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Chris Beckett – „Dark Eden“ (2012): Epische Parabel über menschliche Grundkonflikte in fremdartiger Weltenkreation


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    Yoginaut

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Geschrieben 06 Juli 2024 - 14:06

spoilerarm

 

Über den Autor

 

Der 1955 geborene britische SF Autor Chris Beckett war bis er Vollzeitschreibender wurde als Sozialarbeiter und Dozent mit dieser Ausrichtung an der Anglia Ruskin University Cambridge tätig – was der Trilogie durch die gesellschaftstkritischen Aspekte anzumerken ist. Beckett eröffnete die in der Tradition klassischer Genre SF stehende Eden Trilogie 2012 mit Dark Eden. Es folgten mit Mother of Eden und Daughter of Eden zwei Fortsetzungen die 2015 und 2016 BSFA -Nominierungen erhielten.

 

Vorgestellt wird der 1. Teil Dark Eden der 2013 Clarke Award Sieger wurde.

 

 

Inhalt:

 

Eden ist ein kalter , lichtloser Planet der (da lässt Beckett uns im Unklaren) entweder keinen Stern besitzt oder dieser ist zuweit entfernt, das für Leben wie wir es kennen weder Licht für Photosynthese noch die notwendige Wärmeenergie zur Verfügung steht. Nur das Band der Milchstraße und einige Fixsterne sind zu sehen. Ansonsten beherrscht ewige Dunkelheit den Nachthimmel des Planeten.

 

Dennoch hat Eden ein Ökosystem mit einer Flora und Fauna deren evolutionärer Ursprung durch tiefliegende geothermale Quellen ermöglicht wird. Diese werden durch baumanaloge Gewächse in erster Linie als Wärme in Form heißen Wassers an die Oberfläche befördert. So wird Leben ermöglicht, das zudem eine charakteristische Biolumineszenz entwickelt hat und damit die einzige Lichtquelle des Planeten darstellt. Es existiert eine artenarme, individuenreiche aquatisch-terrestrische Lebenspyramide, die beginnend mit Phytophagen bis zu karnivoren Organismen reicht. Diese haben jedoch in ihrem Aufbau nichts gemein mit auf der Erde entsprechendem Leben und muten in vielen Körpermerkmalen und -funktionen fremdartig an. Es gibt aber auch Spezies die an Fledermäuse der Erde erinnern , die die Eigenschaft besitzen, sich durch Sonarsignale orientieren zu können. Intelligentes natives Leben hat Eden nicht entwickelt.

 

Nichtsdestotrotz lebt hier eine kleine Gruppe von 532 Menschen in der 6. Generation - alle Nachkommen von zwei Besatzungsmitgliedern welche (wie wir aus Überlieferungen erfahren) vor etwa 160 Jahren mit drei weiteren Menschen in einem defekten Landeshuttle auf Eden strandeten: Angela und Tom. Die drei anderen Besatzungsmitglieder versuchten das immer noch um den Planeten kreisende Raumschiff mit dem reparierten Shuttle zu erreichen um dann durch das nahe Wurmloch ,aus dem sie in diese Region vermutlich durch einen Fehlsprung verschlagen wurden, zur Erde zu gelangen um mit einem Rettungsteam zurückzukehren. Es ist nicht klar, ob sie dieses Ziel erreichten.

 

Was zur Trennung in die beiden Gruppen führte und warum sich Angela und Tom dazu entschlossen auf Eden zu bleiben erschliesst sich langsam im Lauf der Geschichte. Die Geschehnisse wurden inzwischen von den auf Sammler und Jäger Niveau lebenden Stammesverbänden (die sich „FAMILIE“ nennen) zu einem "Adam und Eva" ähnlichen Mythos verklärt. Der Sinn ihrer Existenz sieht die Familie in der Hoffnung , das eine zukünftige Rettungsmission erfolgreich ist und sie zur Erde zurückkehren können – von der sie wissen das es ein heller und warmer Planet ist im Gegensatz zur lichtlosen Welt Edens der sie sich durch ihre grundlegende Fremdartigkeit nicht zugehörig fühlen.

 

Die eigentliche Geschichte wird vornehmlich aus der Ich-Perspektive des mit einem gewissen Charisma ausgestatteten Hauptprotagonisten John Redlantern erzählt. John ist ein junger Erwachsener der das Quasi- Glaubenssystem der älteren Generationen in Frage stellt – nämlich das jetzt schon über 160 Jahre lange Ausharren in der Siedlung an der Absturzstelle um eine mögliche stattfindende Landung des Rettungsteams nicht zu verpassen. Beckett verwendet auch andere Ich-Perspektiven - vornehmlich seiner Unterstützer (insbesondere Tina Spiketree, die eine Seelenverwandtschaft zu John besitzt) und die er überzeugt, das die Lehren der Nachfolgegenerationen obsolet geworden sind und eigentlich nie der Intention der beiden Gründer entsprochen haben. Vielmehr verhindere es neue Dinge zu wagen anstatt Eden zu explorieren und die Stämme so aus der ökologischen Sackgasse zu führen– womit er sich natürlicherweise Feinde bei den Ältesten und einem guten Teil der Stammesmitgliedern schafft, die befürchten, ihre Rettung zu verunmöglichen, sollten sie die nähere Umgebung des Landeortes verlassen.

 

Aber John bemerkt, das die kleine Gruppe im Niedergang begriffen ist- nicht zuletzt durch die harschen Umweltbedingungen, die immer weniger Zeit lassen, die von den Gründern mitgegebenen Kulturtechniken aufrecht zu erhalten. So lässt das Vermögen zu rechnen oder zu schreiben immer mehr nach, da bisherige Lehrer nun notwendigerweise Jäger oder Sammler werden müssen. Aber auch die zunehmenden Fehlgeburten oder Missbildungen als negative Folgen des eingeschränkten Genpools nehmen zu. Die anzustrebende Lösung einer größeren Einwohnerzahl ist aber durch die schwindende ökologische Tragfähigkeit des selbstauferlegten begrenzten Siedlungsbereich nicht möglich. John hat die Überzeugung, das die ursprüngliche Absicht der Gründer eine Ausbreitung in andere Regionen Edens war um dieser ökologischen wie populationsbiologischen Kalamität zu entgehen.

 

Bewusst begeht er ein aus der Sicht der Stämme unverzeihliches Sakrileg , das zu Ereignissen führt , die das Potential haben , die Gemeinschaft und deren Weltsicht für immer zu verändern und einer Vertreibung aus dem (allerdings nur scheinbaren) Paradies gleichkommt.

 

 

Kritik

 

Beckett komponiert die Geschichte gekonnt in einer wundervoll fremdartigen, bisher so unbeschriebenen Weltenkreation eindrucksvoll aus den Ich-Perspektiven der Hauptpersonen, die mit echten Motiven und Zweifeln überzeugend charakterisiert werden. Allen voran John , ein von seinen Ambitionen und Plänen Getriebener ,der selbst von der kleinen Gruppe seiner Anhänger nicht immer verstanden wird und der seinem Leitgedanken...das Notwendige zu tun was für die Zukunft essentiell ist und nicht das in der unmittelbaren Situation Bequemere“ alles unterordnet, auch seine persönlichen Bedürfnisse oder die der anderen. Auch die der ihm am Nächsten stehenden Person Tina Spiketree. Er präferiert selbst nur eine monogame Beziehung mit ihr – während die junge Frau, wie die Mitglieder der Stammesverbände, promiskuitive Beziehungen pflegt, was allerdings durch die schmale Variabilität des Genpools begründet ist. So ist zb. oft nie klar, wer Vater eines Kindes ist – aber sich gerade dadurch viele um die Jüngsten gemeinsam kümmern. Zudem sind Vermögensanhäufung oder auch Machtweitergabe (und dadurch Partikularinteressen und Einflussnahme) durch Erbe an die nächste Generation ausgeschlossen – was John allerdings als Nachteil sieht für eine planvolle Entwicklung einer grösser werdenden Besiedlung.

 

Aber das ist Eden und wie der biblische Bezug andeutet, existiert bisher keine Gewalt und kein Mord , jeder kümmert sich um den anderen – aber John möchte von dem Baum der Erkenntnis kosten und sehen, was hinter der schmalen Grenze der Siedlung liegt um das Überleben zu sichern – und das um jeden Preis , auch wenn ihn seine Entscheidungen einsam machen und sie auf Unverständnis stoßen. Gleichzeitig zeigt Beckett auch eine Zwiespältigkeit in seinem Wesen auf: John ist ein Mann, dem es auch darum geht, der Geschichte seinen individuellen Stempel – wenn nötig mit aus seiner Sicht gerechtfertigten Grenzüberschreitungen - aufzudrücken. Dies hat das unbeabsichtigte Potential das bisherige, gleichberechtigte kommunale Zusammenleben der Einzelnen oder zwischen den Stämmen aber auch der Geschlechter zu beenden – mit allen negativen Folgen.

Insbesondere da Angela den weiblichen Nachkommen zudem einen geheimen Verhaltenskodex mitgegeben hat, der nur von der Mutter auf die vertrauenswürdigste Tochter weitergegeben wird und dessen vereinfachte Regeln in etwa den Menschenrechten entsprechen – es sollte in Voraussicht den Folgegenerationen die Kämpfe und das Leid ersparen, die es brauchte um diese auf der Erde zu etablieren:

 

Denkt immer daran, dass Frauen genauso gut sind wie Männer …“
„Nur weil jemand denkt, er sei etwas Besonderes, heißt das nicht, dass er wirklich besser ist als alle anderen, das Gleiche gilt wenn er das meint weil er eine große Hütte oder einen schicken Schal besitzt…“
„Behandelt andere nicht, als wären sie Dinge, die euch gehören …“

...

 

Dem steht aber Johns unabdingbare Kompromisslosigkeit bezüglich des Überlebens der Nachkommen gegenüber, wie auch das Unvermögen der Stämme ihr starres Glaubenssystem zu überwinden. Dies lässt aus seiner Sicht keine Möglichkeit übrig, das bisher zwar friedfertige , aber stagnierende und existentiell bedrohte Zusammenleben fortzuführen. Er muss sich zum Anführer und Visionär entwickeln, der bisher Ungedachtes erwägt und Unmögliches vollbringt – und leitet so einen Paradigmenwechsel der Weltsicht ein: eine bisher matriarchalisch anmutende friedfertige Lebensweise wird von patriarchalischen, gewaltsamen Strukturen durchsetzt – zwar in gut gemeinter Absicht aber bekanntlich ist das Gegenteil von gut nicht böse, sondern gut gemeint. Das ist aber weder John noch den Stämmen bewusst. Nur Tina Spiketree, die den Kodex kennt, zeigt eine gewisse Ambivalenz, steht aber letztendlich hinter John – auch durch die sich überstürzenden gewaltsamen Ereignisse verursacht durch seiner Gegner.

 

Beckett verwendet die traditionelle Erzählkunst von Genre SF in eindringlicher Weise und geradliniger Sprache (die den englischen Text zugänglicher macht) als allmähliche Offenbarung was es mit Eden ,den Gründern und dem Schicksal ihrer Nachkommen auf sich hat in einer bisher so nicht geschilderten fremdartigen Umgebung: Einer ewigen Dunkelheit , nur spärlich erhellt, in der Menschen am Rande der Auslöschung stehen – der sich aber ein Einzelner entgegenstellt und eine gleichgesinnte Gruppe um sich versammelt ,die den Verlauf der Geschichte verändern könnten – unabsehbaren ambivalenten Folgen. Ein gesellschaftliches Experiment mit ungewissem Ausgang.

 

Denn Beckett stellt im Prinzip existentielle Fragen, die heute relevanter denn je sind: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Inwiefern sind Gewalt und Machtausübung gesellschaftlich gerechtfertigt als Mittel zum Zweck – und wann verkommen diese ausschließlich zum Selbstzweck? Sind sie wirklich alternativlos und zwangsläufig notwendig für eine gesellschaftliche Fortentwicklung?

 

Wenn man Chris Beckett bisher noch nicht kennt oder gute traditionelle Erzählung und gleichzeitig SF mit aktuellen Bezügen mag , die auch eine epische Parabel des mühevollen Wegs der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen ist - mit all ihren Grundkonflikten von Ausbeutung, Diskriminierung, Gewalt und Machtmissbrauch - im Brennglas einer kleinen, gegen die Auslöschung kämpfenden Gruppe Menschen. Konflikte, die auch gegenwärtig immer noch auszufechten sind. Deswegen sollte man Dark Eden und seine beiden Fortsetzungen unbedingt auf die Todo Leseliste setzen und einen das englische Original nicht abschreckt.

 

Soviel sei hier bezüglich des 2. und 3. Teils verraten: Das aufeinanderprallen unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe wird im 1. Teil nur andeutungsweise thematisiert, im 2. Teil „Mother of Eden“, der ca. vier Generationen später einsetzt, aber explizit aufgegriffen und weitergeführt. Dort ist die weibliche Hauptperson - im Gegensatz zum männlichen Protagonisten des 1. Teils - die junge Starlight Brooking , die das Erfordernis sieht, die entstandenen Fehlentwicklungen durch den von John initiierten Aufbruch zu korrigieren. Sie sieht es als zentrale Problemlösung an, Angelas Verhaltenskodex (der inzwischen von den männlichen Herrschern abgeändert und so instrumentalisiert wurde) wieder echte Geltung zu verschaffen. Im letzten Teil Daughter of Eden übernimmt wiederum eine weibliche Hauptperson (Starlights Freundin Angie) die Schilderung der Ereignisse. Da Angie ein Batface ist (so werden die Nachkommen genannt, die Hasenscharten haben weswegen sie direkt oder indirekt wegen ihres Aussehens diskriminiert werden) , erfolgt die Sicht nun von den Untersten in der Hierarchie. Die Trilogie wird folgerichtig zum Abschluss gebracht – wobei einschlägige Erwartungen der Lesenden eben nicht erfüllt werden. Dies ist ein gutes Zeichen, den das ist u.a. eine Aufgabe spannender Lektüre!

 

 

Fun facts

 

  • Edenssingender tiefschwarzer Pseudo-Panther vor schwarzem Nachthimmel‘ auf den John zu Anfang des Romans trifft, ist in Charakterisierung und Auftreten eine Hommage an Van Vogts Coeurl der Kapitel 1-6 aus „Die Expedition der Space Beagle“ in denen der Altmeister die short storyBlack Destroyer“ (dt. "Der schwarze Zerstörer") verarbeitet hat.

  • Die oft in der simplifizierten Stammessprache verwendete Aneinanderreihung von Adjektiven zur Steigerung (zb. „cold cold“ für „eisig“ , „sad sad“ für „tieftraurig“ ) erinnert an eine vereinfachte Version von Neusprech in Orwell’s 1984 (siehe dort zb. Doppelplusgut“ ).

  • Auch zu nennen sind die durch Sprachdegeneration über die Generationen infantil anmutenden Substantivänderungen wie zb. „telly vision“ fürtelevison“ oderlecky-tricktity“ für „electricity“ ohne das die Nachkommen die Bedeutung der zugrundeliegenden korrekten Begriffe wirklich erfassen – was öfters Anlass zum schmunzeln bringt.

 

Gelesen wurde die komplette Eden - Trilogie

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Eden Trilogie

 

 

Chris Beckett in der isfdb


Bearbeitet von head_in_the_clouds, 06 Juli 2024 - 14:59.

"Why should one be afraid of something merely because it is strange?"

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