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Parts per Million von Theresa Hannig

Climate Fiction 2024 Theresa Hannig

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20 Antworten in diesem Thema

#1 Rezensionsnerdista

Rezensionsnerdista

    Yvonne

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Geschrieben 02 Oktober 2024 - 07:51

Hallo zusammen,

 

zurzeit höre ich Parts per Million von Theresa Hannig. Das ist absolut Climate Fiction und sehr Near Future (ich würde anhand der Indizien vermuten, ab ca. 2027, wenn das Kind der Protagonistin 2020 während der COVID-Schulschließung schon in der Schule war und zum Zeitpunkt der Romanhandlung 14 Jahre alt ist).

 

 

Die Protagonistin Johanna ist ca. vierzig oder Anfang 40 und Autorin, hat früher beim Verlag gearbeitet. Sie wohnt im Raum München, hat einen Mann und ein Kind und eine ziemlich typische Vergangenheit (einiges davon erkenne ich wieder, vor allem aus feministischer Sicht). Als sie an eine Straßenblockade von Klima-Aktivist:innen gerät, hat sie die Idee, einen Climate Fiction Roman zu schreiben und beginnt, dafür zu recherchieren. Ihre Recherche ist sehr intensiv, sie macht bei den Aktionen nämlich mit, Tränengas im Auge inklusive. 

 

Die Entwicklung der Protagonistin von einer Person, die eigentlich am Rande steht und nur beobachten will bis hin zu echtem, sehr gefährlichem Aktivismus, wird glaubwürdig und spannend geschildert. Es gibt mal hier mal da einen Moment, mit dem ich nicht ganz mitgehe (hauptsächlich ihren Ehemann betreffend, die Figur gewinnt erst spät an Komplexität), insgesamt ist es aber etwas, bei dem ich denke: Das könnte auch ich sein. Das könnte mir passieren. Das wäre ein Weg, den ich für mich nicht ganz ausschließen kann.

 

Hannig gelingt es hier, sehr nahe an die Ich-Erzählerin zu kommen bzw. mich als Leserin sehr nah zu ihr zu bringen. Ich kann mich sehr gut identifizieren. Das macht den Roman auch so stark, denn die Klima-Bedrohung, auch wenn nur wenige Jahre von meiner Gegenwart entfernt, ist schon real und heftig. 

 

Es gibt eine Stelle im Roman, in der klar gesagt wird, dass wir jetzt schon für unseren Wohlstand über Leichen gehen, nur wohnen diese Leichen eben nicht in Deutschland. Da ich zufällig zeitgleich How beautiful we were / Wie schön wir waren von Imbolo Mbue lese, kann ich da nur nicken. Da sterben Kinder in einem afrikanischen Dorf, in dem ein Ölkonzert das Ackerland unfruchtbar gemacht hat und das Wasser verseucht. Und der Roman spielt ca. 1980. Also, die Apokalypse ist durchaus schon da, nur eben noch nicht hier vor unserer Haustür.

 

 

Parts per Million ist ein starkes Buch, ich habe noch ca. zwei Stunden zum Hören und werde daher vermutlich heute oder morgen fertig. Es ist nicht nur verdammt gut recherchiert, das bin ich ja von Hannig gewohnt, es hat auch eine Kraft, ein Identifikationspotenzial, das beispielsweise Pantopia nicht in dieser Form hatte.

 

Schöne Grüße, Yvonne


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#2 Christian Hornstein

Christian Hornstein

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Geschrieben 26 Oktober 2024 - 09:08

Hier meldet sich ja niemand! Da muss ich dann doch mal miteinsteigen, denn Parts Per Million ist in der Tat ein erwähnenswerter Roman. Da ich ihn schon vor einiger Zeit gelesen habe, kann ich ein wenig ausholen.

Da unsere Lebensgrundlagen und die der kommenden Generationen schon lange auf dem Spiel stehen, ohne dass konsequent gehandelt würde, fragen sich Klima-Aktivisti seit vielen Jahren, wie weit sich ihr Protest wagen darf, ja, wagen muss. Davon handelt Parts Per Million, emotional, spannend, gut recherchiert und für Leser wie mich besonders interessant, da meine Story Grün im Exodus 48 das gleiche Thema fokussiert und eine der rund 400 Geschichten war, die 2022 am Literaturwettbewerb Klimazukünfte 2050 teilgenommen haben. Es gibt Bücher, in denen extremer Klima-Aktivismus vorkommt, aber die Aktivisti selbst und ihr Dilemma stehen nicht im Vordergrund. Das ist seit Grün und jetzt auch bei PPM anders.

Es gibt denn auch viele Parallelen im Detail, unter anderem Deutschlands rechtslastige Regierung an der Schwelle zur Diktatur, verfolgte Klima-Aktivisti, die eine Mischung aus Akademikerdeutsch, Straßenslang und englischen Einschüben sprechen, und konfliktreiche Dialoge zum Thema, in denen recht unartige Wörter fallen. Theresa hat es beim Tempus der Erzählung anscheinend auch mal mit dem Präteritum probiert, ist dann aber auf den Präsens umgestiegen. Eine gute Entscheidung.

Es gibt auch wesentliche Unterschiede. Theresa wählte eine Klima-Dystopie, weil in den Monaten nach der Veröffentlichung ihres Romans Pantopia ihre Hoffnung enttäuscht worden war, ihre Utopie möge zu einer besseren Welt beitragen. Damals war sie Jurymitglied beim Literaturwettbewerb Klimazukünfte 2050. Sie blieb nah bei einer Lebenswirklichkeit, an die ihre Zielgruppe anknüpfen kann. Dadurch wurde der Text weniger fremd als Grün, wo die Verhältnisse satirisch überzeichnet von unserer heutigen Lebensrealität weiter entfernt sind und einen Mittelweg zwischen Dystopie und Utopie nehmen.

Theresa wollte erst aus der Perspektive der Aktivisti erzählen, fand dann aber keinen rechten Zugang und wich auf eine Perspektive aus, die sie besser kannte, ihre eigene, was den Text ihrer Zielgruppe ebenfalls näherbringen dürfte. Viele Regungen von PPMs Hauptfigur Johanna sind Theresas Recherchetagebuch entnommen. In Grün berichtet ebenfalls eine in die Erzählwelt involvierte Stimme, allerdings eine, die das Lebensgefühl der Aktivisti-Generation teilt.

PPM konzentriert sich auf Terrorismus, also das Erzwingen durch Angst und Schrecken. In Grün geht es hingegen um den Versuch einer Minderheit, eine wesentliche Ursache des mangelnden Umweltschutzes zu beheben, auch wenn der dort gewählte Ansatz problematisch ist. PPM zeigt den Weg in eine Eskalationsspirale. Grün versucht zusätzlich die Tür zu einer Lösung aufzustoßen.

Es gibt Menschen, die Organisationen wie die Letzte Generation heute schon als terroristisch empfinden. Durch seine Gegenwartsnähe und seinen Fokus auf Terrorismus läuft PPM Gefahr, eine verzerrte Wahrnehmung des Klima-Aktivismus als etwas bedrohliches und illegitimes zu bestätigen. Die Verdrängung und Heuchelei in der Gesellschaft werden in PPM ausführlich angesprochen, aber der Roman nähert sich der Situation überwiegend moralisierend. Es gibt jedoch viele Faktoren, die halbherzigen Klimaschutz bestimmen, wie fehlendes Vertrauen, Desinformation, Denkfallen, ineffektive Konfliktlösungen und vieles mehr. PPM konzentriert sich auf wenige Aspekte. Dadurch ist PPM wuchtig, aber auch einseitig.

Johanna ist Schriftstellerin, in ihrer Ehe frustriert und was ihr Bewusstsein für Nachhaltigkeit angeht eine typische Durchschnittsbürgerin. Dennoch radikalisiert sie sich in kürzester Zeit im Klima-Aktivismus, übernimmt sogar die Führung und weist allen den Weg. Das ist nicht ganz plausibel und das weiß Theresa, denn gefragt, ob sie Bedenken hat, in ihrem Roman jede Menge Ideen zu liefern, wie Aktivisti terroristischen Druck ausüben könnten, antwortet sie, nur eine Schriftstellerin zu sein, die sich wenige Monate mit der Materie beschäftigt habe. Sie nehme an, langjährige Aktivisti seien schon längst auf diese Ideen gekommen. So wird es wohl sein, weshalb Johannas Wandlung zur führenden Ideenlieferantin etwas unglaubwürdig wirkt. Andererseits: Falls die Lage demnächst eskaliert und eine neue Generation von Aktivisti sich doch auf Ideen aus PPM beziehen sollte, stünde die Büchse der Pandora unwiderruflich offen.

Auch an anderen Stellen knirscht es im Glaubwürdigkeitsgebälk. Johanna wird schon bei der ersten Demonstration fotografiert, aber nicht identifiziert, weil alle Aktivisti ihre Gesichter bemalt haben. Es gibt aber schon heute Systeme, die sich von Bemalungen nicht mehr irritieren lassen, und die Suche per Bild ist im Internet Alltag. Social Media und Augmented Reality lassen grüßen. Kurzer Blick nach China genügt.

Die Hauptfigur als Repräsentantin des Aktivismus handelt ihrer Familie gegenüber verantwortungslos und schadet ihr. Welche Mutter würde ihrer Tochter vorschlagen, auf eine Demo mitzugehen, wenn sie dort Misshandlungen erwarten? Der Geheimhaltung verpflichtet fällt Johanna, die Frau der Worte, gegenüber ihrer Familie nichts Besseres ein als beharrliches Schweigen. Am Schluss entgleist Johanna sogar in eine sexuell angetriebene Gewaltspirale. Das ist das Bild eines recht unreifen Charakters. Es ist aber die nicht mehr ganz junge Identifikationsfigur des Romans. Licht und Schatten sind bei Figurenzeichnungen sicherlich interessanter als Stereotype, doch hier geht PPM über eine Grenze, hinter der unerwünschte Nebenwirkungen liegen könnten. Das Gleiche gilt für die Darstellung des Klima-Aktivismus. Am Ende gibt es nur noch tiefes Schwarz. Theresa möchte vor einer Eskalation warnen, doch es könnte sein, dass Leseri, die Ende Gelände und LG bereits mit Argwohn betrachten, PPM als Warnung vor dem Klima-Aktivismus missverstehen.

PPM und Grün verdeutlichen, warum der Versuch, eine Gesellschaft durch gewalttätigen Klima-Aktivismus zu zwingen, wahrscheinlich scheitern wird. Es gibt kein System, das von einer Minderheit bestimmt wird, wenn die Mehrheit es nicht zulässt, weder in Oligarchien noch in Autokratien. In PPM unterstützen am Ende viele Tausend den Terror. Die Spaltung der Gesellschaft schreitet voran und ebenso der Krieg. Grün versucht die Aussicht auf basisdemokratische Einflussmöglichkeiten zu eröffnen und auf den Wandel, wenn der konstruktive Teil unseres menschlichen Potentials verwirklicht würde. Ohne das Engagement eines Großteils der Gesellschaft wird Klimaschutz nicht funktionieren, und dieses Engagement wird nicht durch Gewalt entstehen. Es mag angesichts der aktuellen Notlage bedrückend sein, aber auch der Weg der Gewalt wird uns in der Klimakrise wohl nicht rascher ans Ziel führen.

Ich hoffe, es werden noch viele andere diesen Roman lesen und sich hier zu Wort melden.


Bearbeitet von Christian Hornstein, 26 Oktober 2024 - 15:47.


#3 Naut

Naut

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Geschrieben 26 Oktober 2024 - 10:11

Es gibt Bücher, in denen extremer Klima-Aktivismus vorkommt, aber die Aktivisti selbst und ihr Dilemma stehen nicht im Vordergrund.

Ich meine, dass das exakt das zentrale Thema von Kim Stanley Robinsons "Das Ministerium für die Zukunft" ist. Natürlich mit etwas anderen Akzenten. Und es gibt bestimmt auch Beispiele aus den 70ern, die das (dann aus der damaligen Perspektive) beleuchtet haben, da müsste ich aber wühlen.

Bearbeitet von Naut, 26 Oktober 2024 - 10:12.

Liest gerade: Atwood - Die Zeuginnen

#4 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 26 Oktober 2024 - 13:30

Meines Wissens ist Hannig ein großer Fans des Romans von Robinson.

Ich stimme dir zu, Christian, weiter hinten im Buch leidet die Glaubwürdigkeit etwas. Die Richtung ist auch krass. Vermutlich hatte ich mich daher nicht mehr hier geäußert

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#5 Christian Hornstein

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Geschrieben 26 Oktober 2024 - 15:40

Ich meine, dass das exakt das zentrale Thema von Kim Stanley Robinsons "Das Ministerium für die Zukunft" ist. Natürlich mit etwas anderen Akzenten. Und es gibt bestimmt auch Beispiele aus den 70ern, die das (dann aus der damaligen Perspektive) beleuchtet haben, da müsste ich aber wühlen.

 
Ich habe Das Ministerium für die Zukunft von Kim Stanley Robinson gelesen. Der terroristische Aktivismus wird dort verdeckt vom Ministerium für die Zukunft finanziert. Es gibt ein paar wenige Szenen, in denen die Verantwortlichen die Moral ihres Handelns reflektieren, noch weniger Text, der die konkreten Aktionen beschreibt. Das macht alles nur einen Bruchteil der 716 Seiten aus.

 

Kapitel 1 des Romans von Kim Stanley Robinson ist übrigens grandios. Jedem Menschen, der eine anschauliche Vorstellung davon bekommen möchte, was wir den Menschen in Indien demnächst antun, sollte dieses Kapitel lesen.


Bearbeitet von Christian Hornstein, 26 Oktober 2024 - 16:05.


#6 Christian Hornstein

Christian Hornstein

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Geschrieben 26 Oktober 2024 - 15:43

Meines Wissens ist Hannig ein großer Fans des Romans von Robinson.

Ich stimme dir zu, Christian, weiter hinten im Buch leidet die Glaubwürdigkeit etwas. Die Richtung ist auch krass. Vermutlich hatte ich mich daher nicht mehr hier geäußert

 
Ja, Theresa sagt, dass sie über den dort geschilderten Terrorismus dazu angeregt wurde, über einen solchen in Deutschland nachzudenken. Entwickelt hat sie das Ganze aber wohl erst, nachdem Pantopia veröffentlicht wurde, also im Verlauf des Jahres 2022.


Bearbeitet von Christian Hornstein, 26 Oktober 2024 - 15:43.


#7 Jol Rosenberg

Jol Rosenberg

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Geschrieben 03 November 2024 - 17:55

Ich habe im Urlaub das Buch begonnen zu lesen. Es sprach mich aber leider vom Schreibstil her so wenig an, dass ich bereits recht früh abgebrochen habe. Mich hat da einfach nichts gehooked.


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#8 Christian Hornstein

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Geschrieben 04 November 2024 - 19:38

@Jol

Haben Dich denn das Thema und die Handlung angesprochen?



#9 Jol Rosenberg

Jol Rosenberg

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Geschrieben 04 November 2024 - 21:14

Das Thema sehr. Sonst hätte ich nicht zu lesen begonnen. Allerdings schien mir schon der Untertitel des Romans zu reißerisch.

 

Von der Handlung habe ich nur wenig mitbekommen, dazu habe ich zu früh abgebrochen. Aber der Einstieg über wütende SUV-Fahrer, die Aktivist*innen von der Straße zerren, ist leider inzwischen so ausgelutscht, dass ich mich frage, wie es sein kann, dass das in so kurzer Zeit so ausgelutscht sein kann. Allein in den letzten Wochen habe ich mehrere Texte mit ähnlichen Szenen gelesen, in "Gras" gibt es auch eine Abwandlung davon.

 

Ich war auch erstaunt, dass der Stil so wenig für mich ging, ich habe ja schon einiges von Theresa gelesen und das riss mich stilistisch nicht vom Hocker, aber ich konnte es gut lesen. Theresa schreibt ja meist flüssig und schnörkellos. Meist konnte ich bei den Figuren gut andocken. Aber das ist letztlich so ein Geschmacksding und wo ich andocken kann, ist auch sehr tagesformabhängig. Mich ließ Johanna jedenfalls völlig kalt.


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#10 Christian Hornstein

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Geschrieben 08 November 2024 - 22:15

Das ergibt für mich viel Sinn. Wenn Du schon oft solche Szenen gelesen hast, ist der Einstieg natürlich direkt etwas zu lau. Die Hauptfigur bleibt in der Phase tatsächlich auch noch recht blass und der Stil der Erzählstimme ist in der Tat eher journalistisch. Mich hat jedoch interessiert, wie es weitergeht, vor allem, wie die Hauptfigur tiefer in das Thema gerät und was sich daraus ergibt.



#11 Kai Brassel

Kai Brassel

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Geschrieben 25 November 2024 - 15:53

Hi allerseits. Ich habe das Buch letzte Woche gelesen – hier meine Kritik.
 
Auch wenn sich das nach Widerspruch anhört: Theresa Hannig hat m. E. so etwas wie einen Tatsachenroman aus der Zukunft vorgelegt (s.o. "journalistische Erzählweise"). Der Text ist wie eine Sonde, die in die gesellschaftlichen und menschlichen Abgründe eines nahen, von der Klimakatastrophe gezeichneten Deutschlands hinabgelassen wird. Erst dümpelt sie eine Weile auf der Oberfläche bürgerlicher Existenz und halbwegs heiler Gesellschaft, dann wird sie von Wellen des Aktivismus gegen die Felsen eines gewalttätigen Staates geworfen, bis der Strudel der Ereignisse sie schließlich in die dunklen Tiefen von Gewalt und Terror zieht.

Die Hauptfigur des Romans, Johanna Stromann, tut eine Weile (die spannende Frage ist: wie lange eigentlich?) genau das, was auch die Autorin tut. Sie sucht nach dem Thema für ihren neuen Roman, recherchiert in der klimaaktivistischen Szene und beginnt ein Buch mit dem Titel Parts Per Million. Offensichtlich ist Stromann Hannigs Strohmann, oder vornehmer ausgedrückt, ihr Alter Ego. Nun finde ich Filme über Filmschaffenden, Songs über Musiker oder Bücher über Autorinnen eigentlich eher uninteressant, weil ich den Verdacht hege, dass die Nabelschau immer dann zum Thema wird, wenn einem zum Rest der Welt nichts mehr einfällt. Doch ist das in diesem Roman ganz anders, weil die zunächst um sich selbst und ihre bürgerlichen Verhältnisse kreisende Johanna schon bald aus ihrer Welt ausbricht und sich der Realität der Klimakatastrophe und ihrer Folgen stellt.

Diese Persönlichkeitsentwicklung verläuft ruckhaft und mit unglaubwürdig schnellen Wandlungen, die durch Sätze wie »Nachts liege ich in meinem Zelt und kann nicht schlafen. Marcus’ Worte haben eine Saite in meinem Inneren zum Klingen gebracht, von der ich nicht wusste, dass sie noch da war.« nicht plausibel werden. Ein Mangel, den die Autorin erkennt, wenn sie ihr Alter Ego einen Satz später sagen lässt: »Obwohl ich mein Leben damit verbracht habe, meine Gefühle in Worte zu fassen, fehlen sie mir jetzt.« (S. 78) Andererseits gelingt es Hannig, wie schon im Vorgängerbuch Pantopia, offensichtlich auf Grundlage eigener Erfahrungen und Beobachtungen, die Arbeits- und Lebenswirklichkeit eines bestimmten Milieus mit hohem Wiedererkennungswert zu schildern. Das erdet das Buch und lässt die fantastischen und spekulativen Elemente umso realistischer erscheinen. Und dazu zähle ich dann auch die verkürzte, der Dramaturgie des Romans geschuldete Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur, einschließlich ihres persönlichen Reichsparteitagsmoments und der sexuellen Macht- und Gewaltfantasien, die über sie kommen. Die Zeichnung der anderen Protagonisten gelingt glaubhafter, weil diese eben nicht derart starken Wandlungen unterworfen sind.

Ein Nachwort klärt die eingangs erwähnte Frage, wann sich die Wege von Autorin und Hauptfigur wohl getrennt haben würden. Der Roman selbst lässt diese Frage nicht nur offen, sondern gibt sie am genialen Ende auch noch an die Leserschaft weiter. Es ist verständlich, wenn Hannig diese Frage an uns alle für sich selbst im Nachwort beantworten will, wohl auch um sich abzusichern. Andererseits hätte es m. E. genügt,  den reißerischen Untertitel »Gewalt ist eine Option« gegen »Eine Warnung« auszutauschen, um die Intention der Autorin offenzulegen und die Lesenden von vornherein mit der fruchtbaren Frage in das Buch zu schicken, wer da wohl wovor gewarnt wird.

Ich empfehle das Buch unbedingt zur Lektüre, weil es zeigt, welchen Gesellschaftswandel der Klimawandel in Deutschland schon bald auslösen könnte, wenn wir einzeln und gemeinsam das m. E. wichtigste Problem unserer Zeit nicht aus der Verliererecke wieder nach vorn ins Rampenlicht holen. Aufgeben ist keine Option!


Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

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#12 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 25 November 2024 - 15:57

Diese Persönlichkeitsentwicklung verläuft ruckhaft und mit unglaubwürdig schnellen Wandlungen

 

Danke, Kai, dieser Satz fasst sehr schön zusammen, warum ich hier nichts mehr gepostet habe. Du hast das sehr gut erklärt und im Nachgang dann trotzdem noch eine Lese-Empfehlung ausgesprochen.

 

Ich bin unschlüssig, weil ich das Thema sehr wichtig finde (ich lese gerade zum dritten Mal the deluge und habe den Autor auch in meinen Podcast eingeladen), aber eben in diesem Roman einiges vermisse. Vielleicht ist es aber auch einfach richtig, es so zu formulieren, wie du es machst und zu sagen: Ja, okay, ich mache hier und da zwar Abstriche, aber lest den Roman einfach trotzdem.

 

(Wobei, seufz, es gibt so viele bessere, nur sind viele eben noch nicht übersetzt ...)


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#13 Kai Brassel

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Geschrieben 25 November 2024 - 16:20

Meine Leseempfehlung kommt vor allem daher, dass mich das Buch, trotz anfänglicher Skepsis, insgesamt überzeugt hat und, in doppeltem Sinn, mitgenommen hat. Das mag auch daran liegen, dass mir die Stimmigkeit und Aussagekraft der erzählten Geschichte meist wichtiger ist als die Stimmigkeit des Innenlebens der Figuren. Die kann von mir aus ruhig mal der Geschichte geopfert werden, solange es nicht ins Abstruse abgleitet. Das registriere ich dann (wie es witzigerweise ja auch Hannig explizit im Buch tut, s. o.) und lese dann weiter.


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#14 Kai Brassel

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Geschrieben 25 November 2024 - 16:32

The Deluge klingt interessant, hat aber laut Amazon auch fast 900 Seiten. Vielleicht werden im Englischen einfach eher dickere Bücher geschrieben und gelesen, die dann auch den Figuren mehr Platz einräumen können?


Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

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#15 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 25 November 2024 - 16:35

Sind aber auch viele Figuren bei the deluge

Ein andermal gern mehr dazu!



Und ja, mir sind Figuren definitiv wichtig, das hatten wir ja schon an anderer Stelle ... ;-)

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#16 Jol Rosenberg

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Geschrieben 25 November 2024 - 16:46

Für mich sind die Figuren zentral. Darum hatte ich schon bei "Pantopia" Schwierigkeiten. Ich glaube, Theresa setzt einfach einen anderen Schwerpunkt und das passt dann nicht zu meinen Lesevorlieben.


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#17 Christian Hornstein

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Geschrieben 26 November 2024 - 19:31

Diese Persönlichkeitsentwicklung verläuft ruckhaft und mit unglaubwürdig schnellen Wandlungen ...

 

Dito. Ich finde es schade, weil das Thema gut angepackt wurde und der szenische und kontextuelle Realismus vollständig glaubwürdige, starke Figuren verdient hätte.
 



#18 A-reum

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Geschrieben 26 November 2024 - 19:46

„Theresa wählte eine Klima-Dystopie, weil in den Monaten nach der Veröffentlichung ihres Romans Pantopia ihre Hoffnung enttäuscht worden war, ihre Utopie möge zu einer besseren Welt beitragen.“

Literatur bewirkt nur in seltenen Fällen etwas. Hat sie wirklich gedacht, dass ihr Roman Einfluss hat?

#19 Rezensionsnerdista

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Geschrieben 27 November 2024 - 05:07

Sie packt ja noch soziales und politisches Engagement obendrauf, geht in Schulen und so


Insofern kann ich das verstehen.

Und es ist ja nicht so, dass Bücher nicht auch was bewirken können? Natürlich brauchen wir dazu einen längeren Atem.
Bei Pantopia verstehe ich diese Hoffnung auch nicht so Recht ...

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#20 Christian Hornstein

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Geschrieben 27 November 2024 - 06:32

„Theresa wählte eine Klima-Dystopie, weil in den Monaten nach der Veröffentlichung ihres Romans Pantopia ihre Hoffnung enttäuscht worden war, ihre Utopie möge zu einer besseren Welt beitragen.“

Literatur bewirkt nur in seltenen Fällen etwas. Hat sie wirklich gedacht, dass ihr Roman Einfluss hat?

 
Sie hat es jedenfalls gesagt, z.B. bei Jens Lubbadeh (https://www.youtube....h?v=cjRXe7rlhU0). Ich finde diese Hoffnung nicht ungewöhnlich und glaube, dass viele Autori so empfinden. Klar ist es ziemlich ambitioniert, einen wesentlichen Einfluss eines einzelnen Romans auf eine Gesellschaft zu erwarten, zudem so rasch, aber man darf ja noch träumen. -_-

 

Ich denke eher, dass es um die kritische Masse geht. Wenn viele Autori bestimmte Gedanken in die Welt tragen und viele Menschen in Resonanz damit kommen können, weil diese Worte etwas ansprechen, das die Menschen schon lange spüren, sie aber so nicht formulieren konnten, dann kann das wirklich etwas verändern. Aus meiner Sicht geht es bei Literatur und der Kunst überhaupt oft genau darum: Etwas auszudrücken und deutlicher spürbar zu machen, was andere so noch nicht ausdrücken konnten.



#21 Jol Rosenberg

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Geschrieben 27 November 2024 - 21:06

  Aus meiner Sicht geht es bei Literatur und der Kunst überhaupt oft genau darum: Etwas auszudrücken und deutlicher spürbar zu machen, was andere so noch nicht ausdrücken konnten.

 

Das sehe ich auch so.


Ernsthafte Textarbeit gefällig? https://www.federteufel.de/

 

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