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Christopher Priest - The Inverted World (1974) / dt.: Der steile Horizont (1976)

altered reality Raumzeitverzerrung Subjektivität Hyperboloid

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    Ufonaut

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Geschrieben 24 Februar 2024 - 18:00

Anlässlich des kürzlich mit 80 Jahren im Februar diesen Jahres verstorbenen britischen Autors Christopher Priest möchte ich gerne eines seiner

Werke vorstellen, das mich am stärksten beeindruckt hat. Es ist aus seiner Anfangszeit, als Priest sich noch im klassischen SF-Genre bewegte.

Seine späteren Romane waren der SF nicht immer eindeutig zuordbar , enthielten aber immer wieder mehr oder weniger Elemente des Genres.

Alle einte aber im Grundsatz die Infragestellung gegebener Realität, subjektiver Wahrnehmung und der Konsequenzen für uns die sich aus der

Diskrepanz zwischen beiden ergibt.

 

Inhalt

 „Ich war sechshundertfünfzig Meilen alt geworden. […] Es war ein bedeutsamer und aufregender Augenblick für mich.

Höhepunkt und Essenz meines bisherigen Lebens.“

 

So beginnt Priest seinen Roman und lässt uns durch die Verwendung der Raumdimension als Altersangabe schon ganz am Anfang

etwas verblüfft zurück.

Helward Mann soll in die Gilde der Zukunftsvermesser der Stadt ‚Erde‘ aufgenommen werden. Die Stadt selber zieht sich mittels

in ihrem Fundament befindlichen Motoren auf zuvor von der Schienenbauergilde verlegten Gleisen

über die Oberfläche einer Welt , die anscheinend eine Katastrophe durchschritten hat aber in einem wesentlichen Aspekt radikal anders

beschaffen ist als unsere: Die uns bekannte euklidische Geometrie der Welt als eine Sphäre gilt dort nicht.

 

Ihre Bewohner nehmen die Objekte ihres überschaubaren Universums als hyperboloide Formen war (s. geometrische Abb. u.).

Vielmehr deren intrinsischen Eigenschaften bezüglich Raumzeit-Gradienten auf einer hyperbolischen Fläche:

 

Sowohl deren Sonne als auch die Welt und ihr Mond, in der sie sich bewegen, werden so zu in Richtung der Ränder hin durch anwachsende räumliche

und zeitliche Verzerrungen bestimmt, und die am infinitisimalen Rand sogar unendliche Werte annähmen – schon lange vorher würden

die extremen Verzerrungen somit Stadt und Bewohner katastrophal bedrohen. Die Stadt muss deswegen im ‚Optimum‘ gehalten werden ,

wo die Verzerrungen nicht wahrnehmbar sind. Diese Notwendikeit wird durch die überlieferte „Destain-Direktive“ bestimmt,

der viele vorangegangene Generationen seit Jahrhunderten folgten und noch kommende Generationen folgen müssen.

 

Mann muss das Gildensystem durchlaufen bis er bei den Zukunftsvermessern aufgenommen wird. Der notwendige Kurs wird durch die Gilde

bei der Kartierung des vorausliegenden Terrains bestimmt – räumliche Abweichungen müssen minimiert werden , ansonsten die exponentiell

zunehmenden Gradienten der Raumzeit-Verzerrung zu einer Katastrophe führten. Durch diese Lehrzeit erfährt er einige Besonderheiten über

seine Welt – so zB das mit zunehmender Entfernung vom Optimum in Richtung „Norden“ die Zeit für die Reisenden immer schneller vergeht

(so das sie bei Rückkehr gegenüber den Stadtbewohnern um Jahre gealtert sind) und Distanzen sich zu vergrössern scheinen. In entgegengesetzter

Richtung ist die Verzerrung der Zeit durch Verlangsamung gekennzeichnet (Rückkehrer sind kaum gealtert, während in der Stadt Jahre vergingen)

und die räumlichen Distanzen sich auf absurde Weise, mit Folgen für die Bewohner, zu verkleinern scheinen.

 

Die Stadt selber rekrutiert von den heruntergekommenen und verarmten , in der Nähe der festgelegten Route liegenden Siedlungen zeitweise

notwendige Arbeitskräfte – als auch vorübergehende Gefährtinnen , die der an Frauenmangel leidenden Stadt Mädchen gebären sollen –

männliche Nachkommen werden den Exilfrauen wieder mitgegeben , wenn sie die Stadt nach ein paar Jahren wegen zu vermeidender Überbevölkerung

verlassen müssen. Das kolonialistisch anmutende skalvenähnliche System wird von Mann und den Bewohnern nicht in Frage gestellt, da es ihre

Existenz und das Überleben der Stadt sichern hilft – und den Zwangsverpflichteten ein kleines Auskommen beschert.

 

Dennoch beginnt Helward sich immerhin Fragen zu stellen, die er mit der wahrnehmbaren Realität auf seinen Ausflügen im Auftrag der Stadt

nicht in Einklang bringen kann: Die sesshaften Bewohner der Orte scheinen gegenüber den räumlichen und zeitlichen Verzerrungen indifferent und es scheint

ihnen nichts auszumachen – es lässt sich aber auch nichts auf praktische Art in Erfahrung bringen, da Orte, die soweit vom Optimum entfernt liegen,

nicht mehr für Stadtbewohner zugänglich sind.

 

Durch die Begegnung mit Elisabeth in einer der Siedlungen (die selbst aber aus einem unbekannten Teil der Welt zu kommen scheint und sich als

Medizinerin bezeichnet) , wird sein Weltbild erschüttert. Für Mann sind ihre Erkenntnisse unanehmbar – es würde die Bedeutung seines Lebens und

die der rollenden Stadt komplett verändern. Wird sich Helward Mann der Realität stellen können?

 

Kritik

Sein dritter Roman, The Inverted World (dt.: Der steile Horizont ), markiert den Höhepunkt seiner Karriere als klassischer Genre SF Autor und

bleibt einer der beeindruckendsten britischen Ideen-SF-Romane. Obwohl sich herausstellt, dass die Realität der Bewohner der Stadt

(in gewissem Sinne) nicht allgemein gilt, ist die hyperboloide Welt, über die sich die Stadt Erde auf Rollen bewegt, der seltsamste Planet, der seit

Mesklin in Hal Clements „Mission of Gravity “ 1953 (dt. „Schwere Welten “) ) erfunden wurde: Der Einsatz der räumlichen und zeitlichen Verzerrung

als Stilmittel , die er den Bewohnern der Stadt auferlegt, bringt den Leser zu der Annahme, dass Inverted World in einem echten alternativen Kosmos spielt.

 

Hier leuchtet auch schon früh eines der Kernthemen von Priest auf: WAS ist Realität und wie beeinflusst unsere subjektive Erfahrung diese?

Diese Frage leitet dann auch zu dem konzeptionellen Durchbruch des Romans, als Elisabeth die WAHRE Natur von Mann’s Welt begreift.

Priest ist somit durchaus mit Philip K. Dick auf einer Linie – beide stellen die Realität, wie sie sich unseren eingeschränkten physischen Sinnen

als auch unserer limitierten Selbsterkenntnis erschliesst (oder verschliesst) in Frage – und fordern eine Korrektur des bestehenden Weltbildes

oder wenn es nicht gelingt eben eines Arrangements mit diesem.

Dies erreicht Priest aber auch – mit gewissem satirischen Blick auf seine Landsleute – wenn er seinem männlichen Hauptprotagonisten eine typische

britische Verstocktheit und Trägheit attestiert. Man möchte diesen oft geradezu durchschütteln und zurufen: Hast du es nicht begriffen?

 

Aber es ist auch ein Zeichen für Priests errnünchterndem Verständnis von SF, die in ihrer Anlage nicht zwangsläufig zur Belehrung von Missständen

der realen Welt führt oder gar zum Willen zu Änderung, dass sein Hauptprotagonist sich weigert, die alte Welt so einfach aufzugeben.

Der Preis ist andererseits wiedergewonnene Freiheit – und dieser scheint angesichts der notwendigen radikalen Änderung von Weltbildern ,

in denen man sich bequem eingerichtet hat, oft zu hoch.

 

Gelesen wurde die deutsche Übersetzung Der steile Horizont (1976)

original: Inverted World (1974)


 

Christopher Priest in der isfdb

 

Hyperboloid und geometrische Darstellung des optimalen Kurses (rot) in der hyperbolischen Raumzeit. In Priests Welt reicht die Betrachtung der blaugerahmten Hälfte. In der realen Topografie sind durch Berge oder Flüsse Umwege nötig, die aber minimiert werden müssen. Richtung N(ord) und S(üd) nehmen die Raumzeitgradienten exponentielle Werte an und diese Bereiche sind unzugänglich.

 

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Bearbeitet von head_in_the_clouds, 26 Februar 2024 - 14:24.

"Why should one be afraid of something merely because it is strange?"

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