Dies ist das erste Buch von Gene Wolfe, das ich gelesen habe. Es hat mich gefesselt wie lange kein anderes mehr. Aufbau, Sprache, die Welt und vor allem ihre Rätselhaftigkeit ziehen mich in ihren Bann. (Das ist nicht übertrieben.) Gene Wolfe wird allseits gelobt für seinen literarischen Stil, auch von Größen des Genres wie Ursula K. Le Guin. Dem kann ich mich nur anschließen.
Der Ursprung des Buchs ist eine Novelle von 1972, die Wolfe dann um zwei weitere Novellen ergänzte. Das ergibt faktisch einen postmodernen Roman.
Der Carcosa-Verlag hat eine sehr schöne deutsche Ausgabe herausgegeben, frisch übersetzt von Hannes Riffel. (Die frühere Übersetzung von Yoma Cap finde ich auch gut, sie enthält allerdings Kürzungen.)
Ich habe dazu auch auf Goodreads eine Rezension geschrieben:
https://www.goodread...how/7728485525
Leider ist die Länge von Rezensionen auf GR begrenzt. Deshalb poste ich hier zusätzlich meine Meinung zur 2. und 3. Novelle. Dafür war auf GR kein Platz mehr.
„Der fünfte Kopf des Zerberus“ ist ein ebenso faszinierendes wie perfides Buch. Schönes und Schauriges wird stimmungsvoll erzählt. Da gibt es die verwunschene Bibliothek, den Sklavenmarkt, das labyrinthische Elternhaus des Ich-Erzählers, das gleichzeitig ein Bordell ist und vieles mehr.
Einmal steigt der Erzähler heimlich in den verbotenen Lustgarten hinauf, ein Wunderland für zahlungskräftige Männer. Passend zu Alice‘s Wunderland trifft er gleich auf Frauen, deren Kleider sie aussehen lassen wie die Damen auf Spielkarten. Auch eine schwarze Königin schwebt sogleich herbei. Das nur als Beispiel für stimmungsvolles Erzählen.
Das übergreifende Thema der Novellen ist die Gefahr, sich selbst über die Abgrenzung von „den Anderen“ zu definieren. Diese Einteilung in Kategorien ist die Quelle von Unterdrückung und Brutalität. Dabei bleibt die Trennung - wie so oft - mehr als fragwürdig. (Sehr schön ist die Stelle, an der dem Erzähler erst sein eigenes Spiegelbild fremd erscheint, während er gleich darauf im absolut Fremden sich selbst wiedererkennt.) Leider wird die scharfe Teilung nach Geschlecht oder Sexualität nicht thematisiert. Von einem 1972er-Roman muss man das aber auch nicht erwarten.
Perfide ist das Buch, weil es viele seiner Rätsel nicht klar auflöst. Nach dem Lesen der ersten Novelle bleibt eine erhebliche Ratlosigkeit zurück. Ich empfehle ganz unbescheiden, vorab meine "Lesehilfe" unten durchlesen. Falls trotzdem zu viele Rätsel unerklärlich bleiben: Entweder gleich noch nochmal lesen und auf alle Auffälligkeiten achten. Das hilft! Oder in meinen erklärenden Spoilern nachschauen, die ich als separate Posts diesem Thread hinzufüge.
Durch beides lernt man Wolfes Verstecktechnik zu durchschauen. Man versteht die beiden folgenden Novellen dann auch beim ersten Lesen hinreichend. Von allein beantworten sie nämlich keine offen gebliebenen Fragen, weil sie zwar in derselben Welt spielen, aber völlig eigenständig sind. Auch vom Stil und der Struktur her.
Natürlich finden sich auch anderswo im Web zahlreiche Hinweise zu den Rätseln des Romans. Leider betreffen viele davon irrelevante Nebensächlichkeiten (wie den Namen des Ich-Erzählers). Andere sind extrem an den Haaren herbeigezogen oder sogar offensichtlicher Unsinn. (Die Essays auf wolfewiki bieten von allem etwas.) Brauchbare Übersichten zu den wichtigsten Punkten habe ich nicht gefunden.
Deshalb beglücke ich euch mit meiner Lesart der zentralen Aspekte. Stellt dem ruhig Eure eigenen Ansichten gegenüber. Das ist ja das Schöne an Wolfe: man kann ihn auf verschiedene Arten lesen. (Zumindest hierüber scheint allseits Einigkeit zu bestehen.)
Vorab hier der Versuch einer „Lesehilfe“, die Gene Wolfes Verstecktechnik erläutert.
Diesen Abschnitt kann man gut auch vor dem eigentlichen Buch lesen. Vielleicht erspart er das Doppel-Lesen:
Gleich zu Beginn des Buches werden wir darauf hingewiesen, dass der Erzähler aus einer speziellen Perspektive berichtet, nämlich der eines Kindes. Ein Kind weiß nicht, was gewöhnlich und was außergewöhnlich ist. Es lässt vieles weg, was für erwachsene Erdenmenschen sehr hilfreich zu wissen wäre. Daher gilt es, auch scheinbare Nebensächlichkeiten ernst zu nehmen. Wenn man stutzt, hat das fast immer einen Grund. Nicht rasch drüber weg lesen, sondern eine mentale Notiz machen und vielleicht über Erklärungen nachdenken.
Zudem gehört der Erzähler einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an. In dieser werden bestimmte unangenehme Dinge nicht beim Namen genannt. Der Erzähler selbst scheint das noch mehr zu tun als sein Umfeld, er beschönigt über alle Maßen. Wenn sich klare Lücken auftun, darf man sich fragen, über was der Erzähler stillschweigend hinweggeht, bzw. manchmal sogar durch Ausreden kaschiert – oder was er schlicht nicht wahrhaben will.
Ich fand es überraschend, was ich übersehen habe, weil ich es nicht wörtlich genommen habe. Sondern unreflektiert uminterpretiert habe, damit es in meine Vorstellung passt. Erfundenes Beispiel: Wenn im Text die Rede wäre von „gold tapezierten, violetten, pfirsichfarbenen und moosbegrünten Wänden“, dann befindet sich wirklich Moos an der Wand, nicht nur moosgrüne Farbe.
Womit wir beim letzten Punkt sind: Manchmal fließt der Text einfach so wunderbar dahin, dass man aus den Augen verliert, was für ein Bild sich gerade zusammensetzt. Ein weiteres erfundenes (extremes) Beispiel: „Wir brauchten eine Weile, um die zum Schlüssel gehörende Tür zu entdecken, da sie von einem verschlissenen Vorhang verdeckt wurde, dessen Zugmechanismus schon längst hätte gewartet werden müssen. Der Raum dahinter wirkte ebenso vernachlässigt, überall lag Staub herum. Über eine Truhe hinweg blickten wir jedoch auf das farbenfrohe Bildnis eines französischen Eroberers, der, das Gewehr über der Schulter und den Fuß auf reichlich Inka-Gold gestützt, uns unverwandt mit stolzem Blick ansah.“ Das wäre dann die Langfassung von „Hey, wir haben eine Schatztruhe gefunden!“ Alle zugehörigen Stereotypen sind versammelt: Die versteckte Tür, der lange nicht genutzte geheime Raum, der Eroberer mit Schatz – und die Truhe. Man muss das Bild „nur“ zusammensetzen.
Alles Folgende sind lupenreine SPOILER. Unbedingt erst NACH DER ERSTEN NOVELLE lesen.
Die „Abos“ und „Veils Hypothese“
Laut offizieller Lehrmeinung wurden die Abos von den Siedlern getötet (oder so vertrieben, dass sie ausstarben). Veils Hypothese besagt das genaue Gegenteil: Die Abos haben die Siedler getötet und deren Gestalt angenommen. Ein klassisches Beispiel für „Entweder/Oder“ bzw. „Wir vs. die Anderen“.
Tatsächlich ist es zu einer Vermischung der beiden Spezies gekommen. Weder die einen, noch die anderen sind ausgestorben, sie sind stattdessen untrennbar verbunden. Der Erzähler selbst sagt am Ende zu Dr. Marsch: „Sie sind ein Abo, mindestens aber ein Halb-Abo.“ Damit gibt er die Existenz von Mischlingen zu.
Die Beschreibungen von Frauen sind viel zu exotisch für Menschen. Eine der Frauen in Tante Jeanines Zimmer hat gelbe Augen, Phaedra violette. Die Frau, die J.Marsch begleitet, hat „grotesk lange Beine“. Dr. Marsch berichtet sogar von einer wahren Riesin. Und die Frauen sind stabil gebaut, teils mit Schultern, breiter als die eines Mannes. Sie besitzen offenbar die Fähigkeit, ihr Aussehen an die Vorlieben von Männern anzupassen. Im Falle der Demimondaines(=Huren) führt das zu Extremen, die im Bordellbetrieb für Aufmerksamkeit sorgen (z.B. Augen groß wie Eier). Bei Phaedra führt es zu einer Schönheit, die zum Erzähler passt, mit perfekten Zähnen und violetten Augen. Der Erzähler schreibt das plastischer Chirurgie zu. Aber seien wir realistisch: Phaedras Vater ist ein katastrophaler Geschäftsmann. Er braucht ständig Geld, um seine Gläubiger bei Laune zu halten. Aber ausgerechnet in seine Tochter soll er vorausschauend investiert haben? Wenn er kaum seine kurzfristigen Handelsgeschäfte vorfinanzieren kann? Sehr viel plausibler ist die Annahme, dass in Phaedras Genen genügend Abo steckt, dass sie sich von selbst zur passenden Schönheit wandelt.
Umgekehrt werden keine extremen Fälle von Gestaltwandlung berichtet. Durch die Vermischung und Assimilation der Abos in die Siedlerkultur reduziert sich anscheinend diese Fähigkeit. (Siehe auch Novelle 3.) Ganz verschwunden im Sinne von Veils Hypothese sind die Siedler also nicht.
Wie verhält es sich mit dem Erzähler selbst? Seine Tante flüstert einer Dienerin eine unverständliche Anweisung zu. Daraufhin wird ein altes Fotobuch gebracht, und zwei aufgetakelte Demimondaines erscheinen (die ja eigentlich auf dem Dach Geld anschaffen sollten). Beides dürfte eine Folge der geflüsterten Anweisung sein. Denn der Anblick der beiden soll dem Erzähler helfen, zu erkennen, dass auch seine Mutter eine Abo war. Ihr Foto zeigt sie als große Frau. Offenbar ist sie auch eher knochig gebaut, denn der Erzähler tippt auf keltische Abstammung. Eine Einschätzung, die eine der Frauen sehr erheitert. Mit ihren übermäßig langen Beinen, seltsam gefärbten und großen Augen sind die Frauen eigentlich gut als (Halb-)Abos erkennbar. Trotz des direkten Vergleichs versteht der Erzähler den Zusammenhang leider nicht. Oder er will ihn nicht verstehen, denn er will sich selbst nicht als Halb-Abo sehen.
Französisch- und Englischsprachige. Oder: das politische System.
Früher wurde französisch gesprochen, heute englisch. Mehr mag der Erzähler nicht berichten über diese drastische Änderung. Das Theaterstück „dreht sich – zwangsläufig – darum, wie die ursprüngliche französiche Kolonie ihre Macht verloren hatte.“ Da haben wir ihn, den Machtkampf, und wer ihn verloren hat. Da im Stück auch ein Offizier vorkommt, kann man von einer militärischen Auseinandersetzung ausgehen. Warum steht im Zitat oben „zwangsläufig“? Weil die Französischen gezwungen sind, Negatives über sich aufzuführen. Alles andere würde wohl die Geheimpolizei unterbinden (die der Vater bestechen muss, wie man gleich zu Beginn der Novelle erfährt).
Auf einen Krieg deutet auch das Feuerwerk hin. Der Anlass wird nicht genannt, aber der Sieg der Englischen liegt nahe. Denn Wolfe schmuggelt zwei Hinweise in die Beschreibung: Es werden „Fliegerbomben“ vorgeführt („aerial bombs“). Und „Raketenflüge, die sich eine halbe Meile über der Stadt erschöpfen“, sind wohl mehr als gewöhnliche Feuerwerksraketen.
Zum Schluss der Novelle wird der Erzähler zum "üblichen Strafmaß von zwei bis fünfzig Jahren" verurteilt. Er wird also der Willkür des Strafvollzugs ausgeliefert. Und zwar nicht in einem Gefängnis, sondern in einem Straflager à la Stalin, in dem jeden Winter Gefangene sterben. So behandelt man Kriegsgefangene. In einem Gespräch mit J.Marsch heißt es, die Bevölkerung sei heute kleiner als vor fünfzig Jahren. Der Krieg und seine Folgen haben wohl viele Menschenleben gekostet.
Alles deutet darauf hin, dass die englischsprachigen Machthaber die französischen Ur-Siedler behandeln wie eine Kolonialmacht es mit Ureinwohnern tut. Warum sieht man davon so wenig? Beim Besuch in der Bibliothek blickt der Erzähler durch Fenster in der Kuppel in verschiedene Himmelsrichtungen. In einer Richtung liegt sein Elternhaus. In einer ganz anderen Richtung liegt „der Marktplatz, und dahinter die eigentliche Stadt“. Diese eigentliche Stadt lernen wir nie kennen! Wir bleiben im ehemals stolzen französischen Bereich, der heute eher ein heruntergekommenes Ghetto ist. Das frühere Ministerialgebäude ist eine vernachlässigte Stadtbibliothek, die zugehörigen großen Parkanlagen wurden mit billigen Mietshäusern zugepflastert. Warum? Weil man die Französischen dorthin umgesiedelt hat (oder sie selbst sich dort zusammengefunden haben, und sich bessere Unterkünfte nicht mehr leisten konnten).
In diesem französischen Ghetto ist Stehlen vollkommen normal. Bestenfalls handeln die Bewohner mit fragwürdigen Antiquitäten, ansonsten mit Drogen, Sklaven, Kampfhunden, Frauen und Kindern. Wir bewegen uns in einer Unterschicht aus lauter gesellschaftlichen Randexistenzen. Dass der Erzähler dies nicht offen sagt, verbietet ihm sein Stolz.
Immerhin ist der Vater früher viel gereist, es gab also Bewegungsfreiheit.
Eine zusätzliche Spekulation, die sich nur durch die dritte Novelle begründen lässt: Vielleicht versuchen die neuen Machthaber mit der Separierung auch die eigene Unterwanderung durch Abos zu vermeiden, wie sie bei den französischen Ur-Siedlern bereits stattgefunden hat.
Das Haus (Cave Canem) und seine Hüter
Das Haus ist bereits aus der Ferne gut zu erkennen, weil es höher ist als die Gebäude in seiner Umgebung. Es besitzt West- und Ostflügel (mit einem Springbrunnen dazwischen), ein Foyer, einen großen Dachgarten und unüberschaubare labyrinthische Gänge. Das ist weniger ein Haus als ein Palast.
J.Marsch berichtet, dass Nr.1 dieses Haus gebaut hat. (Seitdem ist es also wohl in Familienbesitz.) Dazu muss Nr. 1 reich und/oder einflussreich gewesen sein. Der Reichtum ging aber verloren. Vielleicht im Krieg. Aber auch in die Anschaffung von Mr. Million muss ein Vermögen geflossen sein (von diesem Simulator-Typ wurden nur wenige Exemplare gebaut). Heute sieht das Haus unerwartet alt aus (sagt J.Marsch). Der bucklige Diener schleppt den Erzähler durch ungenutzte, mit Rattendreck beschmutzte Gänge. Intakt gehalten werden wohl vor allem das Geheimlabor und die Bordell-relevanten Bereiche.
Bzgl. des Theaterstücks erinnert sich der Erzähler, „dass einmal eine meiner Bewegungen an irgendeinen Manierismus meines Vater gemahnte, was ein äußerst unangebrachtes Lachen auslöste“. So stadtbekannt dürfte sein (zurückgezogen lebender) Vater kaum sein, dass ein großes Publikum seine Manierismen erkennt. Was das Publikum durchaus kennen mag, sind Manierismen des ehemaligen Gouverneurs, den der Erzähler im Stück verkörpert. Und warum spielt der Erzähler diese Bewegungen so trefflich? Ich wage die Behauptung, dass dieser Manierismus über die Klon-Generationen hinweg weitergegeben wurde. Demnach wäre Nr.1 der ehemalige Gouverneur des Departments. Das erklärt den Palast, und auch das (vom Vater bekundete) Ziel, über den Kolonialplaneten zu herrschen. Es wäre eine logische Weiterentwicklung des bereits erreichten Aufstiegs.
Dann gibt es noch den versteckten Keller (6 Stockwerke!), der nur über den hintersten Winkel des Hauses zugänglich ist. Im zweiten Stock lebt die Tante in einem Raum, der nicht durch einen Türknauf oder eine Klinke geöffnet wird, sondern durch einen Schlüssel – wie eine Gefängniszelle. Was sich sonst im Keller tut, erfahren wir nie. Möglicherweise wohnen hier die Demimondaines, und die Tante wurde dorthin verbannt, nachdem sie sich mit ihrem Bruder überworfen hat. Möglicherweise war der gesamte Keller früher ein Geheimgefängnis.
Vor dem Haus gibt einen kleinen Garten, über den die Statue des Zerberus blickt. Dort gibt es separate Farnbeete, so groß wie Gräber. Also gab es hier wohl einst Gräber, die aber entfernt wurden. (Vermutlich auf Geheiß der neuen Machthaber, die einer ehemaligen Gouverneurs-Familie ihre Selbstlob-Grabsteine untersagen.) Wer wurde dort beerdigt? Wohl doch die Herren des Hauses. Über deren Gräber wacht der mittlere Kopf des Zerberus mit würdigem Blick. Dem Eintretenden wirft der Zerberus ein breites Grinsen zu – nach dem Motto: „Hallo Nr.x. Du und ich wissen genau, wer hier liegt. Nämlich du selbst, in deinen früheren Verkörperungen.“ Pure Spekulation: Der knurrende Kopf könnte in Richtung des Grabes der (Abo-)Mutter zeigen.
Die nächtlichen Behandlungen und Bewusstseinslücken
Sobald der Erzähler in die Pubertät kommt (d.h. sich für Phaedra zu interessieren beginnt), zwingt ihn sein Vater zu allnächtlichen Sitzungen. Diese bestehen aus einer Kombination von Drogen und Einflüsterungen.
Ein Nebeneffekt scheint zu sein, dass der Erzähler seine erotischen Interessen verliert. Er spielt im Theater lieber Phaedras Vater als ihren Liebhaber. Marydol und Nerissa interessieren ihn ebenso wenig. Auch Männer nicht. Aus Sicht des Vaters ist es vorteilhaft, seinen Nachfolger vom Weg der natürlichen Fortpflanzung wegzulocken. Schließlich soll er sich der Fortpflanzung durch Klonen widmen.
Der Haupteffekt besteht aber darin, dass der Erzähler sich zunehmend an Abschnitte seines Erlebens nicht erinnern kann. Zuerst fehlen ihm Stunden, zum Schluss Monate. Laut seinem Umfeld ist er in diesen Zeiten aber normal aktiv und bei Bewusstsein. Die Frage ist: Wessen Bewusstsein? Die einzig plausible Antwort lautet: Sein Vater arbeitet daran, sein eigenes Bewusstsein in Nr.5 zu kopieren. So dass nicht nur seine Gene, sondern auch seine Persönlichkeit weitergegeben werden. Sukzessive ersetzt sein Geist den (unter Drogen formbaren) Geist des Nachfolgers. Damit würde erreicht, was bereits mit Mr. Million versucht wurde.
Eine solche Übertragung wird dadurch erleichtert, dass Nr.5 zumindest ein wenig Abo in seinem Stammbaum hat (die Mutter). Abos können nicht nur die Gestalt eines anderen Menschen annehmen, sondern sind auch zu gewissen mentalen/telepathischen Übertragungen in der Lage. (Das wird in der 3. Novelle deutlicher.) Der Vater hat unzugängliches Wissen aus der Bibliothek studiert. (Den Schlüssel zu solchen Bereichen findet der Erzähler anfangs auf dem Türsturz bei Davids Pfeifen.) Vielleicht hat ihm das geholfen, seine Übertragungstechnik zu entwickeln.
Deutlich wird die Weitergabe des Geistes im Traum des Erzählers. Er befindet sich auf einem Segelboot und träumt alles sehr realistisch, obwohl er ein solches Schiff noch nie betreten hat. Er allein könnte sich das nie so plastisch ausmalen. Sein Vater hingegen ist viel gereist. Im Traum tritt neben Mr. Million (der Steuermann) auch die Tante auf. Sie weist darauf hin, dass der Vater gefährlich ist. Und zeigt nach unten, d.h. der Vater hält sich im Unterdeck auf. Triviale Traumdeutung: im Unterbewusstsein.
Alles Folgende sind lupenreine SPOILER zur ZWEITEN NOVELLE "Eine Geschichte von John Marsch"
Gestaltwandler
Nach der ersten Novelle fragte ich mich gespannt, was es denn nun mit den Annesiern (=Abos) auf sich hat. Können sie tatsächlich ihre Gestalt wandeln? Und dann wurde ich enttäuscht, weil die „Geschichte von J.Marsch“ keine Gestaltwandlung berichtet. Doch sie tut es natürlich, ich war bloß blind dafür, dass es mal wieder nur indirekt berichtet wird.
Sandläufer stammt aus den Bergen, in denen es kaum Wasser gibt. Jeder Tümpel ist eine Oase. Wo und warum sollte er schwimmen gelernt haben? Nein, nie im Leben kann Sandläufer zu Beginn schwimmen. Trotzdem springt er in den Fluss, der „in reißenden Strömen durch den Ewigen Donner fließt“ und „rasende Stromschnellen“ durchquert. Das ist selbstmörderisch. Bzw. wäre es, wenn nicht der Priester vorher einen Traum von einem Otter geschickt hätte. Sandläufer weiß aus dem Traum, wie es sich anfühlt, als Otter den Fluss hinabzuschwimmen. Er hat ein Vorbild, eine Ziel-Gestalt, an die sich seine eigene Gestalt anpassen kann. Auch wenn es nicht explizit dasteht: Sandläufer schwimmt den Fluss in Gestalt eines Otters hinab.
Ein zusätzlicher Hinweis darauf: Er begibt sich an einer Stelle ins Wasser, an der es nur hüfttief ist. Der Grund besteht aus Sand und Steinen. In solches Wasser würde man als Mensch „steigen“, statt zu „springen“. Als Otter muss man springen (und kann das auch, ohne sich am Grund zu verletzen.)
Ähnliche Gedanken kann man sich zu der Art machen, wie Sandläufer und Ostwind durchs Wasser staksen. Nämlich so, wie Reiher es tun. Wäre diese Lauftechnik einer Erwähnung wert, wenn nicht mehr dahinter steckt?
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Menschen, Schattenkinder und die Vorvergangenheit
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Die stimmigste Erklärung scheint mir folgende zu sein:
In grauer Vorzeit kamen Menschen von der Erde nach St.Anne. (evtl. aus Gondwanaland, das hatte der Erzähler in der ersten Novelle schon vorgeschlagen. In der 3. Novelle spricht J.Marsch davon, dass der Mensch 1 bis 10 Millionen Jahre als sei – genügend Zeit für eine Hochtechnologie-Zivilisation, die lange vor unserer Zeit wieder verschwand. Diese Menschen entwickelten sich zu den Schattenkindern weiter (bzw. zurück, je nach Sichtweise). Dabei entwickelten sie enorme physikalisch-telepathische Fähigkeiten, mit denen sie sogar Raumfahrer ablenken, die sonst St.Anne entdecken könnten. Ziel der Schattenkinder ist es, durch Loslassen näher zu Gott zu kommen – siehe das einleitende Gedicht der Novelle.
Ursprünglich lebten Menschen und Eingeborene friedlich zusammen. Da die Eingeborenen Gestaltwandler waren, nahmen sie die Gestalt der Menschen an. Weshalb die Abstammung auf den ersten Blick genau andersherum wirkt.
Der weise Alte sagt: „Es ist lange her, dass wir aus der eingeborenen Bevölkerung einen Schattenfreund genommen haben.“ Er sieht also die anderen als Eingeborene an. Zum Schluss hin ist er sich dessen nicht mehr sicher. Da ist er aber auch schon geschwächt. (Der weise Alte repräsentiert das Kollektivgedächtnis. Je weniger Schattenkinder beieinander sind, desto schwächer ist er wohl.)
Aus der friedlichen Eintracht ist irgendwann böseste Feindschaft geworden. Man frisst sich gegenseitig. Sowas passiert, wenn die Trennung zwischen „uns“ und „den anderen“ sich in den Köpfen festsetzt.
Sandläufer und Ostwind
Die Geburtsszene ist symbolisch aufgeladen: Das Haar der Mutter bildet einen Heiligenschein. Sandläufer steigt von oben herab – er ist heilig. Ostwind kommt von unten herauf – unheilig.
Die beiden bilden ein Gegensatzpaar und sind doch eins (zumindest genetisch identisch).
Zum Schluss wechselt ihr jeweiliger Geist in den jeweils anderen Körper, wodurch Sandläufer anstelle von Ostwind stirbt. Und so verläuft denn auch das Aufeinandertreffen von Siedlern und Annesiern unheilvoll.
Alles Folgende sind LUPENREINE SPOILER zur 3. NOVELLE: V.R.T.
John Marsch und die Annesier
John Marschs Ursprung wird (mir) nicht hundertprozentig klar. Die ersten Seitens seines Tagebuchs sich nämlich fein säuberlich herausgetrennt worden (von ihm oder VRT). Darauf kann ich mir keinen Reim machen. Sein Verhalten und sein Unverständnis zeichnen ihn jedoch sehr stark als Menschen aus.
Marsch weigert sich hartnäckig, Annesier als solche zu erkennen. Seine Denkbarriere ist schon geradezu lächerlich. Selbst VRT akzeptiert er (laut Tagebuch) nicht als Annesier. Dabei weiß VRT ja umfangreich vom Freien Volk der Berge zu berichten. Er hat mit seiner Mutter auch viel Zeit dort verbracht und ist schon deshalb ein vertrauenswürdiger Anessier-Kenner. VRT hat übrigens grüne Augen, wie alle Berggeborenen (laut Ende der 2.Novelle) alias Mitglieder des Freien Volkes.
Die Annesier haben sich auf St. Anne entweder mit den französischsprachigen Siedlern eingelassen, oder weit entfernt in den Bergen versteckt, als Tiere getarnt.
John Marsch hätte sehr gut wissen können, dass die Annesier ihm in Tierform begegnen werden. Mrs. Blount hat es ihm ins Gesicht gesagt: „Das sind keine Menschen, das sind Tiere.“ Ironischerweise beginnt sein Bericht über die alte Mrs. Blount mit dem Kommentar, dass alten Menschen leider einfach nicht richtig zugehört werde. Das sagt der Richtige…
Mrs. Blount gehört zu den englischsprachigen Siedlern. Sie berichtet davon, dass die französischen jungen Frauen eine geradezu unwiderstehliche Wirkung auf die Männer haben. Also dürfen wir auch hier von einer Vermischung der Spezies ausgehen.
Man ahnt auch hier wieder, dass die Annesier mehr als nur ihre Gestalt wandeln können. Sie können auch eine mentale/telepathische Ausstrahlung erzeugen, bzw. telepathisches Wissen aufnehmen. Siehe auch: VRT liest laut seinem Vater Bücher, eine ungewöhnlich menschliche Tätigkeit. Naheliegender ist, dass er sein Wissen direkt aus den Gedanken seiner Umgebung bezieht. Auch in Port Mimizon wird die Bibliothek ja stark vernachlässigt. Von Schulen hört man dort ebenfalls nichts. (Phaedra will nicht darüber reden. Weil sie nie auf einer Schule war?)
John Marsch + V.R.T. / oder: Wer stirbt wie?
Laut Reisetagebuch stirbt V.R.T in der Schlucht. J.Marsch bestattet ihn in einer Höhle, zusammen mit der Katze.
Es ist aber sehr deutlich, dass umgekehrt J.Marsch gestorben ist. Marsch könnte nicht mit der Katze sprechen, und auch die nachfolgenden Einträge im Reisetagebuch passen überhaupt nicht zu Marsch. Ebenso wenig seine Schwierigkeiten beim Schreiben. VRT hat die Gestalt von Marsch angenommen, plus, was er von dessen Geist schon vorher aufgenommen hat. Das tut er möglicherweise nicht aktiv. Gestaltwandeln scheint eher etwas Passives zu sein. (So wie ich meine Hautfarbe wandele, von hell zu braun oder rot. Es braucht nur genügend Sonnenschein.)
Die Annesier haben in gewissem Maße die Fähigkeit, auch eine geistige Anpassung vorzunehmen. VRT hat das zuvor schon mit seiner Imitation von Dr. Hastings vorgeführt. D.h. VRT spielt nicht nur J.Marsch, er wird tatsächlich zu einem Hybrid aus VRT und Marsch.
Wie stirbt John Marsch?
Kurz vor seinem Tod hat er einen beeindruckenden Annesier getötet, der die Gestalt eines großen Carabao angenommen hatte. Der Tod wird empathisch geschildert, wir sehen dem weinenden Annesier beim Sterben zu. Marsch hingegen sieht mal wieder nur ein Tier und feiert seinen Jagderfolg. Es wird wahrlich Zeit, seinem Treiben ein Ende zu bereiten.
Die Katzen-Annesierin bringt VRT nach Marsch’s Tod eine Art Maus mit Menschengebiss, als „Gruß vom Marquis des Carabas“, dem Herrn des gestiefelten Katers aus dem gleichnamigen Märchen. Darin muss ja eine Aussage stecken. Und welche sollte es sein, wenn nicht: In Katzenform habe ich eine Maus getötet, als Zeichen dafür, dass ich in Menschengestalt einen Menschen getötet habe. Als Dienst für den Marquis des Carabas=Carabao. Damit, dass sie die Maus zu VRT bringt, signalisiert sie gleichzeitig, dass sie ihn weiter als „Herrchen“ sieht. Sie hat mit dem Mord einen Dienst für die Annesier erbracht, möchte aber VRTs Freundin bleiben.
VRT hat das womöglich nicht gutgeheißen, denn laut Reisetagebuch wird die Katze mit Marsch zusammen bestattet. Falls das stimmt, müsste VRT für ihren Tod verantwortlich sein.
Skurril bleibt, dass die Katzen-Annesierin aus dem gestiefelten Kater zitieren kann. Aber gut, sie hat unter Menschen gelebt, und mag die Geschichte gehört haben.
Der Gefangene in der untersten Zelle
Die unterirdische Zelle ist unmenschlich. Viel zu niedrig und klein wie eine Hundehütte. VRT/Marsch verliert dort den Verstand, wie er selbst sagt. Und hinzufügt, dass das nichts Schlechtes ist, sondern angemessen. Mit dem Verstand verliert er wohl auch die enge Bindung ans Menschliche, die durch seinen Menschenvater in ihm steckt. Urkräfte der Annesier kommen wieder durch. Er passt seine Gestalt an die Umgebung an. Und so sieht er, als er in die polierte Fressschüssel blickt: leuchtende Augen und eine Schnauze. Ein Hundegesicht oder Wolfsgesicht.
Was bezweckt der Offizier ganz am Schluss?
Der Offizier sendet das Beweismaterial mit dem ersten Schiff zurück. Gegenüber dem Kommandanten wirkt das so, als sende er es schnellstmöglich. Man kann ihm keinen Vorwurf machen. In Wirklichkeit kann er mit den nachfolgenden Schiff eine ganz andere Nachricht schicken, die einen Monat früher ankommt.
Vermutlich sendet er an „Untergrund-Annesier“ die Nachricht, den Gefangenen zu befreien. Der Gefangene selbst hatte so etwas schon mal überlegt. Er hatte ausgeschlossen, dass sein unterirdisches Gefängnis in Richtung des Platzes und der Kathedrale liegt. Denn dann könnte man die Gefangenen zu leicht befreien. Letztendlich liegt seine Zelle aber doch unter der Kathedrale. Der Mann mit der Kutte muss ihn also nur wieder dorthin bringen, dann kann er befreit werden. (Der Kuttenmann ist also kein Henker, sondern
Warum tut der Offizier das? Weil er selbst Annesier ist. Das sieht man an der sorgfältigen Art, wie er sich nach dem Sex wäscht: Unterkörper und Beine, mit besonderer Seife, quasi rituell. Gleiches tut VRT im Fluss und ebenso Drei Gesichter.
Die Schlusspointe lautet damit: Nach den Französischen werden auch die Englischsprachigen langsam von Annesiern unterwandert.
Bearbeitet von AlvarBorgan, Heute, 10:07.