt, ich fühle mich dann leerer als vorher, mehr oder weniger entkräftet. Bei Moni ist es anders. Und das, obgleich sie gerne viel redet, was mir bei anderen gar nicht behagt. Durch sie bin ich nachher bereichert, seltsamerweise auch körperlich gestärkt.Nach drei Minuten stand der Rotwein auf dem Tisch. Moni setzte sich mir gegenüber. „Eigentlich hab‘ ich heute frei, aber ich konnte nicht schlafen, und da dachte ich mir, schau mal vorbei, vielleicht kannste ja noch mit jemand plaudern.“Rudi winkte von der Küchentür. „Macht’s gut, Ihr Lieben.“ Wir beide waren jetzt allein.„Du siehst so mitgenommen aus.“ Monis fröhliches Gesicht wurde ernster. „Probleme?“„Wie man’s nimmt. Das Finanzamt. Und der Verlag nervt wieder.“Sie grinste. „Das ist doch nicht alles, oder?“„Keine Ahnung, ob du hellsehen kannst, oder ob mein Gesicht mal wieder Bände spricht. Na ja ... Im Moment bin ich mit einigem unzufrieden. Vor allem mit mir selbst. Das Leben als Krimi-Autor hab‘ ich mir anders vorgestellt. Wenn ich mal freier gestalten will – eben nicht nur Schema F, nicht nur schwarz-weiß – oder auch ironischer, hintergründiger, zieht der Verlag nicht mit. Allmählich wachsen mir diese beinahe-perfekten Morde aus den Ohren.“„Du lebst doch ganz gut von den Verbrechen.“ Sie sah mich mit unbewegtem Gesicht an, aber ich nahm ihr nicht ab, daß sie es ernst meinte.„Aha, du denkst, ich soll die Perfektion noch weiter perfektionieren. Die Mordmenüs noch schmackhafter kreieren. Wohl bekomm’s.“Ein sehr schönes Dunkelrot, als ich das volle Weinglas vor die Kerzenflamme hielt.„Jetzt mal ehrlich“, sagte Moni. „Was hast du dir so vorgestellt?“„Tja, ich weiß eben nicht. Am liebsten würde ich erst mal eine Weltreise machen, dann kämen die Geschichten ganz von alleine. Ein Entwicklungsroman, Selbstfindung, echte Liebe ... da gäbe es tausend Themen. Nur eben kein Kitsch, keine Sentimentalität. Es muß sich in mir wie von selbst entwickeln, langsam entfalten, und zum Schluß hat sich etwas Lebendiges auf Papier niedergeschlagen.“„Wie im Traum?“ Moni schwenkte das Glas und beobachtete den kreisenden Wein.„Ja, in gewisser Weise schon. Natürlich glaube ich nicht, daß einer sich zum Schlafen hinlegt, und schon schlägt der Genieblitz ein. Vielleicht ganz selten mal. Und doch: Irgendwie muß es in einem schon drin sein, man kann nicht einfach lernen, Künstler zu sein. Manchen ist es halt gegeben, und anderen eben nicht. Lernen kann man nur, die Ströme, die aus einem fließen, besser zu lenken.“„Vielleicht solltest du mal ein Buch über Kunsttheorie schreiben?“War das nun ironisch gemeint? Ich überlegte, ob ich eben doziert hatte. Dazu neige ich, daher hatte ich mir seit einigen Wochen fest vorgenommen, mich hierin zu ändern. Bin ich denn ein Lehrer? Ich hasse es, wenn andere in Gesprächen zu Pädagogen mutieren, und ebenso hasse ich es auch an mir.„Träume die Wahrheit“, tönte es auf einmal aus Monis Mund.„ ‚Lebe deine Träume‘ ... Komm, hör auf, verarschen kann ich mich selbst. Mir ist es verdammt ernst. Ich stecke in einer Krise.“Sie sah mich stirnrunzelnd an. „Ich hab‘ mich vielleicht ungeschickt ausgedrückt. Habe einfach nur darüber nachgedacht, was du vorhin sagtest.“ Sie zögerte. Ihr Gesicht wirkte ängstlich, doch nach wenigen Sekunden lächelten die Augen wieder.„Es gibt seltsame Dinge ...“Was sollte denn nun schon wieder diese geheimnisvolle Andeutung?„Weißt du ...“ Sie zögerte und griff nach meiner Hand, die sie festhielt – zugegeben, mir war jetzt etwas eigenartig zumute – „weißt du, man muß nicht um die Welt reisen, um was zu erleben.“Sie schwieg. Auch ich sagte nichts.„Ich glaube nicht,“ fuhr sie nach einer Weile fort, „daß ich krank bin im Kopf, nein. Es ist die Wirklichkeit, die ich erlebe. Fast täglich.“Mir wurde immer mulmiger.Sie ließ meine Hand los. „Möchtest du lieber gehen?“„Unsinn! Komm, erzähl.“ Ich wollte sie noch fragen, ob ich ihr irgendwie helfen könne, unterließ es dann aber.„Es passiert meist nachts, wenn ich aufwache. Auf einmal spüre ich, es ist wieder soweit. Und dann bin ich plötzlich drin, in der anderen Welt. Oder, nein, keine andere Welt, sondern ... eine andere Zeit. Ich glaube, es ist in der Zukunft. Vielleicht in dreitausend Jahren, oder noch weiter weg ... weiß nicht.“Ich wollte etwas fragen, aber mehr als einen offenen Mund brachte ich nicht zustande.„Seit drei Monaten geht das jetzt schon so ... Willst du hören?“Natürlich wollte ich hören. Ich nickte stumm. Mein Gesicht muß in diesem Augenblick ganz schön einfältig ausgesehen haben.Und sie begann zu erzählen. Was sie mir da, nach anfänglichem Zögern, ganz unbefangen berichtete, klang so natürlich, so echt, als schilderte sie mir einen Einkaufsbummel oder einen Besuch im Schwimmbad. Ihr Verhalten hatte sich dabei nicht im mindesten verändert. Wie zuvor schaute sie mich mit klaren, lebendigen Augen an. Ich konnte nichts Krankhaftes, Wahnhaftes, Übersteigertes an ihr erkennen, keine Halluzinationen. Und doch war alles so ... Immerhin bin ich ein rational denkender Mensch, und etwas in mir wehrte sich gegen die Vorstellung, daß das „wahr“ sein sollte.Kurz und gut: Moni erzählte mir von so etwas wie „Bildern“, die in ihr immer wieder von einer anderen Zeit, oder einer anderen Kultur, oder sollte ich besser sagen: einem seltsamen Staat, aufstiegen. Die Bevölkerung lebt in einem paradiesischen Zustand, allen Menschen scheint es – soweit Moni es „beobachten“ konnte – prächtig zu gehen.Sofort dachte ich an die märchenhaften Berichte von Atlantis, der sagenumwobenen Insel, die eines Tages in der Tiefe versank. Aber in Monis Beschreibungen kamen nirgendwo Küste oder Meer vor, es gab keine magischen Kristalle, die den Staat mit Energie oder Lebenskräften versorgten, und von Sittenverfall bei der Bevölkerung in Monis „Gesichten“, einer der spekulativen Ursachen des Untergangs der atlantischen Zivilisation, konnte nun wirklich keine Rede sein. Im Gegenteil, das Leben verlief dort geregelt und, man könnte fast sagen, sittenstreng.Moni plauderte drauf los, munter gestikulierend und so begeistert, als erzähle sie von den ersten Worten ihres Babys. Es war geradezu eine Lust, ihr zuzuhören.Bewog reine Erzählfreude sie, mich zum Eingeweihten zu machen? Oder was war der Grund? Zeitweise vermutete ich, sie hätte die Hinterabsicht, mir Stoff für einen Roman zu liefern. Aber dann wieder sprudelte es so frei aus ihr heraus, daß ich an ein bewußtes Motiv nicht glauben konnte.Textprobe 2 (ok, ich seh' es, wenig Handlung und Dialoge :D ):Der Ort der kommenden Ereignisse war ein kreisförmiger Saal, überspannt von einer gläsernen Halbkugel. Hier spielten Darstellungskünstler unterschiedliche Szenen, und entsprechend dem Inhalt der Stücke wechselte auch das Interieur des Raums. Die Schüler fanden sich in die Handlungen als Teilnehmer miteinbezogen. Auf diese Weise wurde vermieden, daß einfach nur ein Schauspiel vor ihren Augen ablief, dem sie je nach Lust und Laune mehr oder weniger Aufmerksamkeit schenkten.Zuerst befanden sie sich in einer Versammlung, verteilt zwischen Männern in braunen Uniformen – auf diese Weise wurden auch Mai und Jun getrennt, was sie sehr bedauerten –, vor ihnen hielt ein Mann mit einem kleinen Oberlippenbart eine zackige Ansprache, bei der die Schüler spürten, wie sehr die Uniformierten von ihr ergriffen waren. Sie verstanden nicht alles, auch wenn einige unter ihnen von der Rede mitgerissen wurden, begriffen aber wohl, daß sich hier Gefährliches abspielte. Die Männer sprachen die Kinder auch persönlich an, etwa indem sie fragten: „Er hat doch recht, oder?“ Keiner blieb unbeteiligt.Auf einmal verdunkelte sich der Raum, die Schauspieler verschwanden, und in der Glaskuppel sahen die Schüler einen gewaltigen Aufmarsch mit Fackeln. Der suggestiven Wirkung dieses Ereignisses konnte sich niemand entziehen.Am Nachmittag redeten sie mit den Erziehern über das Erlebte, stellten Fragen, und die Erzieher erzählten ihnen einiges über Diktatur und Totalitarismus, einen der politischen Kardinalfehler, die in fast jeder Kultur anzutreffen seien.In den kommenden Tagen stellte man den Schülern auch andere Regierungsformen vor Augen, die sich negativ auf das Leben der Menschen und Staaten ausgewirkt hatten. Zum Beispiel die Demokratie, der, wie die Erzieher erklärten, die gutgemeinte Absicht zugrunde lag, daß das ganze Volk mitbestimmen solle. Doch wie oft wurden aus den Volksvertretern Volksverführer, oder aber rückgratlose Opportunisten, die nur sagten, was bei der Mehrheit ankam. Die Schüler nahmen teil an einer Parlamentsversammlung, bei der große Reden geschwungen wurden, und sahen, wie sich die Politiker, die kurz zuvor die schärfsten Gegner gewesen waren, anschließend in einer Speisehalle gemeinsam an einen Tisch setzten und einander mit einem gelblichen Gebräu zuprosteten.Mai fragte bei der Nachbesprechung, ob man denn damals die Weisen ganz vergessen habe, die doch selbstverständlich auch die Macht innehaben müßten, ihre Weisheit durchzusetzen. Die anderen gaben ihr recht: Zu bestimmen, welches der richtige Weg sei, dazu sei die Mehrheit doch gar nicht in der Lage.Die Kinder erschraken heftig, als sie eines Morgens eine vermeintliche Skulpturensammlung aufsuchten und statt anmutiger Gestalten die realistischen Nachbildungen deformierter Menschen erblickten, Männer und Frauen, vor allem aber kleine Kinder, mit kurzen Beinen und riesigen Armen etwa, und am schlimmsten fanden sie die Gesichter: hervorquellende Augen, Münder wie Kuhmäuler, und fast alle sahen traurig aus. Dies war, wie man ihnen erläuterte, die Folge von Experimenten mit der Erbsubstanz. Es leuchtete allen ein, daß auch diese Zivilisation – wie konnte es anders sein – zum Untergang bestimmt war.Bei diesem Rundgang bekamen sie auch andere in Stein gehauene Menschen zu Gesicht, die eher Heiterkeit auslösten: Die Figuren saßen oder standen in eigenartigen Posen, beispielsweise die Hände gen Himmel gehoben, die Finger dabei seltsam gespreizt, die Augen nach oben gerichtet, ein verzücktes Lächeln um die Lippen. Manche von ihnen hielten große Edelsteine in den Händen. Ein Aberglaube, erfuhren die Lernenden: Diese Menschen vertrauten dubiosen höheren Kräften, wünschten sich eine Fortentwicklung in einen unkörperlichen Zustand. Selbstverständliche Folge: Untergang.Ein bestimmtes Volk, wurden die Kinder fernerhin belehrt, wollte besonders schlau sein, schloß sich gegen alle anderen Nationen ab und bewahrte Rassenreinheit. Folge: Verblödung, Untergang.Wieder verbrachte die Gruppe zwei Tage des Müßiggangs. Anschließend begann die dritte Lernzeit. Anschaulich durch Darstellungskünstler verdeutlicht, wurden den Mädchen und Jungen Charakterschwächen und ihre Folgen nahegebracht. Sie erfuhren zum ersten Mal etwas von Geld, von Eigentum, von Besitzgier. Manche konnten sich kaum vorstellen, daß in alten Zeiten Zahlungsmittel als notwendig angesehen wurden. Warum eigentlich? Hier, im Reich, erhielt jeder, was er brauchte, Lebensmittel etwa, und die größeren Dinge wie Häuser und Hauseinrichtungen stellte das Reich kostenfrei zur Verfügung.Neid, was war das denn nun schon wieder? Niemand war besser oder schlechter gestellt als die anderen, und Begabungen und Fähigkeiten hatte jeder in der je ihm eigenen Weise. Anerkennung wurde jedermann zuteil, und die Höherbegabten erhielten je nach Rang und Position entsprechend mehr Verantwortung und Gemeinwohllasten aufgebürdet. Ohnehin zogen die meisten ein beschauliches, von der Gesellschaft hoch geachtetes Familienleben vor.Machttrieb? Was hatte es damit auf sich? Gut, es gab eine gewisse Hierarchie, doch sie war natürlich und notwendig. Die Behörden mit beamteten Verwaltungskünstlern mußten eine gewisse Macht haben, erst recht der Weisenrat. Aber gerade das war eine kluge Einrichtung, es diente dem Wohl aller.Luur erzählte den Kindern am Nachmittag, solche atavistischen Charakterschwächen, wie sie ihnen in abstoßender Weise vorgeführt worden waren, kämen im Reich grundsätzlich nicht mehr vor. Darüber könnten alle froh sein. Doch ganz gelegentlich ließe sich bei vereinzelten Personen ein solcher Fehler feststellen. In den jungen Jahren sei dies kein Problem, da man es, sobald erst einmal entdeckt, schnell durch die richtigen Erziehungsmaßnahmen korrigieren könne. Aber bei den anwesenden Kindern dauere es nicht mehr allzu lange, dann sei ihre Erziehung abgeschlossen, und wenn anschließend eine Charakterschwäche hervortrete, könne dies zum Schaden vieler gereichen. Er bat die Schüler daher für den Fall, daß derartiges einem von ihnen in den späteren Jahren bei einem Mitmenschen auffiele, es unverzüglich den Behörden zu melden. Dann könne auch diesem Menschen noch geholfen werden, zum Vorteil für ihn selbst und seine Umgebung.Als sie an diesem Abend allein im Schlafraum waren, vertraute Mai Jun an, sie habe stark den Eindruck gehabt, Luur habe sich unwohl gefühlt, als er zu ihnen gesprochen habe. Jun bestätigte, er habe es ähnlich empfunden, aber nicht weiter darüber nachgedacht.Zum Abschluß dieses Lernzyklus‘ wurde den Schülern beispielhaft gezeigt, wie weit das Reich den früheren Kulturen nicht nur in politischer und charakterlicher Hinsicht, sondern auch in allen anderen Bereichen überlegen war. Die Medizin etwa: Wenn überhaupt einmal jemand erkrankte, war er in kürzester Zeit wieder auf den Beinen. Auch Verletzungen zu heilen stellte kein Problem dar. Wunden oder Knochenbrüche waren – dank des Wellenimpulsgeräts – in weniger als einem halben Tag verheilt. Infektionen gab es nicht mehr. Die Schüler schauten sich Beispiele kranker Menschen aus früheren Jahrhunderten an – und waren froh, daß dies der Vergangenheit angehörte. Alle konnten gesund und glücklich leben, das Reich ermöglichte es.

#4 rockmysoul67

rockmysoul67

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Geschrieben 21 September 2004 - 18:32

Hallo Utopia

Danke für die neuen Textproben, sie bringen in der Tat viel mehr Einsicht in Aufbau und Verlauf deines Romans.

Beim Lesen der ersten neuen Textprobe dachte ich mir zuerst "ich muss was über die Monologsätze sagen", bis ich auf dies traf: "Ich überlegte, ob ich eben doziert hatte. Dazu neige ich, daher hatte ich mir seit einigen Wochen fest vorgenommen, mich hierin zu ändern."
Ich finde das genial! Der Erzähler redet halt dozierend, aber er weiss darüber Bescheid und hat auch Freunde, die ihm ohne Unterbrechung so reden lassen. Ja, dann kannst du ihm lange philosophieren lassen, denn dieses Verhalten wird erklärt.

Bei der zweiten neuen Textprobe weist du darauf hin, dass es wenig Dialog und Handlung gibt, aber ausgerechnet in diesem Textabschnitt ist es ganz okay, dass es beschreibend vorangeht. Es geht hier nämlich um einen längeren Zeitabschnitt, in dem die Personen als Gruppe agieren. Beschreibendes Erzählen ist hier völlig in Ordnung.
Es ist schon immer ein Abwägen: Benutze ich für jene Szene diesen Stil und oder eine solche Technik? Ich glaube, dass du die Techniken an sich schon beherrscht, nur beim Tempelabstieg fand ich, dass du die falsche Wahl getroffen hattest.

Dennoch ... wenn die zwei Mädchen (die agierenden Hauptfiguren in der Zukunftswelt) endlich allein sind, lässt du sie indirekt reden: "Als sie an diesem Abend allein im Schlafraum waren, vertraute Mai Jun an, sie habe stark den Eindruck gehabt, Luur habe sich unwohl gefühlt, als er zu ihnen gesprochen habe. Jun bestätigte, er habe es ähnlich empfunden, aber nicht weiter darüber nachgedacht."
Genau bei diesem Gespräch wäre eine kleine Dialogszene (mit Anführungszeichen, usw.) passend. Das wäre direkt.
Wenn du es dann auch noch schaffst die beiden so reden zu lassen, wie Mädchen halt reden, dann gewinnt die Dialogszene zusätzlich an Stärke, denn dann ist sie lebendig.

Da gibt's noch einen Punkt, es ist eher Geschmackssache.
Der Held des Romans heisst so wie du.
Ich halte dies nicht für einen klugen Schachzug. Viele Leute werden denken: "Er sieht sich selbst so wie die Romanfigur".
Dann ist die zweite Frage, ob du tatsächlich so bist, wie du dich darstellst. (Du hast es vielleicht nicht so gesehen, findest das Ganze nicht autobiografisch, aber so denken Menschen halt.) Und wie ist diese Romanfigur? Ein erfolgreicher Krimiautor, mit schlechtem Gewissen und fähig einen Skandalroman zu schreiben.
Nnnnnnnnnnngh, ich weiss nicht ... vielleicht wäre es besser in Zukunft neutralere Namen für deine Figuren zu wählen; diese können dann auch mal ins Fettnäpfchen treten.


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