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All An! - Kai-Holger Brassel


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15 Antworten in diesem Thema

#1 rostig

rostig

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Geschrieben 14 November 2024 - 15:02

All An!: Die ganze Trilogie von der Überwindung der Klimakrise bis zum etwas anderen Erstkontakt
Kai-Holger Brassel

Herausgeber: Independently published (3. Oktober 2024)
Sprache:  Deutsch
Taschenbuch:  494 Seiten
ISBN-13: 979-8339333371

Klappentext
Im Jahr 2084 ist der Kampf gegen den Klimawandel und seine katastrophalen Folgen so gut wie verloren. Nur wenige Eingeweihte wissen von der Gefahr, die der Erde noch aus einer ganz anderen Richtung droht. Wenn aber ein kluger Slumbewohner, eine temperamentvolle Umweltschützerin und ein visionärer Systemwissenschaftler zusammenkommen, kann zweimal Minus tatsächlich ein großes Plus ergeben. Mit strategischem Geschick, viel Rechenzeit und der Hilfe eines kleinen Mädchens namens Celeste beginnt der große Umschwung. Aber auch Celeste muss erwachsen werden, und keine Utopie ist perfekt. Die Spannungen zwischen den Generationen wachsen und »Innere« stellen sich gegen »Äußere«. Sind die Maschinellen, die nicht mehr länger nur im Hintergrund wirken, Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Celeste und ihre Verbündeten jedenfalls setzen alles daran, den hohlen Versprechungen eines vergangenen Fortschritts neue, verheißungsvolle Horizonte entgegenzusetzen.
Ein politischer und inspirierender Zukunftsroman für alle, die gerne größer (und langsamer) denken.

Einleitende Worte
Das mir von Kai-Holger zur Verfügung gestellte Buch hat knapp 100 Seiten mehr als die obige Amazon-Info. Der Autor hatte mehrfach
einen Lesekreis angeregt, aber offenbar hatte nur ich Interesse gezeigt. Das finde ich für ein Forum in dem SF-Literatur eine zentrale
Rolle spielt bedauerlich.

Rezension
Der Prolog führt auf ansprechende Weise altmodisch geschrieben in die Thematik ein und erklärt zugleich den seltsamen Titel.

Erstes Buch 2084 - 2117
In den ersten Kapiteln werden die wesentlichen Protas Alvaro, Helen und Paul eingeführt. Den meisten Raum nimmt allerdings eine geheime UN-Kommission zur Gefahrenabwehr und deren Diskussionen angesichts einer drohenden Asteroidenkollision ein. Dabei werden durchaus interessante Fragen aufgeworfen (z.B. Wenn die durch eine unbelehrbare Menschheit fortschreitende Klimakatastrophe droht, die Erde in eine lebensfeindliche Venus zu verwandeln, wäre dann ein Meteoriteneinschlag diesem Szenario nicht vorzuziehen? Dann würde das Leben und Reste der Menschheit mit Sicherheit überdauern. Also warum den Meteoriten bekämpfen?) aber leider auch sehr, sehr viel Infodump angehäuft.
Im Folgenden gewinnen die Protas nur langsam an Kontur. Eine Vielzahl von zu detailiert ausgearbeiteten Nebenschauplätzen und ständige Informationsfetzen (zugegeben sorgfältig recherchiert und stimmig extrapoliert, aber nicht in die Handlung eingebunden - show, don't tell!) verhindern ein emphatisches "Andocken" an die handelnden Personen.
Die Beseitigung der außerirdischen Bedrohung stärkt die UN-Sonderkommission, die sich danach der Bekämpfung des Klimawandels als weltgemeinschaftliche Aufgabe zuwendet. Brassel analysiert m.E. korrekt den Machtverlust von Staaten und Regierungen und schließt daraus auf das Erstarken einer Weltgemeinschaft die man als Vorstufe zu "Startrek" lesen könnte. Wie Roddenberry unterschätzt er abermm.E. den Machtgewinn multinationaler Konzerne, die weder in Startrek noch in diesem Buch eine signifikante Rolle spielen. In dieser Hinsicht erscheint der Roman noch sehr den 60igern verhaftet. Auch die Annahme, dass es drei Super-KIs gibt, die sich von den Machtblöcken lösen, erinnert sehr an "Kollossus" aus 1970.
Brassel skizziert dann den Weg zu einer Weltgemeinschaft der Vernünftigen unter Ausgrenzung radikaler, religiöser oder
umweltschädlicher Organisationen. Ob dieser Weg inkl. Zwangsumsiedlungen friedlich machbar wäre, erscheint mir fraglich. Ein Werkzeug um die Zustimmung breiter Teile der Menschheit zu erzielen ist ein VR-Spiel, dass aufzeigt wie ein "Paradies auf Erden" realisiert werden kann. Hauptfigur ist das Mädchen Celeste, das im zweiten Buch die Hauptrolle spielen wird.
Erstes Fazit: Der Versuch einer positiven(?) Dystopie erinnert mich an Pantopia wobei Brassel mehr Wert auf soziologische und politische Prozesse als die Charakterisierung seiner Protagonisten legt und den drohenden Asteroideneinschlag "braucht" um eine
Klimawende einzuleiten.

Zweites Buch 2121 - 2167
Die Menschheit hat sich in drei Machtblöcke gespalten. Ca 5 Milliarden sind "Äußere", die ehemaligen Vernünftigen, der Rest sind
"Innere" = abgeschottete reaktionäre Gemeinschaften und "Natürliche" die sich dem Schutz der Naturreservate verschrieben haben.
Celeste beklagt das Fehlen jeglichen Fortschritt in Forschung und Kunst bei den Äußeren, denn diese quasi-taoistische Gesellschaft
strebt nach Stasis und Erhalt. Z.B. werden die Nobelpreise nur noch alle 10 Jahre verliehen und die theoretische Physik als
ergebnislos aufgegeben. Dem gegenüber steht eine letztendlich scheiternde Mission zur Marsbesiedlung (d.h. viele Raketenstarts mit
sehr viel CO2) und der Bau eines Weltraumteleskops auf der Mondrückseite und im Lagrangepunkt 2 wie das heutige James-Webb-
Weltraumteleskop (wieder viele Raketen). Die meisten Menschen leben und arbeiten in VR-Räumen und -Reisen. Rechenzeit ist eine knappe Ressource. Rund 1/6 der Weltwirtschaft produziert Computerchips. Meine Meinung: Selbst wenn alle Rechenzentren mit grünem Strom betrieben werden, erscheint mir die gigantische Abwärme nicht klimazuträglich. Hier gibt es zuviele Konflikte mit dem über allem stehenden Klimaziel.
Aus den drei KIs entwicklen sich drei GIs (gewachsene Intelligenzen) die mehr und mehr die Menschheit kontrollieren und eigene Ziele
(Expansion zu fremden Planeten) verfolgen. Sie veranlassen den Beginn des Asteroidenbergbaus. Die Jugend wendet sich enttäuscht von einer stagnierenden Gesellschaft ab. Die Macht geht zunehmend auf die Gilden über, am stärksten auf die Transportgilde.

Drittes Buch:  ab 2168 und Epiloge 500 Jahre in der Zukunft
Hier entwickelt sich ein klassischer SF-Roman: die GIs haben auf einem Asteroiden die erste selbstständige Intelligenz implantiert und
Alpha entzieht sich schnell jeglicher Kontrolle. Das ruft Gegenreaktionen bei der Transportgilde hervor, die Unterstützing bei den
Inneren sucht, um ein unabhängiges Raumfahrtprogramm ohne GI-Kontrolle aufzubauen. Den Menschen, die nach Forschung und Entdeckung streben, wird erfolgreich eine Erkundung von Exoplaneten in hochentwickelten virtuellen Welten unter dem Titel "All An!" angeboten, während die künstlichen Intellligenzen weiter an ihrem Konzept des langsamen Denkens arbeiten, um in den kommenden Jahrtausenden ins All vorzustoßen. Diese Idee einer resourcenschonenden, quasi unsterblichen künstlichen Lebensform finde ich durchaus attraktiv, während mich das Schicksal der Menschheit in immer komfortableren VR-Welten unter KI-Kontrolle eher an Matrix gemahnt.

Fazit
Brassel analysiert treffend die aktuelle Weltlage hinsichtlich sozialer, psychologischer, wissenschaftlicher Aspekte der Klimakatastrophe und kommt zu dem durchaus realistischen Schluß, daß wir es ohne externe Bedrohung wharscheinlich gründlich vermasslen werden. Das erste Buch ist weniger ein Roman als eine Faktensammlung und Optionsanalyse. Das liest sich mitunter recht sperrig, insb. da viele Fakten einem geneigten SF-kundigen Leser bekannt sein sollten.

Das zweite Buch versucht eine mögliche Weiterentwicklung aufzuzeigen, verwickelt sich aber m.M. in etliche Widersprüche.

Das dritte Buch liest sich wie ein konventioneller SF-Roman um künstliche Intelligenz und deren Ziele abseits der Menschheit. Das ist in sich stimmig wenn auch nicht sehr optimistisch stimmend.

Mein Ratschlag wäre, auf etliche Nebenhandlungen zu verzichten und zu straffen = kürzen (Nebenbemerkung:das trifft m.M. auch auf alle Schätzing-Romane zu) vielleicht ist das ja in der kürzeren o.g. Ausgabe bereits geschehen.



#2 Kai Brassel

Kai Brassel

    Ufonaut

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Geschrieben 14 November 2024 - 22:24

Lieber Rostig, ganz vielen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, das Buch zu lesen, mitzudenken und mir wertvolle Rückmeldung zu geben. Was Lesekreise angeht, so ist gerade einer bei LovelyBooks mit 24 Teilnehmer*innen gestartet, sodass ich bald auch von dort weitere Rückmeldungen bekomme. Ich bin super gespannt, in welche Richtung das gehen wird.

Deine Kritik von Stil, Inhalt und Details kann ich mit wenigen Ausnahmen nachvollziehen. Den einen oder anderen Punkt würde ich gerne noch genauer verstehen, aber das sollten wir wahrscheinlich zu zweit besprechen.

Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich hier nur darauf hinweisen, dass die von dir oben angegebene Ausgabe mit 494 Seiten textgleich ist zu der Softcover-Ausgabe mit 600 Seiten, die du gelesen hast. Erstere ist die nur bei Amazon erscheinende Taschenbuch-Ausgabe (12x19 cm), während das augenfreundlichere Softcover (13,5x20,5 cm) überall erhältlich ist. (Ich kämpfe gerade mit Amazon darum, die Ausgaben auf einer einzigen Buchdetailseite unterzubringen, aber das ist ein anderes Thema.)


Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

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#3 Rezensionsnerdista

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    Yvonne

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Geschrieben 15 November 2024 - 06:34

Cool, viel Erfolg bei lovelybooks!

Rostig, ich mache gerade eine längere Pause von Büchern, die ich früher meistens nur wegen des DSFP gelesen habe. Und lese total andere Sachen.

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#4 rostig

rostig

    Temponaut

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Geschrieben 15 November 2024 - 09:22

Hallo Yvonne,

manchmal ist es ganz gut, auch weniger freiwillig zu lesen. Neben einiger literarischen Schwächen hat das Buch zwei wichtige Aspekte thematisiert:

1) Ohne externen Anstoß werden wir die Klimakatstrophe nicht in den Griff kriegen (jedes Jahr steigt der CO2-Ausstoß, Amerika wählt Trump wir wahrscheinlich Fritze Merz, der in einer Talkshow jüngst sagte "Die Windräder müssen weg, weil sie häßlich sind,")

2) Die ferne Zukunft könnte in autonomen KIs liegen, die auf Asteroiden basiert aus den vorhandenen Rohstoffen redundante Systeme aufbauen und extrem widerstandsfähige Prozessoren nutzen, die dem aktuellen Trend - Miniaturisierung und Rechenleistung - völlig widersprechen: langsam denken reicht im Weltall vollkommen aus, wenn man quasi unsterblich ist. Dieses Thema arbeitet Brassel im dritten Buch sehr schön aus, so daß ich diesen Teil fast für DSFP-würdig halte.



#5 Rezensionsnerdista

Rezensionsnerdista

    Yvonne

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Geschrieben 15 November 2024 - 12:15

Ich habe gerade einen Batzen Climate Fiction Bücher für einen Essay in der !Time Machine gelesen und würde mich wirklich schwer wundern, wenn in dem Roman von Kai noch was steht, was dort so überhaupt kein Thema war.
Aber ja, ich halte es auch für ein wichtiges Thema und gut, dass er das thematisiert hat!

However, ich kann eh nicht alles lesen, vieles bleibt dann eben links liegen, das kann ich ja sicherlich ändern

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#6 Jol Rosenberg

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Geschrieben 15 November 2024 - 15:34

Könnte der dritte Teil für sich stehen?

 

Ich gebe zu: Obwohl mich das Buch thematisch interessiert, spricht der Schreibstil mich gar nicht an.


Ernsthafte Textarbeit gefällig? https://www.federteufel.de/

 

Science-Fiction-Buchblog: https://www.jol-rose.../de/rezensionen

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#7 Kai Brassel

Kai Brassel

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Geschrieben 15 November 2024 - 20:14

Hi Jol,

 

danke für die Anregung. Über einen möglicherweise alleinstehenden dritten Teil hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Die drei Teile waren von vornherein als Teile eines Buch geplant. Technisch gesehen, funktioniert der erste Teil für sich auch allein. Teil drei hängt an dem in Teil zwei eingeführten Personal und Teil zwei braucht die in Teil eins entstandene Welt als Ausgangspunkt. Sollte Teil drei (oder zwei plus drei) allein stehen, müssten sie eine entsprechende Vorgeschichte verpasst bekommen. Da bin ich skeptisch, zumal die (zugegebenermaßen noch wenigen) Reaktionen bisher auch sehr unterschiedlich ausfallen. So fanden einige nicht hauptsächlich SF Lesende die Ideen des ersten Teils sehr spannend, konnten aber mit der Entwicklung der KIs über mehrere Generationen hinweg nicht viel anfangen (zu weit weg). Ich sammle erst mal noch mehr Reaktionen.

 

Beim Schreibstil scheiden sich tatsächlich die Geister, was ja auch völlig okay ist. In meiner Alterskohorte waren bisher alle zufrieden, wogegen beispielsweise meiner älteren Tochter (22) das Buch gut gefallen hat, sie es aber aufgrund des altmodischen Stils ihren studierenden Altersgenossen eher nicht empfehlen würde. (Ich solle doch mehr so schreiben, wie Kling in den Kängeruh-Chroniken, aber das wird wohl nichts). Außerdem wollte ich tatsächlich, wie Rostig richtig bemerkt hat, an den 60ern / 70ern andocken, aber eben mit heutigen Themen. Das teilweise Fragmentarische ist z. B. stark von John Brunners Morgenwelt inspiriert.


Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

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#8 Kai Brassel

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Geschrieben 15 November 2024 - 20:25

... Merz, der in einer Talkshow jüngst sagte "Die Windräder müssen weg, weil sie häßlich sind,

 

Mit solchen Aussagen (wie auch sein Gebrabbel von kleinen Atomkraftwerken, die es ja demnächst billig geben soll) disqualifiziert er sich nur als Gesprächspartner für die Leute, die rechnen können und über die Investitionen entscheiden, z. B. Energieunternehmen, Rückversicherungen und Pensionsfonds. Wenn er die Windräder abschaffen will, kann er die Marktwirtschaft gleich mitabschaffen. Die Erneuerbaren werden kommen – es ist nur die Frage, wie schnell. Und da kann die Politik schon in die eine oder andere Richtung steuern.


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#9 Jol Rosenberg

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Geschrieben 15 November 2024 - 21:37

Ja, Schreibstil ist einfach Geschmackssache und man wird nie alle einfangen.


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#10 Kai Brassel

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Geschrieben 19 November 2024 - 19:46

Wie ich in diesem Forum an anderer Stelle gelernt habe, ist es nicht produktiv, einen Text als solchen »verteidigen« zu wollen, weil er ja nicht für sich steht, sondern als Kommunikationsakt im Lesenden immer wieder neu entsteht. Und über die dort herrschenden Leseerwartungen, Lesehaltungen, Geschmack u.a.m. lässt sich schwerlich diskutieren. So hat Yvonne an anderer Stelle geschrieben, meine ich mich zu erinnern, dass sie gerne am Anfang eines Buches durch eine gute Idee oder einen interessanten Charakter »gehookt« wird. Das würde ihr mit All An! wohl nicht passieren, denn gerade der erste Teil erfordert etwas Geduld, was auch Rostigs Leseeindruck (»Im Folgenden gewinnen die Protas nur langsam an Kontur.«) und erste Rückmeldungen aus dem LovelyBooks-Lesekreis bestätigen. Insofern wäre das Buch für Yvonne wahrscheinlich kein Lesevergnügen.

 

Ich habe gerade einen Batzen Climate Fiction Bücher für einen Essay in der !Time Machine gelesen und würde mich wirklich schwer wundern, wenn in dem Roman von Kai noch was steht, was dort so überhaupt kein Thema war.
Aber ja, ich halte es auch für ein wichtiges Thema und gut, dass er das thematisiert hat!

 

Ohne also das Buch in obigem Sinne verteidigen zu wollen, würde ich dazu gerne nachfragen. Dabei ist wichtig, dass nur der erste Teil von All An! als Climate Fiction zu verstehen ist. (Die anderen drehen sich um Themen wie das Wesen von Fortschritt und Utopie, die Frage nach der »wirklichen« Realität, die allmähliche Entwicklung starker KIs und eine neue Antwort auf die Frage »Where is everybody?«). Was also den ersten Teil angeht, finde ich mindestens folgende Ideen innovativ:

  1. Die Ablösung von Staaten eben nicht durch multinationale Konzerne, wie in jeder zweiten Dystopie zu lesen, und auch nicht durch dörfliche, solar-punkige Gemeinschaften, wie in jeder zweiten Utopie zu lesen, sondern auf mittlerer Skala durch 3000 eigenständige Regionen mit jeweils mehreren Millionen Einwohner:innen plus einer Art rätebasierte, KI unterstützte Zentralinstanz. (@Rostig: Es kann gut sein, dass, wie du vermutest, die Multis dabei eine größere Rolle spielen könnten, aber das Buch ist ja keine Prognose, sondern eine Utopie)
  2. Systemtheoretisches Denken als Schlüssel zu einer Veränderung im Großen, die nicht als Evolution oder Revolution, sondern als Metamorphose funktioniert. Wenn es dabei um das Mikro-Makro-Problem, Autopoiese oder die von mir erfundenen »Systemkarten« geht, wird das nicht jeder/jede nachvollziehen, aber das tue ich bei der Schilderung von Problemen mit dem Warp-Antrieb ja auch nicht. 
  3. Die Perspektive einer großen Rechnung zwischen Menschheit und Natur, die der Mensch tatsächlich noch ausgleichen kann.
  4. Es wird nicht der Kampf gegen die Klimakrise in einer sehr nahen Zukunft thematisiert und auch nicht die Post-Apokalypse, in der es ums Überleben geht, sondern wir starten 2084 in einer Zeit, in der lokale Klimakatastrophen Normalität sind, es dann aber immer noch darum gehen wird, die ultimative Katastrophe (Venusierung) zu verhindern.

Das sind Ideen, die die ich so bisher noch nicht gelesen habe. Wenn du mir jetzt sagst, das hast du alles schon mal gelesen, dann Asche auf mein Haupt. Übrigens hätte mir die Arbeit mit dem Buch nicht gemacht, wenn ich nicht gedacht hätte, aufgrund meiner vierzig-jährigen beruflichen Erfahrungen mit solchen Themen, auch ein paar neue Ideen beisteuern zu können. Ob die bei den Lesery ankommen, ist dann noch mal eine ganz andere Frage. Der erste Teil ist schon etwas experimentell.


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#11 Rezensionsnerdista

Rezensionsnerdista

    Yvonne

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Geschrieben 20 November 2024 - 09:21

Hi Kai!
 
Also die Ideen 1, 3 und 4 kenne ich durchaus schon, Idee 2 verstehe ich nicht und bin daher ratlos, ob ich das schon kenne. Bei Idee 1 gibt es zumindest Varianten des von dir entworfenen Konzepts in der mir bekannten Climate Fiction.
 
 
Allerdings ist es mir persönlich auch nicht wichtig, dass ich neue Ideen zu etwas lese. Du hast mich schon ganz richtig eingeschätzt. Für mich ist das wichtig, was auch jemand in einem Essay im letzten Phantasten geschrieben (bzw. zitiert) hat (ich zitiere hier aus meinem Essay, der 2025 erscheint):
 
 

"In der Studie The Influence of Climate Fiction von Matthew Schneider-Mayerson zeigt sich, dass lebhafte Beschreibungen über die Folgen der Erderwärmung manchen Leser*innen noch Jahre nach der Lektüre im Gedächtnis geblieben waren" (S. 26)
"Dies ist insbesondere der Fall, wenn Leser*innen sich mit den Charakteren identifizieren können oder eine persönliche Verbindung zum Schauplatz der Romane vorliegt." (S. 27)
"Die empfundene Ähnlichkeit zwischen Leser*innen und Charakteren, also Faktoren wie Geschlecht, Herkunft und politische Einstellung, spielen beim Aufbau einer persönlichen Beziehung zu den Charakteren eine entscheidende Rolle." (S. 27)

 
Insofern hättest du mich an der Angel, wenn ich mitfühlen kann, wenn ich Raum zur Identifikation bekomme. Das passiert bei mir fast immer über die Figuren, in Ausnahmefällen geht's auch mal anders. (Ein aktuelles Beispiel wäre Remember you will die, das hat keine Figuren, der Roman besteht fast nur aus Nachrufen verschiedener Personen.)
 
Andere Leute aus deiner Zielgruppe kriegst du sicherlich mit Ideen. Ich sehe hier in Rezensionen immer wieder, das ganze Personengruppen eine Story (völlig egal wie gut sie geschrieben sein mag oder wie plastisch die Figuren sind) komplett ablehnen, wenn sie die Idee schon kennen. Hingegen feiern (oft dieselben Personen) eine Story (oft auch egal, wie sie geschrieben ist oder wie die Figuren gestaltet sind), die eine ihnen unbekannte Idee liefert.
 
Ich bin allerdings Team gute Geschichte. Und leider habe ich eine sehr enge Vorstellung davon, was für mich (!) eine gute Geschichte ist. 
 
Da ich davon wirklich genügend finde (auch gestern wieder in der neuen Clarkesworld, wobei ich da neue Gedanken zum Thema Upload und eine schöne, in Details sogar neue Idee zum Thema "digitales Leben nach dem Tod" gefunden habe), bin ich auch nicht in Not und ignoriere die meisten Lese-Tipps.
 
Schöne Grüße!
 
 
PS: Und ich finde deine Art, dich hier zu äußern übrigens äußerst angenehm, daher antworte ich auch so gern und ausführlich. Ich hoffe, das ist für dich auch ein angenehmer Austausch. Und ich hoffe du hattest ein schönes Con-Wochenende bei den Klima-Fiktionen.


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#12 Kai Brassel

Kai Brassel

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Geschrieben 20 November 2024 - 15:01

PS: Und ich finde deine Art, dich hier zu äußern übrigens äußerst angenehm, daher antworte ich auch so gern und ausführlich. Ich hoffe, das ist für dich auch ein angenehmer Austausch. Und ich hoffe du hattest ein schönes Con-Wochenende bei den Klima-Fiktionen.

 

Den Austausch hier im Forum empfinde ich in der Sache hart, aber im Ton angemessen, also angenehm.

Dein erstes Zitat oben kann wohl jeder nachvollziehen, der den Anfang von Robinsons Ministerium für die Zukunft gelesen hat. Das Bild des Massensterbens im See werde ich zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Die Frage ist, ob das literarisch "reicht", war genau einer der Schwerpunkte der o.g. Con.

 

Die Klimafiktionen 2024 am Samstag waren vollgepackt mit mitreißenden Lesungen von Zerbe, Mira und Hannig sowie interessanten literaturwissenschaftlichen Vorträgen und Diskussionen, eben auch der Frage, die wie man vom anthropozentrischen Standpunkt wegkommt, der nicht unbedingt geeignet sei, die Klimakrise zu verarbeiten. Michael Wehren stellte in seinem Vortrag die These auf: "Unsere Vorstellungen des Anthropozäns und vom Klima sind anthropozentrisch und das ist ein Problem." Bei Mira konnte man dann hören, wie die post-apokalyptische Landschaft, in der sich ihre Protagonisten bewegen, durch zahlreiche Wortschöpfungen zu einem Eigenleben kommt (schon in Herr der Ringe sind 20% des Textes Naturbeschreibungen, die für die Handlung wesentlich sind) und Zerbe gab in ihrer Lesung Pflanzen eine Stimme.

 

Ähnliches habe ich mit meinem Systemtheorie-Zeugs auch versucht, was bei im LovelyBook-Lesekreis nach Lektüre des ersten Teils Reaktionen zwischen "sehr interessant, aber auch ermüdend" auslöste. Am besten jedoch hat mir folgendes Fazit gefallen:

"Die Thematik finde ich klasse. Die Beratungen und neuen Gesetze finde ich etwas langatmig und manchmal etwas viel für mich. Ich würde mir noch mehr Persönliches und mehr Spannungsaufbau wünschen. Zum Beispiel bei der Zerstörung des Asteroiden oder der Landebahn. Das hätte ich mir wiederum etwas ausführlicher gewünscht. Da habe ich die kurzen Passagen manchmal zwei mal gelesen."

Einfach die guten Stellen öfter lesen, und schon wird das Buch besser. Köstlich. Solche Lesery wünscht man sich, oder?


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#13 Kai Brassel

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Geschrieben 20 November 2024 - 15:09

Noch kurz zum Lesekreis: Von 24 Lesenden haben nur 4 einen männlichen Vornamen. Kann mir jemand sagen, woran das liegen mag? Lesen Männer fast gar nicht mehr, sprechen sie nur nicht gerne darüber, oder zieht LovelyBooks, warum auch immer, prinzipiell eher Frauen an? Hat jemand eine Idee?


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#14 Rezensionsnerdista

Rezensionsnerdista

    Yvonne

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Geschrieben 20 November 2024 - 15:47

Wäre eine gute Frage für Mammut, der macht ist Lesezirkel bei lovelybooks

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#15 Kai Brassel

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Geschrieben 21 November 2024 - 21:39

@Yvonne: Habe Mammut mal angeschrieben.

 

@Rostig, von wegen kürzen: Das wäre einen Versuch Wert, realistisch aber erst mit einigem zeitlichen Abstand, um frisch an die Geschichte zu gehen, und mit einem dann besseren Verständnis der Zielgruppe.


Bearbeitet von Kai Brassel, 21 November 2024 - 21:48.

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#16 Kai Brassel

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Geschrieben 21 November 2024 - 21:47

Hallo Rostig, du siehst im zweiten Buchteil »etliche Widersprüche« und führst aus:

 

Dem gegenüber steht eine letztendlich scheiternde Mission zur Marsbesiedlung (d.h. viele Raketenstarts mit
sehr viel CO2) und der Bau eines Weltraumteleskops auf der Mondrückseite und im Lagrangepunkt 2 wie das heutige James-Webb-
Weltraumteleskop (wieder viele Raketen). Die meisten Menschen leben und arbeiten in VR-Räumen und -Reisen. Rechenzeit ist eine knappe Ressource. Rund 1/6 der Weltwirtschaft produziert Computerchips. Meine Meinung: Selbst wenn alle Rechenzentren mit grünem Strom betrieben werden, erscheint mir die gigantische Abwärme nicht klimazuträglich. Hier gibt es zuviele Konflikte mit dem über allem stehenden Klimaziel.

 

Da es hierbei nicht um Geschmacksfragen geht, sondern um die Logik und Nachvollziehbarkeit der von mir imaginierten Welt (aka Weltenbau), würde ich gerne einmal nachhaken:

 
Mit den Zweifeln am Sechstel der Weltwirtschaft für die Chip-Produktion hast du einen Punkt, zumal man dem Abwärmeproblem in Zukunft neben dem Treibhauseffekt mehr Aufmerksamkeit wird schenken müssen. Allerdings ist zu beachten, dass nicht um 1/6 der heutigen Wirtschaftsleistung geht, sondern um 1/6 der Weltwirtschaft in über hundert Jahren. In meiner Welt sinkt die Erdbevölkerung dann schon gegen 5 Milliarden und die wirtschaftlichen Aktivitäten pro Kopf werden mit weitgehend geschlossenen Kreisläufen, Fernreise-Kontingenten ohne Flugzeuge, sehr wenig Individualverkehr, effizientere Nahrungsmittelproduktion usw. stark reduziert (Degrowth). Dennoch ist 1/6 dann vielleicht immer noch zu hoch gegriffen. Ich gebe zu, das war so eine Zahl, die einfach gut in den Text passte, aber 1/9 geht auch, und ist vielleicht realistischer. (Ich muss darauf achten, mit Zahlen vorsichtig umgehen. Fermentarius hatte mich in einem anderen Thread schon darauf hingewiesen, das der ursprüngliche 15-cm-Reflektor aus dem Prolog nicht realistisch sei. Jetzt stehen da 6 cm, was der Dramaturgie auch keinen Abbruch tut.)
 
Zu den Raketenstarts: Die Marskolonie wird vor allem wegen dem Mangel an industriellen Ressourcen aufgegeben. Dieser Erzählstrang sollte der These der »quasi-taoistische Gesellschaft« (wunderbare Beobachtung deinerseits) also nicht »entgegenstehen«, wie du schreibst, sondern beschreibt m.E. gerade genau die Entwicklung in diese Richtung.
Bleiben noch die Raketenstarts für die Weltraumteleskope, die ja auch immer weiter ausgebaut werden. (Weltraumtourismus gibt es in der Utopie allerdings ebensowenig wie die militärische Missionen.) Momentan liegen wir bei knapp 300 Raketenstarts im Jahr. Lass uns in meiner Welt großzügig von 500 Starts im Jahr ausgehen (Erdsatelliten, Orbital-Hub, Fernerkundung). Soweit ich weiß, gibt es von Raketenstarts/Weltraumunternehmungen noch keine umfassenden Lebenszyklusanalysen (LCA) in Bezug auf Klimafolgen. Also überschlage ich mal: Momentan erzeugt der Start einer größeren Rakete direkt etwa 200 bis 500 t CO2. Ruß und Wolkenbildung sowie Produktion werden ein Vielfaches erzeugen. Lass es mal 30.000 t CO2 pro Start sein. Das würde dem momentanen Ausstoß (LCA) von etwa 10.000 Autos im Jahr entsprechen. Dann würde »meine« Weltraumfahrt mit 150 Millionen tCO2 im Jahr etwa soviel CO2 erzeugen, wie momentan die PKWs in Deutschland. Global gesehen dürfte dadurch keine Gefahr für ein intaktes Klima bestehen, zumal es in meiner Welt auch nennenswerte Kapazitäten gibt, um der Atmosphäre überschüssige Treibhausgase zu entziehen.
 
Ich hoffe, das war jetzt nicht zu speziell oder abseitig. Wenn ja, Bescheid sagen, dann führen wir die Diskussion vielleicht privat weiter.

Bearbeitet von Kai Brassel, 21 November 2024 - 21:50.

Nichts ist praktischer als eine gute Theorie.

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