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40 Jahre "Neuromancer" von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF


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4 Antworten in diesem Thema

#1 head_in_the_clouds

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    Yoginaut

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Geschrieben 17 Oktober 2024 - 13:53

1984 erschein der Roman "Neuromancer" von William Gibson, der eine ganz neue Bewegung in der SF etablierte: Den Cyberpunk.

 

Den Begriff Cyberpunk selber verwendete allerdings der Autor Bruce Bethke in seiner gleichnamigen Story schon 1983 – während Gibson mit der Collection „Burning Chrome“ wierderum ein Jahr zuvor (1982) mit der Titelstory (die er zu Neuromancer weiterentwickelte) die chararkteristischen Merkmale des dann noch nicht so bezeichneten Genres gesetzt hat.

 

Merkmale des Cyberpunk

 

* "Cyber" wie Cybernetics: eine Zukunft, in der sich industrielle und politische Blöcke anstatt national sich global oder in wahlweise Weltraumhabitaten konzentrieren (oft mit einem entgrenzten Kapitalismus einhergehend) und durch quasi- intelligente Informationsnetzwerke gesteuert werden. Deren Netzwerkknoten würden heute als weiterentwickelte AI's bezeichnet , die sich untereinander sowohl in virtuellen aber auch sehr realen Auseinandersetzungen befinden.

 

* Der Punk“-Teil des Wortes stammt aus der Rock'n'Roll-Terminologie der 1970er Jahre. „Punk“ bedeutet in diesem Zusammenhang jung, straßenerfahren, aggressiv, entfremdet und gegenüber dem Establishment anstößig. Eine oft vielschichtige Desillusionierung (plakativ als „No future“ bezeichnet) wobei fortschreitend Schichten der Illusion abgetragen werden – ist ein Hauptbestandteil des Punks als Musik- oder literarische Bewegung.

 

* maschinelle Erweiterungen durch Biotechnik des menschlichen Körpers oder halluzinogene Drogen was den Geist anbelangt - letztere verhilft dann auch schon mal durch Emergenz in eine virtuelle Welt des Cyberspace einzutauchen.

* Das Konzept der virtuellen Realität (Cyberspace),  wo die Datennetzwerke der Welt eine Art Maschinenumgebung bilden, in die ein Mensch eintreten kann, indem er sich in ein Cyberspace-Deck (Interface) einklinkt und „sein körperloses Bewusstsein in die kollektive Halluzination projiziert, die die Matrix darstellt“ (Gibson) . Hier wird  das Individuum in eine quasi elektronisch unterstützte Transzendenz  gehoben, die eine emergente, komplett geschlossene Welt darstellt - solange der "Cybernaut" mit dem Interface verbunden ist.

 

Neuromancer - Einflüsse

 

Gibson selbst sagt, dass die drei Haupteinflüsse auf Neuromancer eine Anthologie von Geschichten der Beat-Generation der 1950er und 60er waren (Gibson war Mitte dreissig als er den Roman schrieb und wuchs als Teenager damit auf), Alfred Bester’s scharfsinnige SF (im Nachhinein betrachtet, schuf Bester eine Art „Proto“ – Cyberpunk) sowie das Album der Sängerin Nico, das von Andy Warhol produziert wurde.  Es war Warhol, der 1963 sagte: „Ich möchte eine Maschine sein“, und sich dabei allerdings speziell auf die anonyme, maschinenartige Qualität des Siebdruckverfahrens bezog, auf die Tatsache, dass jeder die Siebdrucke oder im Siebdruckverfahren hergestellten Bilder, die er sich ausdachte, physisch herstellen konnte.

Alle drei brachten sozusagen den Punk in die Cyberwelt.

 

Der Roman Neuromancer als postmoderne SF trägt im Kern die Essenz unseres eigenen Ichs auf der unaufhörlichen Suche nach dem Erhabenen und Transzendenten-  das allerdings oft genug  im dystopischen der "No future" Empfindung landete. Es ist  der alte Impuls der Romantik (nicht umsonst betiltete Gibson seinen Roman entsprechend) , der in unserer modernen Zeit am besten durch den konzeptionellen Durchbruch der Cyberpunk-Bewegung abgebildet wurde.

 

Der Cyberpunk ab den 1980er war aber auch die letzte grosse Bewegung in der SF.

 

Filmisch nicht unerwähnt bleiben sollte Ridley Scotts Blade Runner (1982) , der eine ganze Tradition von Kultfilmen begründete, die später unter dem Etikett „Cyberpunk“ zusammengefasst wurden. Die visuelle Kinoästhetik des Cyberpunks definierte er geradezu. Die Grundlage des Films war Philip K. Dicks berühmter Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? - auch wenn Scott daraus eine eigene , umfassendere künstlerische Interpretation schuf.

 

Veilleicht macht es mit dem Hintergrund nochmal Spass, den Roman zu lesen .
 

William Gibson

Burning Chrome (1982) [SF] also appeared as:

 

Neuromancer (1984) also appeared as:

 

Bruce Bethke

 

Cyberpunk (1983) in: Amazing Science Fiction, November 1983

 

 

 

Weitere Autoren des Cyberpunk:

 

Bruce Sterling ,Rudy Rucker, Lewis Shiner , John Shirley, Greg Bear , Michael Swanwick

 

 

 

 

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Bearbeitet von head_in_the_clouds, 17 Oktober 2024 - 14:20.

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#2 J. A. Hagen

J. A. Hagen

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Geschrieben 17 Oktober 2024 - 15:07

Ja, die ersten siebzig Seiten von Neuromancer knallen rein. Die habe ich wie im Rausch gelesen. Ich halte die erste Hälfte des Buches jedoch für deutlich besser als die zweite.


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#3 Christian Hornstein

Christian Hornstein

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Geschrieben 19 Oktober 2024 - 13:58

Wichtig wäre vielleicht noch zu erwähnen, dass das Manifest des Cyberpunk sich explizit von einer anthropozentrischen Sicht der Zukunft lösen wollte, in die wir unreflektiert unsere heutigen Werte projizieren. Traditionelle SF-Literatur wurde von den Protagonisten des Cyberpunk heftig und polemisch für diese Voreingenommenheit kritisiert. Ich halte diesen Aspekt deshalb für so wichtig, weil diese Kritik sehr treffend und von zentraler Bedeutung für ein Genre wie die SF ist, bis heute.


Bearbeitet von Christian Hornstein, 19 Oktober 2024 - 13:59.


#4 head_in_the_clouds

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    Yoginaut

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Geschrieben 19 Oktober 2024 - 14:22

Das ist der notwendige Anspruch von neuen Bewegungen und ihrer Protagonist*innen- Stürzt das Alte !

 

Die "Gegenreformatorische" Reaktion folgte ja auf dem Fuss. Auch wenn sie sich moderne SpaceOpera nennt. Der Cyberpunk selber hat aber Spuren bis heute hinterlassen. Auch wenn die Merkmale in den inflationären Subsubgenres der SF nur als Versatzstücke aufgehen. Das Establishement hat gesiegt! ;-)


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#5 Christian Hornstein

Christian Hornstein

    Giganaut

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Geschrieben 19 Oktober 2024 - 17:04

Der Anspruch der Cyberpunk-Bewegung war spezifischer und grundlegend anders als bei Hugo Gernsback, Michael Moorcok und der New Wave. Da ging es nicht nur darum, die Alten zu stürzen. Bei den anderen ging es auch nicht nur darum. ;)

 

Ich würde nicht sagen, dass das Establishment gesiegt hat. Ganz aktuell haben wir ja Autori wie Aiki Mira, die eine Variante der Entanthropomorphisierung und -zentrierung anstreben und Beziehung in den Vordergrund stellen wollen statt Akteure, was, konsequent zu Ende gedacht, drastische Auswirkungen haben kann, auch hinterfragenswerte.




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