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Fingerübung 8 Entscheidungen


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#1 Michael Fallik

Michael Fallik

    Ufonaut

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Geschrieben Heute, 20:24

Lieber Mammut, ich hoffe du bist mir nicht böse, weil ich eigenmächtig ein neues Thema erstellt habe: Entscheidungen. Bleibt zu hoffen, dass die Beteiligung diesmal besser ist.


Zwei Enden von Michael Fallik

 

Amerika in seinen besten Zeiten und an einem guten Ort. Harold Tribune, Wahljahr, die Kommunisten abgeschlagen, gute Ernte eingefahren. Es war einer dieser beschissen feuchten Abende, an denen aufsteigender Nebel, Regen und dampfender Schweiß die Fenster verdunkelten. Die Redaktion roch nach Druckerschwärze, kaltem Kaffee und Zigaretten. Aus dem Flur kam Musik vom Radio der Setzerei: eine gedämpfte Trompete, ein langsamer Takt, der durch die Türen sickerte, als würde dahinter eine Jazzband verrecken.

 
Mr. Hale kannte die Frau, die ohne anzuklopfen sein Büro betrat: Mary Holm, eine freie Autorin, die vor ein paar Monaten eine viel beachtete Story für die Sunday-Beilage geschrieben hatte. Er hatte ihren Ton gemocht: klar, knapp, ohne Zierrat.
 
„Miss Holm“, sagte er. „Sie wieder in der Stadt?“
 
„Nur kurz“, sagte sie, öffnete eine speckige Ledertasche und legte ein Manuskript auf den Tisch. Nasse Tropfen perlten von ihrem Mantel ab; die Luft nahm den Geruch von alter Wolle und Regen an. „Ich brauche Ihre Entscheidung.“
 
Er zog das Bündel zu sich, tippte Asche in den Glasaschenbecher und blätterte. Die Geschichte handelte von einem Haus, einer Familie; irgendwo in dem Haus diese Tür, die immer hinunter ins Dunkel führte und die man nicht durchschreiten wollte. Jemand hielt die Familie dort fest. Kein Drumherum. Keine großen Worte. Stühle, angebundene Körper, von Speichel durchnässte Knebel.
 
„Sie haben Ihren Stil nicht verlernt“, sagte er.
 
„Danke“, sagte sie. „Es gibt zwei Enden.“
 
Er hob eine Augenbraue. „Aha.“
 
Sie zeigte auf den Rand der letzten Seite: zwei kleine Kästchen, sauber gezeichnet. Daneben stand: „Hier entscheidet der Verleger.“
 
„Das ist neu“, sagte Hale. Unten kamen die Pressen in Takt; der Boden vibrierte leise. Aus dem Flur wechselte die Musik; eine Klarinette kletterte in Septimen über einem weichen Schlagzeug und verlor sich im Belanglosen.
 
„Ich möchte, dass Sie wählen“, sagte sie. „Alle sterben. Oder alle gehen wieder die Treppe hoch.“
 
Er sah sie an. Ihre Haare glatt zurück, aus der Erinnerung nun heller; der Mantel zu groß, um zu ihr zu gehören. Auf den Schultern pappte noch der Regen, der einen leichten Geruch nach Keller mitbrachte, nach etwas, das sich nachts, abseits der Straßen, im Schatten verbarg. Er kannte sie als präzise, kontrolliert. Kein Spielertyp, der einem damit auf die Nerven ging.
 
„Sie wollen’s blutig oder gnädig“, sagte er nüchtern.
 
„So kann man’s sagen.“
 
Er griff nach seinem Bleistift. „Dann blutig“, sagte er und setzte das Kreuz. „Wenn wir’s drucken, dann mit Biss. Es sind bald Wahlen, der Ruf nach Sicherheit ist gefragt.“
 
Sie nickte. Ihr Gesicht, feucht vom Regen oder austretendem Schweiß; das Büro zu heiß, der Mantel zu dick – spielte keine Rolle. „Verstanden. Bisschen Angst unters Volk bringen.“ Sie schob das Manuskript zu sich, strich die Ränder glatt. „Ich tippe das Ende nach.“
 
„Schicken Sie’s rüber“, sagte er. „Kultur kriegt’s morgen.“
 
Sie stand auf. Der Stuhl kratzte über den Boden. Im Flur fuhr jemand die Radiolautstärke ein wenig hoch; die Klarinette trat zurück, eine heisere Bluesstimme setzte ein, fragend und mit kaum verständlichen Worten. Mary Holm zog umständlich den Kragen des Mantels hoch. Der Regengeruch folgte ihr zur Tür, verdünnte sich draußen.
 
„Gute Nacht, Miss Holm“, sagte er.
 
„Gute Nacht, Mr. Hale.“
 
— — —
 
Draußen roch die Stadt nach Diesel, nassem Asphalt, und auf den Vordächern der Shops trommelte der nachtropfende Regen. Vor dem Diner an der Ecke flackerte ein Neonlicht, dahinter spielte eine Jukebox. Ein zu langsamer Song, um dem Abend gerecht zu werden.
 
Mary ging die leere Straße hinunter. Ihre Absätze klopften auf Holzbohlen, seltsam harmonisch mit dem Takt der Musik. Beton, Pfützen, darin Neonspiegel, bis ihre Schritte alles verwischten.
 
An der nächsten Haltestelle wartete zitternd ihr Bus; der Geruch von Abgasen hing wie bleierner Nebel in der Luft. Der Fahrer suchte vergebens ihren Blick, während sie Kleingeld aus seiner Pranke fischte. In ihrem Kopf modellierte sich der blutige Schluss in knappen Worten. Es war gut, diese Entscheidung zu übergeben.
 
— — —
 
Das Haus war dunkel, nur in der Küche brannte eine kleine Lampe. Das Radio dort war leise eingestellt, eine andere Station, blechern. Der Geruch war bekannt: Seife, kalter Ofen, feuchte Kellertreppe.
 
Mary hängte den Mantel an die Garderobe. Am Ärmel blieb ein dunkler Rand vom Regen. Sie legte das Manuskript auf den Küchentisch, legte sorgfältig frisches Papier daneben. Dann öffnete sie die Kellertür. Die Luft aus der Tiefe war dumpf und roch nach Angst und Urin, mit einer scharfen Note, die wie der Nachhall eines Songs in der Nase blieb.
 
Sie ging hinunter. Holzstufen. Das Summen der Glühbirne. Von oben tickte eine Uhr. Unten wartete das betretene Schweigen eines Raums, in dem ein Stuhlkreis wie eine Uhr ohne Zeiger kauerte..
 
„Es endet jetzt“, sagte sie leise, mehr zu sich als zu jemandem. Aus der Küche sickerte der Refrain des Radios durch die Decke, zwei Takte, drei.
 
Was folgte, war Arbeit. Kein Spektakel. Kurze, entschlossene Bewegungen. Ein Stuhl scharrte. Ein kurzer Aufprall. Entsetztes Stöhnen, das durch feuchten Stoff drang und dann, in krampfhaften Stößen, langsam abklang. Die Musik blieb gleich. Der Regen setzte wieder ein, genau richtig, ein leises Trommeln auf der Fluchttür, die von außen verriegelt war.
 
Als es still war, drehte sie das Licht aus. Am Spülbecken wusch sie sich die Hände. Das Wasser roch nach Chlor, die Seife nach bitterem Gras. Der Geruch im Raum wurde schwerer, süßlich, setzte sich in den Stoff. Sie wischte die Arbeitsfläche ab, ordnete, legte ein blutiges Tuch sorgsam zurecht. Nichts Eiliges. Nichts Unüberlegtes.
 
— — —
 
Später, gegen neun, stand sie wieder vor Hales Tür. Der Regen war feiner geworden, an der Schwelle zu Nebel. In der Redaktion roch es nun nach Streichhölzern, frischer Tinte und der Wärme der Maschinen. Das Radio spielte jetzt schneller: Saxofon, ein aufgeräumtes Schlagzeug, Bass im Hintergrund.
 
„Miss Holm“, sagte Hale und trat vom Fenster zurück. „Persönlich und schnell – ganz Ihr Stil.“
 
„Nur die letzte Seite“, sagte sie und legte ein einzelnes Blatt auf seinen Schreibtisch. „Wie entschieden.“
 
Er las den Schlusssatz: „Es endete blutig.“ Darunter kein weiteres Wort. Er drehte das Blatt um. Leer. Er sah zu ihr, dann auf die Uhr, dann wieder auf den Satz. Ihr Mantel war dunkel vor Feuchtigkeit, bis auf einen hellen Saum an der Kante. In der Luft hing ein sauberer Seifengeruch und etwas Unbestimmbares, das nicht vom Büro stammte.
 
„Knapp“, sagte er.
 
„Sie wollten Biss“, sagte sie.
 
Er nickte, steckte die Seite unter die Manuskriptklammer und griff zum Telefon. „Ich gebe’s in den Druck.“
 
Sie wandte sich zur Tür. Aus der Ferne erklang eine Sirene, suchte sich den Weg durchs Straßenraster, wurde lauter, wie ein einsetzendes Solo, dann wieder leiser, als wäre das Stück endlich zu Ende. Die Frau, die ihm mit einem Male fremd vorkam, blieb kurz stehen, als lausche sie den rotierenden Druckmaschinen, dann zeigte sie ein Lächeln.
 
„Gute Nacht, Mr. Hale.“
 
„Gute Nacht, Miss Holm.“ Aus dem Hörer des Telefons drang ein leiser Song, endlos und ohne Sinn. 
 
Als die Tür zufiel, blieb von ihr ein schmaler, dunkler Abdruck auf dem Teppich. Hale sah auf das Kreuz am Seitenrand, das er selbst gesetzt hatte. Unten stampften die Pressen weiter, zuverlässig und monoton wie immer. Er wog das Manuskript in der Hand, prüfte das Gewicht einer Entscheidung.
 
Draußen im Nebel drang die Musik aus dem Diner an der Ecke noch einen Moment durch die Luft, bevor sie im Regen verloren ging. Das Ende stand. Und es würde sich gut verkaufen lassen.

Bearbeitet von Michael Fallik, Heute, 20:30.

Anas Warnung kam ihm in den Sinn. Vielleicht würde er verrückt werden, vielleicht ein höheres Wesen. Sein alter Körper, der mit pulsierenden Flüssigkeiten gefüllte Sack aus Haut, nur rudimentär mit organischem Kollagen und brüchigen Mineralien gestützt, könnte zerfallen oder wie eine Koralle zu einem intelligenten Verbund aus Polypen erblühen. Zitat EVOLUTION 2.0 

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