Sarkastische Ökodystopie einer nahen Zukunft über Artensterben und der Vernichtung der Biodiversität die wehtut , da sie aufzeigt wie ein ungezügelter Kapitalismus selbst daran noch verdienen will
spoiler weitgehend vermieden
Inhalt
Mitte des 21. Jahrhunderts sind die meisten Spezies ausgestorben, die Gehirne gefährdeter und kurz vor dem aussterben befindlicher Exemplare in Nanometer grosse Scheiben gesliced und wie deren DNA codiert und in einer digitalen globalen Biodatenbank eingescannt um sie als Modelle im Computer zu rekonstruieren um sie so studieren zu können auch wenn sie nicht mehr existieren. Die Scans und die codierte DNA sollen als Augang dienen, um ein artursprüngliches Bewusstsein in entsprechenden, durch eine in Zukunft fortschreitende Genetik konstruierbaren artifiziellen Körpern zu etablieren. Erste Versuche von Bewusstseinssimulationen mit Roboterkörpern zeigten aber bisher nur horrorartige „Erfolge“ .
Natürlich wäre der Kapitalismus nicht die prägende Kraft unserer gegenwärtigen Gesellschaft wenn er auch nicht daraus eine Gewinnmaximierung machen würde: Es müssen sogenannte Aussterbezertifikate von Firmen gekauft werden die Resourcen wie zb. Manganknollen auf dem Meeresboden ausbeuten wollen. Diese sollen über eine Preisbildung einen Freien Markt -Mechanismus schaffen, um die Ausrottung einer gefährdeten Spezies so unattraktiv zu machen, das Investitionen zu deren Schutz die Konzerne billiger kommt.
Allerdings werden zuviele der Zertifikate ausgegeben, so das der Preis so günstig ist, das die Zertifikate lieber gekauft werden (und sich damit ebenfalls ein Markt bildet, ungebrauchte Zertifikate zu handeln und Spekulationen zu unterwerfen) als das der Urprungszweck (Verhinderung des Artensterbens) erfüllt wird. Als würde ein Fuchs zum Wächter des Hühnerstalls gemacht werden.
Die Schweizer Biologin Karin Resaint (spezialisiert auf die Evaluierung von Artenintelligenz) arbeitet als Freelancerin für Brahmasamudram Mining, eine der grossen Konzerne die u.a. in der Ostsee tätig sind. Sie soll deren Compliance sicherstellen , das keine unter Schutz stehende Spezies gefährdet oder ausgerottet wird. Wichtigstes Schutzkriterium ist, das die Spezies nicht intelligent sein darf (zb. hochentwickeltes Sozialverhalten zeigt). Wie die Wissenschaftlerin aber entdeckt, scheint eine eher unauffällige aussehende - fiktive - Art (der Gemeine Lumpfisch), der in dem auszubeutenden Ökosystem siedelt, tatsächlich dieses Kriterium erfüllt und damit rezertifiziert werden müsste – was hohe (aber für den Konzern bezahlbare) Kosten verursachen würde und das Image würde sogar aufpoliert. Allerdings stellt sich auch heraus, das einige der auf dem Meeresboden schürfenden, autonomen Brahmasamudram -Miningfabriken das komplette Ostsee-Biotop inklusive der Fische schon zerstört haben.
Ein zusätzlich katastrophales Ereiginis (ein Hackerangriff auf die Biodatenbank mit Zerstörung der digitalen Scans zehntausender Arten) bringt dabei den Environmental impact Koordinator des Konzerns für Nordeuropa Halyard in Bedrängnis – da dieser mit firmeneigenen Zertifikaten spekuliert hat und diese nun nach dem Angriff für einen exorbitant gestiegenden Preis zurückkaufen muss - was seinen persönlichen Bankrott und das Ende seiner Karriere bedeutet sowie die Aussicht auf schwedische Gardinen. Mit dem Aufinden noch lebender Exemplare vom Lumpfisch könnte er möglicherweise den Betrug vertuschen.
Aus sehr gegensätzlichen Motiven sind die beiden nun aufeinander angewiesen : Altruistisch sind diese bei Resaint , die durch die Vernichtung der Artendaten rausgerissen wird aus ihrer Indifferenz zum Artensterben. Sie war sich immer bewusst das sie als Ausrottungs-Alibigeberin für den Konzern dient und Teil des Problems ist. Als Expertin kennt sie die verbliebenen Habitate und das Verhalten des Fisches. Rein egoistischen Antrieb zeigt Halyard der Informanten seines Netzwerks nutzt sowie Zugangsmöglichkeiten zu gesperrten Biotop-Safespaces und damit möglichen Restbeständen des Lumpfisches hat und hofft so seinen Hintern zu retten.
Es beginnt die Suche nach den letzten überlebenden Exemplaren – was beide auch in ihren Ansichten verändert. Zum Guten oder Schlechten?
Kritik
Hat Kim Stanley Robinson mit seinem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“ die Folgen des Klimawandels und dessen Lösungsmöglichkeiten eindringlich thematisiert , tut dies Beauman (nur weniger optimistisch) für das Artensterben und den Rückgang der Biodiversität – was viele Forscher mindestens für genauso gefährlich (oder gefährlicher) halten, da diese mit weitaus höherem Tempo voranschreiten. Er zeigt eine mögliche Extrapolation die in einem überschaubaren Zeitraum Wirklichkeit werden könnte.
Der Autor rechnet hier gnadenlos mit einer systematischen Selbstäuschung über den Kapitalismus ab der selbst am Artensterben noch verdienen will. Der Mechanismus funktioniert dabei ähnlich dem heute existierenden europäischen Emissionshandel mit CO2 Zertifikaten: Wer eine Art derart dezimiert das sie vom Aussterben bedroht ist , muss sich vermehrt Ausrottungsrechte erkaufen oder Schutzmassnahmen ergreifen um diese gegenzurechnen. Firmen, die sich auf Schaffung von Biohabitaten zum überleben von Spezies spezialisieren, bekommen von den beteiligten Regierungen kostenlose Aussterbezertifikate die sie wiederum den Konzernen verkaufen und damit ihr eigenes Geschäftsmodell finanzieren – so entledigen sich die Regierungen für ihren eigenen Haushalt weitgehend der Kosten für Umweltschutz und die Konzerne können legal ihre Gewinninteressen durchsetzen. Wie auch im realen kritikwürdigen CO2 Zertifikatshandel erlaubt der von Beauman geschilderte Marktspekulationen und das Überdecken des eigentlichen Problems.
Hier zeigt sich auch Beauman’s Zweifel an Motiven einer echten Lösung: Eine bereits ausgestorbene Art (obwohl deren DNA und Gehirn digital gespeichert und im Prinzip zukünftig rekonstruierbar wäre) , ist dennoch unwiederbringlich verloren, denn er spricht den Akteuren den Willen ab dies überhaupt zu zu tun: Wer sich schon nicht für die lebende Art interessiert hat, wieso sollte jetzt ein Aufschrei erfolgen wenn sie kurz vor dem aussterben steht oder bereits ausgestorben ist und nun rekonstruiert werden soll?
Der Sarkasmus des Autors wird auch deutlich spürbar, wenn er aufzeigt, das (auch heutiger) Artenschutz häufig mit Niedlichkeit einhergeht: So war das geschilderte Aussterben des letzten Pandas Chiu-chiu im Roman mit Aufschreien verbunden, obwohl längst überreichlich DNA und Habitatsdaten vorhanden waren und dieser künstlich durch eine fortgeschrittene Genetik weitergezüchtet werden konnte.
Er ergreift vielmehr Partei für die Arten, die diese Lobby nicht haben oder sogar erst bei Untersuchungen über Gefährdung des Aussterbens entdeckt werden: Die Erforschung und Katalogisierung erfolgt nur da sie Aussterben. Hier ist Beauman wieder erschreckend nahe an unserer heutigen Situation: Das Ausmaß des Artensterbens ist heute mindestens zehn- bis hundertmal höher als im Durchschnitt der letzten zehn Millionen Jahre. Die Folge: Beinahe eine Million Arten sind in den kommenden Jahrzehnten vom Aussterben bedroht – von insgesamt acht Millionen bisher bekannten Arten (Angaben von Greenpeace). Die unbekannten Arten sterben aus OHNE das der Mensch jemals Kenntnis von ihnen erlangt hat. So nennt er dann auch zahlreiche reale Arten von denen ich nie etwas gehört habe und schildert deren beeindruckende Leistung für andere Arten (Symbiose, Parasitismus) und ihren Ökosystemen. Der Gemeine Lumpfisch steht für Spezies deren hohe Intelligenz es nochmals unendlich trauriger macht, wenn diese von der Erde verschwinden. So ist der Begriff Artenschutz als Menschenschutz umzudefinieren: Durch Erhalt von Arten sichern wir Ökosysteme ab, auf deren funktionieren der Mensch grundlegend angewiesen ist.
Fazit
Kein leichter Stoff, der nachdenklich und traurig macht aber auch zum aktiven eigenen Handeln ermutigt – aber nicht der naiven Annahme unterliegt, das die Katastrophe durch den Einzelnen verhindert werden kann ohne das System selbst zu ändern. Das menschenverursachte Aussterben von Arten ist dabei kein Naturgesetz. Der Ausgang wird durch den Willen bestimmt, etwas dagegen zu tun.
Gelesen wurde das Original:
Venomous Lumpsucker (2022) also appeared as:
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Translation: Der Gemeine Lumpfisch [German] (2023)
Bearbeitet von head_in_the_clouds, 04 Januar 2024 - 08:44.