Beim Lesen dachte ich die meiste Zeit, ich gebe vier Sterne, wegen ein paar Dingen, die mich zu Beginn die Augen haben rollen lassen und einigen Kleinigkeiten (wie Schilderung von Trauer), die nicht ganz meinem Geschmack entsprechen.
Aber nun bin ich fertig und gebe doch fünf Sterne. Mein Hauptkriterium für fünf Sterne lautet nämlich:
Will ich das Buch noch mal lesen?
Klares Ja!
Ich habe beim ersten Lesen zuerst den Weltenbau gefeiert, wurde dann von den Beziehungen reingezogen (vor allem Lea und die KI in ihrer Armprothese, Cali), außerdem sind die Kampfszenen größtenteils gut bis sehr gut. Das lese ich extrem selten. Aktuelle Ausnahme wären die Kampfszenen in Die Prinzessinnen von Endres, aber das ist eine andere Art von Kampf, da kommt es viel auf die Performance an, in empfindungsfæhig sind es ja eher größere Geschütze. Es gab da eine Szene, bei der ich erst leicht verblüfft war (passiert das jetzt wirklich) und später bestätigt bekommen habe: Ja, das ist jetzt wirklich passiert. Yeah. Der Splatter-Fan in mir feiert.
Ich würde beim zweiten Lesen mehr auf die Hackordnung der KIs achten, die ist nämlich sehr ausgebufft und wie man eine echt mächtige KI besiegen kann (und wie nicht) fand ich schön durchdacht. Das lese ich normalerweise anders. Hier war es glaubhaft und try and error, denn vieles geht eben nicht (auch wenn man es hofft), anderes ist da erfolgsversprechender (und selbst das kann man dann danach noch anders evaluieren).
Ich sehe schon, bevor ich die Rezension fertig mache, muss ich mal besser sortieren.
Ich werde also mal etwas strukturierter.
Dialoge und Tonalität:
Ziemlich geil, und glaubhaft, oft erstaunlich schnoddrig (auch im Nicht-Dialogtext), aber nie zu dick für meinen Geschmack.
Einstieg:
Der hätte besser sein können. Bis der Weltenbau mich getragen hat, habe ich mich noch gefragt "Warum wird mir das empfohlen?". Aber so ca. ab Seite 40 war ich dann aus mir selbst heraus ausreichend gefesselt, um weiterzulesen. Und später kam ich eh nicht mehr weg, da sich die Ereignisse rasant fortsetzen und es keinerlei Längen gibt. Den Schluss fand ich klasse und eine Fortsetzung kann ich im Gegensatz zu Franz nicht erkennen. Klar, er könnte eine machen, die Welt ist geil, aber diese Geschichte ist ja zu Ende erzählt.
Schilderung von Gefühlen:
Da würde ich den Autor gern noch mal auf die Schulbank schicken, aber meine persönlichen Lese-Anforderungen in diesem Bereich sind auch sehr hoch. Mich kriegt man nicht mit "mehr vom gleichen". Hier wählt der Autor meistens doch allgemeine Gedanken, die nicht konkret und detailreich genug werden. Mehr ein "dieses Gefühl ist gerade Sache" und kein Eintauchen darin.
Beispiele:
"Dann dachte sie kurz an ihre Tochter, die nach dem Unfall gerade lernte, wie man mit Gedanken einen künstlichen Arm steuerte. Eine kurze Aufwallung von Stolz und Liebe durchflutete die Ermittlerin."
Als Testleserin hätte ich den zweiten Satz sofort dick angestrichen und mir statt der allgemeinen Beschreibung irgendein Detail gewünscht, ein Bild, das die Mutter von ihrer Tochter hat, das mir mehr von den Figuren zeigt, dem Ganzen mehr Gesicht gibt.
Gleiches beim Schildern von Trauer:
"XY blieb stumm, während die Realität langsam über sie hereinbrach und einen Schmerz auslöste, für den sie keine Worte hatte."
Das ist deutlich besser als Beispiel 1, ich will aber mehr. Sorry, ich weiß. Mein Lese-Anspruch kann schon anstrengend sein.
Was aber wirklich gut war, war die Schilderung der Dialoge einer Person, die gerade intensiv fühlt. Sie sagen meines Erachtens immer Dinge, die absolut zur Situation und ihren Empfindungen passend. Insofern hätte man ggf. sogar den "Begleittext" weglassen können und wir füllen diese Leerstellen beim Lesen.
Frauen empowern
Frauen sprechen hier nicht über Männer, Mode oder Schminke, sondern über Kampftaktiken. Das ist extrem nice und macht irre viel Spaß (und erinnert wiederum an Endres' Prinzessinnen, wenn ich auch echt viele Unterschiede zwischen den Büchern sehe. Aber vielleicht sollten die zwei sich mal gegenseitig lesen?). Manchmal kamen seltsame Momente, wenn eine junge Frau "Mädchen" genannt wird (auch im Begleittext), ist das eine schweizerische Eigenheit? Hierzulande würde ich es als sexistisch-gleichmachend empfinden, wenn wir erwachsene Frauen so nennen. (Im Dialog sagt mal jemand "junge Dame", da wäre ich total ausgerastet. Aber ich bin auch nicht mehr jung.)
Ansonsten sehr geil, es kommen viele Frauen vor und ich finde die alle sehr plastisch. Die Männer auch. Es gibt sicherlich ein paar Figuren mehr, als ich mir auf unter 400 Seiten gut merken kann, aber der Handlung konnte ich trotzdem folgen.
Weltenbau
Absolut geil. Wer SF vor allem deswegen liest, dem müsste man das Buch eigentlich vor die Brust tackern. Es kommt auch nicht in so riesigen Infodump-Quallen, sondern nach und nach. Man erfährt auch, was in der Welt so los war und ist.
"2024 Zusammenbruch von Putins Reich"
"2029 Zweiter Amerikanischer Bürgerkrieg"
"Entstehung der neuen Kontinentalkräfte Euro, PakInd, Asia, Afrikanischer Union plus Israil und NordKan" (und da kommt noch mehr ...)
(Ich find's auch geil, was aus Australien, Neuseeland, Hongkong und Taiwan geworden ist. Meinetwegen kann der Autor diese Welt gern wieder besuchen.)
Was die KIs betrifft, so haben die Level und das ist ziemlich cool und sehr durchdacht. Klar, Cali (Leas Armprotese) lernen wir am besten kennen, dann gibt's aber noch andere, ob von Regierungen oder andere - plus, die die Asimov'schen Gesetze haben unaufdringliche Auftritte.
Stil
Mal hier mal da gab es Phrasen, aber angenehm wenig und manchmal gibt's schon Sätze, die ich mir gern abschreiben würde. Und hiermit tue:
"Wie Skelette postmoderner Saurier verrosteten rechts und links der schmalen Straße die Überreste der Fahrzeugschwemme des frühen Jahrhunderts." (mega geil)
"den trockenen Lippenstift wie roten Mörtel auf den Lippen"
Dialog: "Und du bist sowas wie ein Batman für Arme, einfach ohne die geilen Spielsachen"
Coole Infos über Figur:
"... diesen Meyr rekrutiert, den man nicht über Corpo-Erpressung, Geld oder Hierarchie neutralisieren kann."
Macht mir persönlich einfach Spaß:
"Man kann nie genug Gewalt gegen Arschlöcher einsetzen" (Ich stimme nicht zu, aber im Rahmen eines Romans macht es einfach Spaß)
Popkultur-Anspielungen:
"Du solltest die blaue Pille nehmen, nicht die rote" (die Begründung dazu ist auch cool)
Wieder Weltenbau-Details, die ich mag:
"Aggressive Werbespots stellten sich ihnen in den Weg und flackerten kurz, bevor der vom Cart ausgesandte Spamfilter sie löschte"
"Der Kontrast zwischen der topseriösen Atmosphäre der ehrwürdigen Institution, dem Ernst der beiden Banker und der kleinen, grünen Comicschildkröte hätte nicht größer sein können"
"Wie konntest du wissen, dass er mit einem Bösewicht-Monolog anfangen würde? Schließlich ist er kein richtiger Mann. Und dies ist kein Film."
Ich habe noch mehr markiert. Ich habe aber genug gesagt, denke ich, damit der Roman die richtigen Lesenden findet, also bestenfalls die, die genauso viel Spaß daran haben wie ich. :-)
Für ich ist dieser Roman für 2023 auf Platz 3, gleich nach Lenas Novelle Dies ist mein letztes Lied und Aikis Neurobiest, auch wenn es zugegebenermaßen eine komplett andere Geschmacksrichtung ist.