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Lycidas


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#1 Holger

Holger

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Geschrieben 31 Dezember 2004 - 17:51

Christoph Marzi
Lycidas
Heyne, Dezember 2004
amazon.de


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Inhalt
Die kleine Emily fristet ihr junges Leben in einem Waisenhaus im londoner Stadtteil Rotherhithe. Unter der strengen Leitung des selbstsüchtigen Reverend Dombey stehen unwürdige Arbeiten und drakonische Strafen an der Tagesordnung. Und so verliert Emily im zarten Alter von sechs Jahren durch den Rohrstock des Hausmeisters ein Auge und muss fortan mit einem Glasauge leben.

Eines Tages wird das Mädchen bei der Küchenarbeit von einer Ratte angesprochen, die die verdutzte Emily bittet, gut auf die ebenfalls im Waisenhaus lebende zweijährige Mara aufzupassen. Doch noch in der selben Nacht wird Mara von einem Werwolf geraubt und Emily muss überstürtzt vor der Wut Dombeys aus dem Waisenhaus fliehen.

Lord Brewster, die Ratte aus der Küche, eilt Emily zu Hilfe und ermöglicht ihr ein Treffen mit dem Alchemisten Wittgenstein, der sie zu sich aufnimmt und ihr erstaunliches offenbart: Emily ist eine Trickster, ein Wechselbalg halb Mensch, halb Elfe. Gemeinsam mit dem Elfen Maurice Micklewhite und Aurora Fitzrovia, Emilys bester Freundin aus dem Waisenhaus, steigen die beiden hinab in die uralte Metropole, um die kleine Mara wieder zu finden. Diese scheint als Erbin eines der mächtigsten Häuser der uralten Metropole, einer Stadt unter der Stadt in der allerhand bizarre Wesen Tunnel, Höhlen und Grüfte bevölkern, eine gewichtige Rolle zu spielen.

Aber nicht nur Mara, sondern auch zahlreiche andere Kleinkinder verschwinden in diesen Tagen aus London. Hinter allem scheint der neue Herrscher im Londoner Tower, der geheimnisvolle Master Lycidas, zu stecken. Doch wer ist dieser Lycidas wirklich und wozu braucht er die Kinder?


Kritik
LYCIDAS ist ein ideenreicher Andersweltroman, der mit knapp 850 großformatigen Seiten doch recht umfangreich ausgefallen ist. Die Handlung ist in drei Bücher unterteilt (LYCIDAS, LILITH und LICHT), die eigentlich als eigenständige Romane durchgegangen wären.

Wer die Zusammenfassung liest kommt schnell auf den Trichter: Marzi ist ein Verehrer Gaimans und so finden sich zahlreiche Elemente aus NIEMALSLAND und AMERICAN GODS in der Handlung wieder. Das muß nicht unbedingt schlecht sein: da ich beide Titel sehr schätze war die Hommage an Gaiman sogar der Kaufgrund Nummer Eins! Der Plot ist in der heutigen Zeit angesiedelt und ein schneller Happen bei McDonalds steht in scharfem aber attraktivem Kontrast zu der Charles-Dickens-Kulisse der Londoner Elfenwelt und den gaimanschen U-Bahnschächten.

Marzi hat sich für seine Erzählung wirklich eine Menge einfallen lassen und verflechtet eine solche Fülle an Ideen und Versatzstücken der Literatur und der (urbanen) Mythenwelt, dass der Leser zuweilen fast ein wenig überfordert ist. Eine glänzende Story mit Spannung und viel Lesespaß ist dennoch garantiert.

Allerdings gibt es mitunter auch an den raffiniertesten Gerichten noch etwas nachzuwürzen: Wie ich schon erwähnt habe vereint der Roman drei (in sich nahezu abgeschlossene) Bücher. Leider verpufft das Interesse des Lesers nach ca. 300 Seiten mit dem Ende des ersten Buches nahezu. Dann nämlich, wenn er feststellen muss, dass alle Geheimnisse um Lycidas augenscheinlich gelüftet sind. Ein kleines konzeptionelles Problem des Verlages scheint mir. Ein 300-Seiten Roman wäre hier durchaus ausreichend gewesen und der Leser hätte selbst entscheiden können, ob er die Fortsetzung kaufen möchte oder nicht.

Schriftstellerisch versteht Marzi sein Handwerk wohl sehr gut, allerdings hat er sich zu meinem Bedauern dazu entschlossen, die Geschichte aus der Perspektive Wittgensteins zu schildern. Der kommt ein wenig zu hölzern daher und ist dem Leser auch nach 400 Seiten noch fremd. Da er in zahlreichen Passagen gar nicht erst auftaucht gilt es bei der nächsten Schilderung aus der Ich-Perspektive schnell wieder umzuschalten, was bei mir manchmal etwas länger dauerte. Eben dieser Wittgenstein nervt auch den Leser mit sich ständig wiederholenden (kurzen) Phrasen ("Dieses Kind!", "Es gibt keine Zufälle!"). Ein strafferes Lektorat wäre hier angeraten gewesen. Das betrifft auch die Vorschauen und Nachbesprechungen, welche die Handlung ein wenig überfrachten.

Fazit
Ein toller Andersweltroman für ein gemütliches Winterlesevergnügen, dass gerne etwas knapper hätte ausfallen dürfen. Wem das nichts ausmacht: Ideen, Atmosphäre und Spannung biete LYCIDAS in Hülle und Fülle.
"Rezensionen: eine Art von Kinderkrankheit, die die neugeborenen Bücher befällt."
(Georg Christoph Lichtenberg)


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