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Klassiker der SF: Walter M. Miller Jr. - „Lobgesang auf Leibowitz“ / orig. „A Canticle for Leibowitz“ (1959)

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    Yoginaut

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Geschrieben Heute, 15:44

Wenn ein Roman über siebzig Jahre in Publikation bleibt (und immer noch hohe Auszeichnungen in den All Time Bestenlisten erhält) , dann ist es mit Sicherheit ein zeitloses Werk, das immer wieder seine Relevanz für gegenwärtige Gesellschaften neu beweist. Zwar dem Eindruck seiner Erlebnisse als Soldat im 2. Weltkrieg geschuldet ( er war als Pilot an der Zerstörung des Klosters (!) von Montecassino beteiligt, die historisch als sinnlos betrachtet wird) und der folgenden nuklearen Aufrüstung  ist diese Relevanz nach Ende des Kalten Krieges zu Beginn der 90er in den Hintergrund getreten, aber wie man heute sieht ,nie ganz verschwunden.

 

So fasst Ken MacLeod in der Einleitung in der Neuauflage  des amerikanischen Originals von 2014 treffend zusammen:

 

Die Physiker haben die Sünde erkannt“, sagte J. Robert Oppenheimer 1947 mit Blick auf ihre Verantwortung für die Atombombe, „und sie dürfen dieses Wissen nicht verlieren.“ Dieser Roman behandelt diese Sünde und wie das Wissen darum durch die Wiederholung derselben in katastrophalem Ausmaß verloren gehen kann – und wie diejenigen, die sie vergessen haben, sie immer wieder begehen können.“

 

Die Handlung:

 

In drei etwa gleichlangen Episoden, die im 27. Jahrhundert beginnen (etwa 600 Jahre nach dem globalen Atomkrieg) und sich in selben Zeitabständen über 1800 Jahren erstrecken, nimmt uns Miller auf den über 300 Seiten mit auf eine Reise von beeindruckender philosophischer und theologischer Tiefe. Letztere taucht zwar in die katholische Orthodoxie und Glauben ein, wobei Miller weniger die Institution als die durch den Glauben der Klostermönche die unter den Nachwirkungen der Katastrophe leidenden Menschen zugewandten Art meint.– Millers Verständnis einer  „angewandten“ Orthodoxie in der Praxis. Das manchmal mit Sarkasmus oder Augenzwinkern – wenn es angebracht ist - ohne uns den Ernst der Situation vergessen zu lassen:

 

Jahrhunderte nach der Selbstzerstörung unserer Zivilisation in einem Atomkrieg bewahrt nur die Kirche Fragmente wissenschaftlichen Wissens . Kurz nach dem Krieg gründete der bekehrte, reumütige Waffeningenieur Leibowitz einen Orden, um Bücher vor dem Zorn der Massen zu retten, die Wissenschaft und Bildung für ihr entsetzliches Leid verantwortlich machten. Ein Atomkrieg allein hätte nicht ausgereicht, alles wissenschaftliche Wissen auszulöschen – nur ein darüber in alles zerstörendem Furor geratener Mob der Überlebenden hätten ein solches Jahr Null herbeiführen können - dem auch Leibowitz zum Opfer fällt und ihn für die kommenden Jahrhunderte zum Märtyrer macht.

 

In den Wüstenklöstern des zerstörten Nordamerikas kopieren die Mönche des Albertianerordens Leibowitz immer wieder jedes einzelne Fragment, das ihre oft gemarterten „Bücherschmuggler“ unter größter Gefahr gerettet hatten - ohne zu wissen, um was es sich dabei inhaltlich handelt. Jahrhunderte später trugen aber diese alten Texte – die Memorabilia – dazu bei, eine neue Renaissance zu entfachen und schließlich eine industrielle Zivilisation wiederzubeleben, die unserer technologisch sogar überlegen ist – es gibt Raumfahrt zu den nächsten Sternen.

Und  es ist auch die Kirche , die die Überreste des zivilisatorischen Wissens– und die stark erweiterte Memorabilia - selbst zu den Sternen trägt. Der einzige Hoffnungsschimmer – der Start eines neuen Eden in den Weiten des Kosmos?

 

 

Millers Thema: Gibt es einen Ausweg aus dem Kreislauf des Wiederholens von Aufbau und Scheitern?

 

Miller schildert die Ursache dieses Kreislaufs - als Erkenntnis der Ordensbrüder:


Je näher die Menschen der Verwirklichung ihres Paradieses kamen, desto ungeduldiger schienen sie damit und mit sich selbst zu werden. Sie schufen einen Garten der Freude und wurden mit zunehmendem Reichtum, Macht und Schönheit immer unglücklicher darin; denn dann fiel es ihnen wohl leichter zu erkennen, dass etwas fehlte, ein Baum oder Strauch, der nicht wachsen wollte.
Als die Welt in Dunkelheit und Elend versunken war, konnte sie an Vollkommenheit glauben und sich danach sehnen. Doch als die Welt von Vernunft und Reichtum erleuchtet wurde, begann sie die Enge des Nadelöhrs zu spüren, und das nagte an einer Welt, die nicht länger glauben oder sich danach sehnen wollte.“


 

Noch sichtbarer - nicht nur für Gläubige -  wird die anhaltende Relevanz dieses Buches, indem Miller weiter konkretisiert:

 

Die wiederkehrende Katastrophe wird durch eine Wissenschaft ermöglicht, die ihre Erkenntnisse in den Dienst jedes Herrschers stellen, der ihre Arbeit finanziert, ungeachtet dessen, wofür diese eingesetzt werden.

 

Aber es braucht mehr als Relevanz, um ein Buch über Jahrzehnte lang fast ununterbrochen im Druck zu halten. Ken McLeod formuliert es treffend:  Neben dem reichlichen literarischen Können, ist es ein Lesegenuss, diese kraftvolle, wohlüberlegte Geschichte, von erhabener Tragweite, aber fesselnd im Tempo, die nebenbei einen Schatz an ironischen Beobachtungen und gleichzeitig menschlicher Sensibilität offenbart.

 

Die jahrtausendeumspannende Geschichte wird in Nahaufnahme erzählt. Er vernachlässigt so nicht die sehr persönliche Charkterisierung seiner Figuren mit ihren Bestrebungen und ihrem Scheitern, einem wiederkehrenden Muster von Ereignissen. Der Mensch scheint sein Wesen nicht zu verändern, selbst nicht aus säkularer Sicht durch Wissen. Möglicherweise, so Miller, lässt sich aber unsere Wirklichkeit  nicht allein über die physikalische Realität erfahren: Ob dafür allerdings eine transzendente Ebene nötig ist sei dahingestellt, er tendiert aber wohl dahin: Er setzt dafür die Mönche durch ihre am Glauben praktizierte,  am Menschen orientierte Orthodoxie ein.   Miller streut auch ethische Diskussionen ein - auch als Steine des Anstosses für die Leser selbst -  zwischen den weltlichen Vertreter und den Glaubensbrüdern: zb. ist freiwillige Euthanesie der Strahlungsopfer gerechtfertigt,  so das diese ihre Agonie selbst beenden können. Eine Variation des Themas warum Gott Leiden in der Welt zulässt. Die Schicksale lassen den Leser nicht unberührt und regen selbst zur inneren Stellungnahme an. Miller prüft so seine Mönche und deren Glauben immer wieder aufs eine oder andere.

 

Miller lässt aber durchblicken, das er zwar das Bemühen zum durchbrechen des Kreislaufs nicht gänzlich für aussichtslos hält, es aber an einer wichtigen Essenz fehlt , um diesem zu entkommen, wenn er schreibt:

 

Doch weder unendliche Macht noch unendliche Weisheit konnten den Menschen Göttlichkeit verleihen. Dazu bedurfte es auch unendlicher Liebe.“

 

Aber letztere besitzt kein Mensch seit dem Verstoss aus dem Garten Eden - um im Bild zu bleiben . Miller lässt uns dennoch einen Hoffnungsschimmer in der Diaspora der Raumschiffe mit Siedlern und Mitgliedern des Leibowitz- Ordens zu einer neuen ‚Erde‘ – es bleibt aber offen ob der Kreislauf so zu durchbrechen ist: die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.


Eine Empfehlung auch für alle Leser (ob nun gläubig oder nicht) , die Science-Fiction noch nicht kennen: Miller's Erzählung ist als philosopische SF , die auch Religion einbezieht, weit mehr als nur „Abenteuer im Weltraum“, wie Philip K. Dick einmal ironisch über allzu klischeebehaftete Science-Fiction bemerkte.

 

Walter M. Miller, Jr.

A Canticle for Leibowitz (1959,..., 2014)

Translation: Lobgesang auf Leibowitz [German] (1971)

 

Auszeichnungen

1      1961 Hugo      Best Novel
5      1975 Locus     All-Time Best Novel
7      1987 Locus     All-Time Best SF Novel
7      1998 Locus     All-Time Best SF Novel before 1990
19     2012 Locus Online     20th Century Science Fiction Novel


Bearbeitet von head_in_the_clouds, Heute, 16:03.

"Why should one be afraid of something merely because it is strange?"

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