Ach je,
die Ablehnung gewisser Elemente in Texten ist doch nicht neu, ergo sind heutige Leser*innen (ene, mene, mu*in und raus bist du*in, wenn du das Gender*chen ablehnst) auch nicht zu empfindlich. Sie sind so wie sie immer sind. Sie wollen auf die ein oder andere Weise unterhalten werden. Und eben darauf nehmen Verlage Rücksicht, denn schließlich wollen sie verkaufen. Und es sind eben Leser*innen, die kaufen oder eben nicht.
Beispiel gefällig? Henry Miller. Da hat es eines mutigen Verlegers (Jack Kahane) bedurft, um "Wendekreis des Krebses" auf die Leserschaft loszulassen. Und dann gab es Prozesse gegen das Buch.
Und, autsch, Gustave Flauberts "Madame Bovary". Der erschien zuerst in einer zensierten Verfassung, dennoch kam es zu einem Prozess wegen Verstosses gegen die guten Sitten. Ey, Ehebruch!
Pöh, Wedekinds "Frühlings Erwachen", da hat der Verleger abgewunken und Wedekind den Druck selbst finanziert. Uiuiui, wegen Obszönitäten gab es dann aber ordentlich Kontra bishin zum Verbot. Und, man staune, noch in diesem Jahrtausend kam es in der Schweiz zu einem Prozess gegen einen Lehrer, der Wedekinds Stück im Unterricht behandelt hat.
Ja, das sind Einzelfälle, aber was in Diskussionen über "woke" Zensur angeführt wird, sind weitestgehend auch Einzelfälle. Und wenn nun ein Buch "zensiert" wird, dann betrifft das ja eben nicht den gesamten Bestand des Textes, gerade bei rechtefreien Büchern kann ja jeder seine Fassung veröffentlichen. Und aus den heimischen Bücherregalen muss ja auch nichts entfernt werden. Wer also Lindgren im Urtext lesen will, der kann das, und wer das nicht möchte, dem steht eben die Möglichkeit einer ihm/ihr/es genehmen Fassung offen.
Ich finde es übrigens amüsant, wie sehr das Thema "ZENSUUUUUUR!" immer wieder hochgekocht wird und kann dazu das Buch "Cancel Culture Transfer" von Adrian Daub empfehlen. Darin befasst sich Daub mit der Gegenbewegung zur angeblich hach so schrecklich schlimmen Cancel Culture - nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ.
Ach ja, apropos Zensur. Ich habe es nicht als Zensur verstanden, als ein Verlag verlangte, dass aus einem Text eben die Textpassage entfernt bzw,. umgeschrieben wird, aus der interpretiert werden konnte, dass die zwei Hauptfiguren (m und w) die Nacht gemeinsam in einem Hotelzimmer verbracht haben. Der Text war für das Lesealter 13-14. Ähm, etwas überrascht war der Verlag dann, als Testleser eben die Frage spannend fanden, also "haben sie oder haben sie nicht?". Egal, Stelle war bereinigt und gut ist. Zensur? Ey, shitegal, der Text funktioniert auch so.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich empfinde es nicht als richtig, dass Texte nun umgeschrieben, also den heutigen Leser*innenerwartungen (bzw. dem, was Verlage dafür halten) angepasst werden. Texte sind immer Zeugen ihrer Zeit. Dennoch halte ich es nicht für Zensur, wenn Verlage eben auf die Leser*innen Rücksicht nehmen, die mit bestimmten Worten Probleme haben. Im Übrigen muss icvh die bereinigten Fassungen ja nicht lesen. Und ich muss auch nicht die Bücher lesen, die mir sonstwie nicht in den Kram passen. In dieser Beziehung bin ich konsequent und diskutiere das auch nicht.
Tobias
"Wir sind jetzt alle Verräter."
"Ha!", machte die alte Dame. "Nur wenn wir verlieren."
(James Corey, Calibans Krieg)
"Sentences are stumbling blocks to language."
(Jack Kerouac in einem Interview mit der New York Post, 1959)
"Na gut, dann nicht, dann bin ich eben raus
Ich unterschreib' hier nichts, was ich nicht glaub'
Na gut, dann nicht, nicht um jeden Preis
Ich gehöre nicht dazu, das ist alles was ich weiß"
(Madsen, Strophe 1 des Songs "Na gut dann nicht")