Ich bin jetzt bei gut 80% des Romans.
Mein Einstieg lief über den Weltenbau: Eine Karte des fiktiven Oxford mit den teils fiktiven Handlungsorten, allen voran der "Turm von Babel", der dann auch noch mal im Aufriß gezeigt wird - sehr schön im Stil der Handlungszeit, also 1830er Jahre. Und als faszinierendes Detail sind die Ebenen des Turms unterschiedlichen Fakultäten zugeordnet. Danach das Vorwort der Autorin, die sich vorab dafür rechtfertigt, ab und zu von der Historie und Geografie abzuweichen, es sei schließlich ein phantastischer Roman.
Mit vielen kleinen Details hat mich die Autorin dann aber ganz schnell in die Erzählung und die historische Zeit hineingezogen. Ja, manches war "tell" statt "show", und einiges nahe am Infodump, aber ich war zu neugierig, so dass es mich nicht gestört hat. Ich kenne mich in Oxford nicht gut genug aus, um kleine Abweichungen zu erkennen, und ich habe zu wenig geschichtliches Detailwissen, um hier Anpassungen zu identifizieren, aber der Anreiz, dies nach dem Vorwort der Autorin doch herauszufinden, war trotzdem da. Bei einer Lesephase habe ich dann doch mal parallel etwas recherchiert:
Auf S. 384 (Kapitel 16) steht: "Angespannt und ratlos standen sie da, wie zwei Schauspieler vor der Kamera, die stillhielten, bis das Licht aufblitzte". Okay, die Fotographie mag so alt sein, aber Blitzlicht? Eine kurze Recherche ergab, dass man seit 1829 fotografiert, aber auch zehn Jahre später noch nicht mit Blitzlicht, sondern langen Belichtungszeiten.Das Gleichnis passt also nicht.
Auf S. 405 wird eine "Society for the Diffusion of Useful Knowledge" erwähnt. Das klingt so schräg, als wäre sie erfunden. Doch es gibt sogar einen Wikipedia-Eintrag. Nur dass dort das Gründungsjahr 1826 steht und nicht 1834 wie im Roman in einer Fußnote behauptet.
Zwei Irritationen, zwei Recherchen und beide Male eine Abweichung, die für den Plot nicht nötig gewesen wären. Weil mich aber trotzdem die Schilderungen der Autorin so gut in die damalige Zeit eintauchen ließen, habe ich auf weiteres Recherchieren verzichtet. Ich nehme halt nichts mehr für bare Münze, lese Details als "so oder so ähnlich" und freue mich stattdessen, wenn die Atmosphäre stimmt.
Es ist eben kein historischer Roman. Aber ein phantastischer Roman, der sehr stark in seiner Handlungszeit, die fast 200 Jahre zurückliegt, verwurzelt ist und ohne dies auch nicht funktionieren würde, weil die Themenkomplexe Rassismus, Diskriminierung und Kolonialismus essentiell sind.
Und hier passt wieder der Vergleich zur Barock-Trilogie von Neal Stephenson. Das spielt zwar deutlich früher (Ende 17. und Anfang 18. Jahrhundert), aber auch im Britischen Empire (London plus Kolonien), hat eine starke wissenschaftliche Komponente (statt Übersetzungen ist es dort die Mathematik, der Streit von Leibniz und Newton um Differentialgleichungen und die Berechnung der Welt) und einen massiven fiktiv-phantastischen Einschlag (Stephenson erfindet eine neue Volksgruppe). Und auch da macht es Spaß, wenn erkennbar Fiktives wie Historisches behandelt wird.
Das zweite Faszinosum an Babel ist für mich die kenntnisreiche Beschreibung von Übersetzungen und etymologischen Studien. Die Expertise der Autorin und ihre Begeisterung dafür hat sie auf die Protagonisten übertragen, und das kommt bei mir als Leser an. Und anscheinend haben auch die beiden Übersetzerinnen, die Babel ins Deutsche übertragen, hier aktiv mitgewirkt, denn es gibt sehr viele Beispiele aus dem Deutschen. Aufgrund der Biographie der Autorin dominieren das Chinesische und das Englische, und natürlich wird vieles auf griechische und lateinische Ursprünge zurückgeführt, zudem spielt zeitgemäß auch das Französische und Spanische eine Rolle, aber es gibt viele rein deutschsprachige Etymologien, und hier vermute ich, dass im Original englische durch deutsche ersetzt wurden, was ich großartig, aber auch richtig finde. Denn das ist genau die translatorische Leistung, auf die im Roman immer wieder angespielt wird.
Wenn man die Messlatte aber dann so hoch legt, ist es schade, wenn es dann doch zu Patzern kommt. Ausgerechnet Ausgerechnet, wenn der Professor dem Protagonisten zeigen will, wie elegant die lateinische Sprache ist (S. 49), wurde vom Lektorat ein Fehler übersehen: nicht „disce“ heißt „er wird lernen“, sondern „discet“. Etliche Seiten später geht es um Blutpudding, was im Deutschen eigentlich Blutwurst heißt. Und wenn man sich auf den fiktiven Turm in Oxford bezieht, sollte es "babelsch" statt "babylonisch" heißen. Ja, das ist Klagen auf hohem Niveau, aber eben doch schade für so ein ambitioniertes Werk.
Zum Plot später mehr, wenn ich auch den letzten Teil (Buch 5) gelesen habe.