Ich habe Proxi als dritten Roman einer zukünftigen Welt wahrgenommen, in der auch Neongrau und Neurobiest angesiedelt sind, auch wenn Proxi einige Jahrzehnte nach Neongrau und Neurobiest spielt. Die Klimakatastrophe ist somit ungebremst weiter fortgeschritten, hat viele Gewässer austrocknen lassen, die Plastikstrudel der Ozeane trifft man nun auch an Land an – und das ist das bislang stärkste Bild, das ich nun zum Thema Klimawandel habe. Wie immer bei Aiki Mira sind viele Menschen in digitale Welten geflüchtet und das Neurosubstrat (aus Neurobiest) dient als Basis für künstliche Lebewesen und ist die für mich offensichtlichste Querbeziehung zwischen den Romanen.
Aiki Mira geht in ihren Texten gerne einen Schritt weiter als viele andere SF-Autor*innen, und so ist ihre Hauptfigur Tell nicht (wie sonst so oft) eine Person, die aus der analogen Welt kommend sich in einer digitalen (Spiele-) Welt zurechtfinden muss, sondern eine Person, die den größten Teil ihres Lebens in der Simulationswelt Proxi verbracht hat, wo sie als Sängerin Monae erfolgreich ist, während sie in der realen Welt Kurierdienste auf dem Motorrad in zerfallenen Städten anbietet. Zwei krass gegensätzliche Lebenswelten, und mit der Reise in eine fast surreal anmutenden zukünftigen Realwelt wird Tell nicht nur durch den permanenten Aufenthalt in der analogen Welt gefordert, sondern zudem noch einer lebensfeindlichen Umgebung ausgesetzt. Diese Herausforderung wird beeindruckend geschildert.
Ähnliches gilt für Kawi, die zweite Hauptfigur. Auch deren Fokus lag auf Proxi, wo sie in der Gestalt eines Panthers umhergestreift war, zudem eine bekannte Gamerin war, während sie in der Realwelt sich als moderne Bodybuilderin versucht. Auch hier habe ich als Leser eine neue Perspektive und eine neue Form von Verlust kennengelernt, der eines tollen Körpers, der nun nicht mehr existiert.
Und mit Dion, dem künstlichen, menschenähnlichen Wesen geschaffen aus Biomasse, muss sich eine vom Konzern versklavte Person in einer für them fremden Welt zurechtfinden, aber mehr noch mit einer ungewohnten Freiheit.
Die drei Hauptfiguren sind zerrissen, unsicher und perspektivlos, suchen nach einem Lebenssinn und finden Unterstützung und Verständnis bei den beiden anderen, obwohl sie so verschieden sind, weil sie Normen ignorieren und erste Eindrücke revidieren können. Und so gelingt es ihnen, in der Postapokalypse die Saat für eine neue Form von Utopie zu legen.
Dass die drei in einem Campingbus unterwegs sind, wirkte auf mich wie ein Anachronismus, aber auch wie ein passendes Sinnbild für einen geschützten Raum, der aber viel Eigeninitiative erfordert. Proxi ist somit für mich auch ein Roadmovie, in dem sich die Protagonisten langsam näher kommen.
Den Fokus sehe ich aber auf der Schilderung einer postanalogen Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Simulationswelt langsam verschwinden, in der echter Körper und digitaler Avatar gleichermaßen wichtig sind und ähnlich behandelt werden, und in der neue Arten von Beziehungen entstehen, in der Körper und Geschlecht anders bewertet werden.
Auch sprachlich überschreitet Aiki Mira die Grenzen zwischen digitaler und analoger Welt, beschreibt mit Begriffen aus der Informatik Gefühle, das Wetter und Landschaften, und gibt somit einem Konstrukt wie Deon eine eigene Stimme. Zugleich erinnern mich die Schilderungen des Weltenbaus an die Beschreibungen des Cyberspace in den frühen Romanen von William Gibson. Zudem erschafft die Autorx wieder eine neue Alltagssprache mit Phrasen und Ausdrücken, die aus vielen europäischen und arabischen Sprachen stammen, abgeschliffen und umgeformt wurden, aber im Kontext verständlich sind.
Wie man in einem Buch, das dermaßen mit der Sprache spielt und versucht, dieser eine Weiterentwicklung zu geben, dann einzelne Wortkonstrukte als „Verunglimpfung“ einer Sprache interpretieren kann, wie Nate es tat, ist mir unverständlich. Zumal rostig auch noch gezeigt hat, dass diese „Verunglimpfung“ faktisch gar nicht stattfand.
Ebenso wenig verstehe ich die Interpretation der Vielfalt der Hauptfiguren als Schizophrenie oder Dissoziative Identitätsstörung. Gerade weil Aiki Mira diese Vielfalt parallel in verschiedenen Ebenen und Aspekten aufzeigt, als konträre analoge und digitale Persönlichkeit, als genderfluide Person, als trans Person, als geschlechtsneutrales Konstrukt. Und insbesondere, weil es um das Finden der eigenen Persönlichkeit im Chaos von Heimatverlust und lebensfeindlicher Umgebung geht. Wer als SF-Fan mal von Daniel Keyes, dem Autor von Blumen für Algernon, die beeindruckenden Romane Die fünfte Sally oder Die Leben des Billy Milligan gelesen hat, hat lernen können, dass multiple Persönlichkeiten etwas ganz anderes sind.
Natürlich wird jede*r den Roman anders lesen und interpretieren. Aber wenn man seine Interpretation nicht als Meinungsäußerung formuliert, sondern als unumstößliche Tatsache in einer belehrenden Form, dann ist das keine Meinungsäußerung, sondern beleidigend. Die anschließende Diffamierung im nächsten Posting deutet darauf hin, dass es auch so beleidigend gemeint war. Daher vielen Dank an Jannis für die notwendigen und völlig gerechtfertigten Verwarnungen.