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Fingerübung 8 Entscheidungen


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11 Antworten in diesem Thema

#1 Michael Fallik

Michael Fallik

    Ufonaut

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Geschrieben 26 Oktober 2025 - 20:24

Lieber Mammut, ich hoffe du bist mir nicht böse, weil ich eigenmächtig ein neues Thema erstellt habe: Entscheidungen. Bleibt zu hoffen, dass die Beteiligung diesmal besser ist.


Zwei Enden von Michael Fallik

 

Amerika in seinen besten Zeiten und an einem guten Ort. Harold Tribune, Wahljahr, die Kommunisten abgeschlagen, gute Ernte eingefahren. Es war einer dieser beschissen feuchten Abende, an denen aufsteigender Nebel, Regen und dampfender Schweiß die Fenster verdunkelten. Die Redaktion roch nach Druckerschwärze, kaltem Kaffee und Zigaretten. Aus dem Flur kam Musik vom Radio der Setzerei: eine gedämpfte Trompete, ein langsamer Takt, der durch die Türen sickerte, als würde dahinter eine Jazzband verrecken.

 
Mr. Hale kannte die Frau, die ohne anzuklopfen sein Büro betrat: Mary Holm, eine freie Autorin, die vor ein paar Monaten eine viel beachtete Story für die Sunday-Beilage geschrieben hatte. Er hatte ihren Ton gemocht: klar, knapp, ohne Zierrat.
 
„Miss Holm“, sagte er. „Sie wieder in der Stadt?“
 
„Nur kurz“, sagte sie, öffnete eine speckige Ledertasche und legte ein Manuskript auf den Tisch. Nasse Tropfen perlten von ihrem Mantel ab; die Luft nahm den Geruch von alter Wolle und Regen an. „Ich brauche Ihre Entscheidung.“
 
Er zog das Bündel zu sich, tippte Asche in den Glasaschenbecher und blätterte. Die Geschichte handelte von einem Haus, einer Familie; irgendwo in dem Haus diese Tür, die immer hinunter ins Dunkel führte und die man nicht durchschreiten wollte. Jemand hielt die Familie dort fest. Kein Drumherum. Keine großen Worte. Stühle, angebundene Körper, von Speichel durchnässte Knebel.
 
„Sie haben Ihren Stil nicht verlernt“, sagte er.
 
„Danke“, sagte sie. „Es gibt zwei Enden.“
 
Er hob eine Augenbraue. „Aha.“
 
Sie zeigte auf den Rand der letzten Seite: zwei kleine Kästchen, sauber gezeichnet. Daneben stand: „Hier entscheidet der Verleger.“
 
„Das ist neu“, sagte Hale. Unten kamen die Pressen in Takt; der Boden vibrierte leise. Aus dem Flur wechselte die Musik; eine Klarinette kletterte in Septimen über einem weichen Schlagzeug und verlor sich im Belanglosen.
 
„Ich möchte, dass Sie wählen“, sagte sie. „Alle sterben. Oder alle gehen wieder die Treppe hoch.“
 
Er sah sie an. Ihre Haare glatt zurück, aus der Erinnerung nun heller; der Mantel zu groß, um zu ihr zu gehören. Auf den Schultern pappte noch der Regen, der einen leichten Geruch nach Keller mitbrachte, nach etwas, das sich nachts, abseits der Straßen, im Schatten verbarg. Er kannte sie als präzise, kontrolliert. Kein Spielertyp, der einem damit auf die Nerven ging.
 
„Sie wollen’s blutig oder gnädig“, sagte er nüchtern.
 
„So kann man’s sagen.“
 
Er griff nach seinem Bleistift. „Dann blutig“, sagte er und setzte das Kreuz. „Wenn wir’s drucken, dann mit Biss. Es sind bald Wahlen, der Ruf nach Sicherheit ist gefragt.“
 
Sie nickte. Ihr Gesicht, feucht vom Regen oder austretendem Schweiß; das Büro zu heiß, der Mantel zu dick – spielte keine Rolle. „Verstanden. Bisschen Angst unters Volk bringen.“ Sie schob das Manuskript zu sich, strich die Ränder glatt. „Ich tippe das Ende nach.“
 
„Schicken Sie’s rüber“, sagte er. „Kultur kriegt’s morgen.“
 
Sie stand auf. Der Stuhl kratzte über den Boden. Im Flur fuhr jemand die Radiolautstärke ein wenig hoch; die Klarinette trat zurück, eine heisere Bluesstimme setzte ein, fragend und mit kaum verständlichen Worten. Mary Holm zog umständlich den Kragen des Mantels hoch. Der Regengeruch folgte ihr zur Tür, verdünnte sich draußen.
 
„Gute Nacht, Miss Holm“, sagte er.
 
„Gute Nacht, Mr. Hale.“
 
— — —
 
Draußen roch die Stadt nach Diesel, nassem Asphalt, und auf den Vordächern der Shops trommelte der nachtropfende Regen. Vor dem Diner an der Ecke flackerte ein Neonlicht, dahinter spielte eine Jukebox. Ein zu langsamer Song, um dem Abend gerecht zu werden.
 
Mary ging die leere Straße hinunter. Ihre Absätze klopften auf Holzbohlen, seltsam harmonisch mit dem Takt der Musik. Beton, Pfützen, darin Neonspiegel, bis ihre Schritte alles verwischten.
 
An der nächsten Haltestelle wartete zitternd ihr Bus; der Geruch von Abgasen hing wie bleierner Nebel in der Luft. Der Fahrer suchte vergebens ihren Blick, während sie Kleingeld aus seiner Pranke fischte. In ihrem Kopf modellierte sich der blutige Schluss in knappen Worten. Es war gut, diese Entscheidung zu übergeben.
 
— — —
 
Das Haus war dunkel, nur in der Küche brannte eine kleine Lampe. Das Radio dort war leise eingestellt, eine andere Station, blechern. Der Geruch war bekannt: Seife, kalter Ofen, feuchte Kellertreppe.
 
Mary hängte den Mantel an die Garderobe. Am Ärmel blieb ein dunkler Rand vom Regen. Sie legte das Manuskript auf den Küchentisch, legte sorgfältig frisches Papier daneben. Dann öffnete sie die Kellertür. Die Luft aus der Tiefe war dumpf und roch nach Angst und Urin, mit einer scharfen Note, die wie der Nachhall eines Songs in der Nase blieb.
 
Sie ging hinunter. Holzstufen. Das Summen der Glühbirne. Von oben tickte eine Uhr. Unten wartete das betretene Schweigen eines Raums, in dem ein Stuhlkreis wie eine Uhr ohne Zeiger kauerte..
 
„Es endet jetzt“, sagte sie leise, mehr zu sich als zu jemandem. Aus der Küche sickerte der Refrain des Radios durch die Decke, zwei Takte, drei.
 
Was folgte, war Arbeit. Kein Spektakel. Kurze, entschlossene Bewegungen. Ein Stuhl scharrte. Ein kurzer Aufprall. Entsetztes Stöhnen, das durch feuchten Stoff drang und dann, in krampfhaften Stößen, langsam abklang. Die Musik blieb gleich. Der Regen setzte wieder ein, genau richtig, ein leises Trommeln auf der Fluchttür, die von außen verriegelt war.
 
Als es still war, drehte sie das Licht aus. Am Spülbecken wusch sie sich die Hände. Das Wasser roch nach Chlor, die Seife nach bitterem Gras. Der Geruch im Raum wurde schwerer, süßlich, setzte sich in den Stoff. Sie wischte die Arbeitsfläche ab, ordnete, legte ein blutiges Tuch sorgsam zurecht. Nichts Eiliges. Nichts Unüberlegtes.
 
— — —
 
Später, gegen neun, stand sie wieder vor Hales Tür. Der Regen war feiner geworden, an der Schwelle zu Nebel. In der Redaktion roch es nun nach Streichhölzern, frischer Tinte und der Wärme der Maschinen. Das Radio spielte jetzt schneller: Saxofon, ein aufgeräumtes Schlagzeug, Bass im Hintergrund.
 
„Miss Holm“, sagte Hale und trat vom Fenster zurück. „Persönlich und schnell – ganz Ihr Stil.“
 
„Nur die letzte Seite“, sagte sie und legte ein einzelnes Blatt auf seinen Schreibtisch. „Wie entschieden.“
 
Er las den Schlusssatz: „Es endete blutig.“ Darunter kein weiteres Wort. Er drehte das Blatt um. Leer. Er sah zu ihr, dann auf die Uhr, dann wieder auf den Satz. Ihr Mantel war dunkel vor Feuchtigkeit, bis auf einen hellen Saum an der Kante. In der Luft hing ein sauberer Seifengeruch und etwas Unbestimmbares, das nicht vom Büro stammte.
 
„Knapp“, sagte er.
 
„Sie wollten Biss“, sagte sie.
 
Er nickte, steckte die Seite unter die Manuskriptklammer und griff zum Telefon. „Ich gebe’s in den Druck.“
 
Sie wandte sich zur Tür. Aus der Ferne erklang eine Sirene, suchte sich den Weg durchs Straßenraster, wurde lauter, wie ein einsetzendes Solo, dann wieder leiser, als wäre das Stück endlich zu Ende. Die Frau, die ihm mit einem Male fremd vorkam, blieb kurz stehen, als lausche sie den rotierenden Druckmaschinen, dann zeigte sie ein Lächeln.
 
„Gute Nacht, Mr. Hale.“
 
„Gute Nacht, Miss Holm.“ Aus dem Hörer des Telefons drang ein leiser Song, endlos und ohne Sinn. 
 
Als die Tür zufiel, blieb von ihr ein schmaler, dunkler Abdruck auf dem Teppich. Hale sah auf das Kreuz am Seitenrand, das er selbst gesetzt hatte. Unten stampften die Pressen weiter, zuverlässig und monoton wie immer. Er wog das Manuskript in der Hand, prüfte das Gewicht einer Entscheidung.
 
Draußen im Nebel drang die Musik aus dem Diner an der Ecke noch einen Moment durch die Luft, bevor sie im Regen verloren ging. Das Ende stand. Und es würde sich gut verkaufen lassen.

Bearbeitet von Michael Fallik, 26 Oktober 2025 - 20:30.

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#2 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 12:35

Was mir jetzt schon vermehrt auffiel wenn ich eine deutschsprachige Geschichte lese, die in Amerika spielt: Immer in einem Diner. Haben die da drüben eine anderen Läden?



#3 Naut

Naut

    Semantomorph

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 12:58

Was mir jetzt schon vermehrt auffiel wenn ich eine deutschsprachige Geschichte lese, die in Amerika spielt: Immer in einem Diner. Haben die da drüben keine anderen Läden?

Doch schon, aber das "Diner-Setting" hat eine Reihe von Vorteilen (nicht ganz ernstnehmen ;) ):
1. Jeder Lesende kennt es (und sei es nur aus dem Kino) und hat sofort ein Bild vor Augen.
2. Jeder Ort hat mindestens ein Diner.
3. Du musst Deinen Figuren nicht groß erklären, wo es ist. Es ist bekannt.
4. Die Tische sind separiert und erlauben so eine relativ private Unterhaltung (anders als z.B. bei anderen Restaurant-Formen wie beim Italian oder im Pub).
Liest gerade: Zafón - Der dunkle Wächter

#4 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 14:01

Das ist klar. Daher auch solche Ausnahmeformulierungen wie: Sie sah aus wie Marilyn Monroe.

Das beste hatte ich letztens bei einem Krimi: Er schätzte den Mann auf 27,5 Jahre.


Bearbeitet von Mammut, 27 Oktober 2025 - 14:02.


#5 Naut

Naut

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 14:06

Das ist klar. Daher auch solche Ausnahmeformulierungen wie: Sie sah aus wie Marilyn Monroe.
Das beste hatte ich letztens bei einem Krimi: Er schätzte den Mann auf 27,5 Jahre.

Wenn das nicht ernstgemeint wäre, wäre es sehr lustig.
Liest gerade: Zafón - Der dunkle Wächter

#6 Michael Fallik

Michael Fallik

    Ufonaut

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 14:25

Was mir jetzt schon vermehrt auffiel wenn ich eine deutschsprachige Geschichte lese, die in Amerika spielt: Immer in einem Diner. Haben die da drüben eine anderen Läden?

 

Hallo Mammut, danke für den Hinweis. Als Nachwuchsautor nehme ich das immer gerne von einem Pro an. Ich hatte es tatsächlich mit Pinte, Pub und Bistro probiert, aber das passte alles nicht.

Vor dem Diner an der Ecke flackerte ein Neonlicht, dahinter spielte eine Jukebox. Es ist dann doch beim Diner geblieben.

 

Danke fürs Lesen und kommentieren an euch beide. 


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#7 Mammut

Mammut

    DerErnstFall Michael Schmidt

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 14:44

Bei den Heftromanen findet man oft solche Vergleiche wie Diner oder Robert Redford und erspart sich damit Beschreibungen, da jeder weiß was das ist. Bei begrenztem Umfang ist das zum Teil auch nötig.

Auswalzende Romane machen das gegenteilig. Die sind zum Teil so detailliert, damit die auf 500+Seiten kommen, da kann man die Hälfte überblättern und der Leser hat ein gutes Gefühl, da er die 500+Seiten schnell gelesen hat (wenn er es positiv empfindet).

Letztendlich muss man sich nur bewusst sein, ob man etwas nimmt, das als Platzhalter fungiert oder ob man die Szene mit mehr Leben erfüllt. Du kannst die Lokalität ja auch beschreiben und damit den Text lebendiger machen.



#8 Michael Fallik

Michael Fallik

    Ufonaut

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Geschrieben 27 Oktober 2025 - 14:51

Bei den Heftromanen findet man oft solche Vergleiche wie Diner oder Robert Redford und erspart sich damit Beschreibungen, da jeder weiß was das ist. Bei begrenztem Umfang ist das zum Teil auch nötig.

Auswalzende Romane machen das gegenteilig. Die sind zum Teil so detailliert, damit die auf 500+Seiten kommen, da kann man die Hälfte überblättern und der Leser hat ein gutes Gefühl, da er die 500+Seiten schnell gelesen hat (wenn er es positiv empfindet).

Letztendlich muss man sich nur bewusst sein, ob man etwas nimmt, das als Platzhalter fungiert oder ob man die Szene mit mehr Leben erfüllt. Du kannst die Lokalität ja auch beschreiben und damit den Text lebendiger machen.

 

Interessant! Mir war anscheinend wichtiger, den knappen Erzählstil nicht zu unterbrechen. Der rote Faden ist die Musik. Dann verstecken sich in der Story noch einige Dinge, an denen ich gerade knabbere ... (nein, ich habe nicht vor, meine Familie zu ermorden  :closedeyes: )


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#9 Tse-Eh

Tse-Eh

    Nanonaut

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Geschrieben 08 November 2025 - 15:58

Das ist klar. Daher auch solche Ausnahmeformulierungen wie: Sie sah aus wie Marilyn Monroe.

Das beste hatte ich letztens bei einem Krimi: Er schätzte den Mann auf 27,5 Jahre.

Das erinnert mich an folgenden Satz aus einer Bedienungsanleitung:

 

Das erste Aufladen der Batterie dauert ungefähr 2 Stunden und 3 Minuten.



#10 Tse-Eh

Tse-Eh

    Nanonaut

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Geschrieben 14 November 2025 - 22:22

"So, Müller, heute ist also Ihr erster Tag?" fragt der Offizier, als ob er es nicht ohnehin wüsste. Ich bejahe, was auch sonst. Natürlich habe ich diesen Raum im Rahmen meiner Ausbildung schon oft betreten. Aber eben nur als Beobachter, als Lernender. Heute ist der erste Tag, an dem ich hier selbst an die Geräte darf. Natürlich unter Aufsicht, immerhin könnte eine Fehlentscheidung die Bevölkerung des ganzen Planeten auslöschen. Oder auch nur die Besatzung eines einzelnen Raumschiffs.

 

"Willkommen bei der Raumüberwachung." sagt der Offizier. "Heute werden Sie erst einmal nur in der Raumkoordination eingesetzt." Ich bin nicht böse darüber. Die Raumkoordination sorgt dafür, dass Raumschiffe nicht zusammenstoßen, und dass sie sicher landen und starten können. Die wichtigen Entscheidungen, die über Leben und Tod, werden an den Schutzsystemen getroffen. Das ist der euphemistische Name für die Neutronenbomben-Arsenale. Natürlich weiß ich auch, wie man diese bedient, die Ausbildung war durchaus umfassend. Aber ich möchte sie gar nicht bedienen.

 

Es gibt Menschen bei der Raumüberwachung, für die ist die Schutzsystem-Kontrolle der Traumjob. Es gibt höchstens einmal im Jahr einen Vorfall, den Rest der Zeit kann man fast nach Belieben verwenden, man muss eben nur bereit sein, sofort zu  reagieren, wenn ein unbekanntes Raumschiff auftaucht. Eines, das verseucht sein könnte.

 

Die Seuche. Sie hat auch einen wissenschaftlichen Namen, aber den kann ich mir nicht merken. Jeder sagt nur, die Seuche. Logisch, all die Seuchen, die die Menschheit früher geplagt haben, waren schon lange ausgerottet, schon bevor der erste Mensch ein anderes Sternensystem erreichte. Wenn es nur eine Seuche gibt, kann man sich eine genauere Bezeichnung sparen.

 

Die Seuche hat schon über vier Fünftel der Menschheit vernichtet, obwohl die Zivilisation sich über die halbe Galaxie verbreitet hatte. Aber die Seuche breitete sich noch viel schneller in der Galaxis aus. Sobald sie auf einem Planeten ausbrach, konnte man sicher sein, dass innerhalb weniger Jahrzehnte niemand mehr auf dem Planeten lebte. Das heimtückische an der Seuche war, dass man sie jahrelang mit sich herumtragen und sie verbreiten konnte, ohne die geringsten Symptome zu spüren. Wenn auf einem Planeten die ersten Menschen krank wurden, dann konnte man davon ausgehen, dass schon die Hälfte der Bevölkerung infiziert war. Und diejenigen, die dann flohen, brachten die Seuche dann zum nächsten Planeten. Dass die Erde und ein paar wenige andere Planeten verschont geblieben waren, war nur auf die drastischen Maßnahmen zurückzuführen, die deswegen eingeführt worden waren.

 

Aber jetzt habe ich keine Zeit, mir darüber Gedanken zumachen. Die Ablöse steht unmittelbar bevor, ich habe einen Job zu erfüllen. Raumschiffe warteten darauf, sicher in den Orbit und dann zur Erde zu gelangen.Um den Schutz der Erde kümmert sich der Offizier.

 

Als ich bereits eine halbe Stunde verhindert habe, dass Raumschiffe zusammenstoßen, höre ich plötzlich vom Offizier ein deutliches Stöhnen. Daraufhin spricht er mühsam in sein Mikrofon: "Einen Notarzt in die Raumüberwachung! Schnell!" Dann wendet er sich an mich. Sein Gesicht sieht bleich aus, und er flüstert nur, als er mir sagt: "Mir geht es miserabel, der Notarzt kommt gleich. Leider kann mein Vertreter erst in einer halben Stunde hier sein. Solange müssen Sie hier meine Aufgabe übernehmen. Denken Sie daran, das Überleben von knapp fünfzig Milliarden Menschen kann von Ihnen abhängen!"

 

Theoretisch ist das natürlich korrekt. Aber es ist nur eine halbe Stunde, wie wahrscheinlich ist ein Vorfall ausgerechnet in dieser kurzen Zeit? Ich könnte es ausrechnen, aber wozu, ich weiß, dass es vernachlässigbar ist. Und so wünsche ich dem Offizier gute Besserung, und wende mich wieder der Raumkoordination zu. Der Zusammenstoß von Raumschiffen ist durchaus kein nur theoretisches Risiko, und wenn schon keine Milliarden, so könnten doch immerhin ein Dutzend Menschen bei so einem Zusammenstoß das Leben verlieren. Aber nicht während meiner Schicht, das habe ich mir fest vorgenommen.

 

Am Rand des Überwachungsgebiets sehe ich auf dem Monitor einen roten Punkt aufleuchten. Das Zeichen für ein nicht angekündigten Raumschiffs. Nun, da hat wohl wieder jemand seine Anmeldung vergessen, ein Routinefall. Die Vorschrift ist klar. Erst die Raumschiffkennung mit der Liste der registrierten Raumschiffe abgleichen. Eine Raumschiffkennung kann dank kryptografischer Absicherung praktisch nicht gefälscht werden. Keine Ahnung, wie das funktioniert, Kryptografie war noch nie mein Ding. Jedenfalls findet sich die Kennung meistens in der Liste, und dann ist der Fall mit ein paar Standardfragen erledigt. Gut, Datenbank geöffnet, Raumschiffkennung in die Abfrage übernommen, Suche gestartet.

 

Hoppla, kein Treffer. Das ist ungewöhnlich. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Also noch einmal die Anfrage ... wieder nichts. Soviel also zur geringen Wahrscheinlichkeit von Vorfällen. Nun gut, gehen wir weiter nach Vorschrift vor und öffnen die Liste der gebannten Schiffe. Das sind Schiffe, von denen bekannt ist, dass sie auf infizierten Welten waren. Ein solches Schiff ist unmittelbar und ohne Rückfrage zu sterilisieren. Noch so ein Euphemismus. Es geht darum, direkt neben dem Schiff eine Neutronenbombe zu zünden. Das Weltall ist ein ungemütlicher und vor allem verstrahlter  Ort, deshalb sind Raumschiffe gegen alle möglichen Arten von Strahlung geschützt. Nur nicht gegen freie Neutronen, denn davon gibt es im All einfach nicht so viele. Die Neutronen töten dann alles Leben auf dem Schiff, inklusive den Erregern der Seuche.

 

Das Schiff steht nicht in der Liste. Einerseits bin ich erleichtert. Ich möchte nur ungern die gesamte Besatzung eines Raumschiffs töten, auch wenn ich damit wesentlich mehr Menschenleben rette. Andererseits heißt das, dass mir die Vorschrift nicht die Entscheidung abnimmt. Ich muss selbst herausfinden, ob das Schiff eine Bedrohung ist, und entsprechend handeln. Oder hoffen, dass der Vertreter des Offiziers rechtzeitig eintrifft, um mir die Entscheidung abzunehmen. Die Raketen müssen das Raumschiff erreichen, bevor es in den Nahbereich der Erde gelangt, sonst würde die Sterilisation auch andere Raumschiffe in Mitleidenschaft ziehen. Ich habe noch etwa fünf Minuten, um herauszufinden, ob das Raumschiff eine Gefahr ist, dann muss ich den roten Knopf drücken. Er ist tatsächlich rot.

 

Vorschriftsgemäß übertrage ich die Raumschiffkennung in die Zielerfassung, aktiviere diese aber noch nicht. Dann kontaktiere ich das Raumschiff.

 

"Raumkontrolle Erde, ich rufe Raumschiff Emil Alpha 35-22. Ihr Schiff ist nicht in unserer Datenbank. Bitte erklären Sie, wer Sie sind, woher Sie kommen und was sie hier wollen."

 

"Hallo, hier ist der Kapitän der Adventure, Kennung Emil Alpha 35-22. Ich habe einen Schaden am Antrieb, den  ich reparieren möchte. Ich komme vom Planeten Menta Fünf. Man hat mich vor der Erde gewarnt, Sie würden sich Schiffe aneignen und die Besatzung töten, aber ich bin mir sicher, dass Sie solche Piratenmethoden nicht anwenden würden."

 

Piratenmethoden? Die Sterilisation von Schiffen erfolgte alleine zum Schutz der Bevölkerung der Erde. Ja sicher, die Schiffe wurden anschließend von der Erdregierung genutzt. Aber was brächte es auch, sie einfach so nutzlos im Raum kreisen zu lassen,  oder gar in der Atmosphäre oder der Sonne zu verbrennen? Die Schiffe wurden durch die Neutronenstrahlung praktisch nicht beeinflusst, sie waren noch einwandfrei benutzbar.

 

Vom Planeten Menta Fünf kommt er? Moment mal, ist das nicht einer der ... mal nachsehen. Ja tatsächlich, Menta Fünf ist ein Seuchenplanet. Und schon seit fünfzig Jahren tot. Der Kapitän muss wirklich schon ziemlich lange unterwegs sein. Dabei ist Menta Fünf doch gar nicht so weit entfernt, der Planet ist von der Erde in gerade mal einem Jahr zu erreichen. Außerdem klingt der Kapitän wie höchstens Mitte dreißig. Eigentlich ist die Sache klar, Schiffe von Seuchenplaneten müssen sterilisiert werden. Aber irgendwas passt da nicht.

 

Am besten, ich spreche das Thema direkt an. "Wie ist die Lage mit der Seuche?"

 

"Mit welcher Seuche?" fragt der Kapitän. "Alle Seuchen sind doch schon seit Jahrhunderten ausgerottet. Also,vor einem Jahr war jedenfalls auf Menta Fünf keine Seuche."

 

Der Kapitän will mir doch nicht im Ernst erzählen, dass er noch nichts von der Seuche gehört hat. Lügt er, um der Sterilisation zu umgehen? Aber warum hat er mir dann seinen Herkunftsplaneten genannt? Es wäre doch viel sicherer gewesen, einfach zu lügen. Gut, früher  oder später wäre es doch herausgekommen, aber es wäre denkbar, dass es erst zu spät aufgefallen wäre, wenn das Schiff schon zu nahe an der Erde ist.

 

Apropos zu nahe an der Erde. Ich habe nicht mehr viel Zeit für die Entscheidung. Konfrontieren wir den Kapitän doch einfach mal mit der Wahrheit. "Das ist nicht Ihr Ernst! Laut unseren Daten ist Menta Fünf schon seit fünf Jahrzehnten der Seuche zum Opferr gefallen."

 

"Dann sind Ihre Daten falsch. Es gibt keine Seuche."

 

Also, entweder ist er ein ganz dreister Lügner, oder … nein, das kann nicht sein. Andererseits klingt er so ehrlich und unbekümmert, kann man das wirklich spielen?

 

Ich schaue aufs Display. Der rote Punkt nähert sich unaufhaltsam der Grenzlinie, die ein verseuchtes Schiff nicht überqueren darf.

 

Ich lege meine Hand auf den roten Knopf. Soll ich ihn drücken? Wenn der Kapitän recht hat, dann würde ich damit nicht nur eine unschuldige und ungefährliche Schiffsbesatzung umbringen. Nein, es würde bedeuten, dass wir auf der Erde nach Strich und Faden belogen wurden, und dieser Kapitän könnte das belegen.

 

Andererseits, was wenn der Kapitän lügt, und das Schiff tatsächlich die Seuche an Bord hat? Dann würde ich effektiv fünfzig Millionen Menschen töten, mich selbst eingeschlossen.

 

Das Schiff hat die Grenzlinie schon fast erreicht. Wenn ich drücke, dann muss ich es jetzt machen, sonst ist es zu spät.

 

Drücken, oder nicht drücken? Das Leben einer Raumschiffbesatzung beenden, oder potentiell das Lebe einer ganzen Planetenbevölkerung? Das ist genau die Entscheidung, die ich eigentlich nicht treffen wollte. Aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Ich muss jetzt handeln, bzw. eben nicht handeln, um genau zu sein, innerhalb der nächsten dreißig Sekunden.

 

Ich hole tief Luft. Dann treffe ich die Entscheidung.



#11 Stahlelefant

Stahlelefant

    Ufonaut

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Geschrieben 15 November 2025 - 10:05

Nicht schlecht, aber man fragt sich, warum der Überwachungssoldat denen nicht einfach sagt, dass sie einen Mindestabstand halten müssen, wenn sie nicht neutralisiert werden wollen. Wenn das Schiff wirklich beschädigt ist, könnte es ja Probleme mit der Funkverbindung geben, die dann irgendwann abreißt. Oder es gibt gar kein Gespräch und der Soldat findet die Infos auf andere Weise heraus … seine Datenbank, Scans …

 

 Dann würde ich effektiv fünfzig Millionen Menschen töten, mich selbst eingeschlossen.

 

Tippfehler, nehme ich an. Vorher war von 50 Milliarden die Rede, nicht 50 Millionen.
 


Nautron respoc lorni virch.

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#12 Tse-Eh

Tse-Eh

    Nanonaut

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Geschrieben 15 November 2025 - 14:33

Danke für die Rückmeldung. Gute Punkte zur Handlung.

 

Tippfehler, nehme ich an. Vorher war von 50 Milliarden die Rede, nicht 50 Millionen.
 

Ja, das hätten 50 Milliarden sein sollen.




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