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Gerhard Branstner - Vom Himmel hoch


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#1 lapismont

lapismont

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Geschrieben 03 Februar 2005 - 17:58

Vom Himmel hoch oder Kosmisches Allzukomisches. Utopische Lügengeschichten von Gerhard Branstner

Vom Himmel hoch - der Titel ist bei einem wie Gerhard Branstner keine plumpe Titelei. Es steckt wohl mehr dahinter. Denn hoch oben, im Himmel, über den Menschen der Erde, sitzen vier Weltraumveteranen im Wirtshaus "Zum müden Gaul" und flunkern sich die Langeweile weg. Das ist göttlich.
Oder auch nicht. Denn mit der Logik nimmt es dieses kleine Büchlein schon sehr genau.
Die vier munteren Erzähler sind Wirsing - der Himmelsgärtner, dessen Haare sich natürlich wie ein Wirsing kräuseln; Stroganoff - der Raumkoch; Kraftschyk - der ehemalige Physiker, aufgrund seiner Arbeiten mit der Schwerkraft auch der Schwerenöter genannt und Fontanelli - der Automatendoktor, der eine Klinik für übergeschnappte Roboter geleitet hatte.
An drei Abenden erzählen sie sich bei einigen Flaschen Wein erstaunliche Geschichten über Roboter, ferne Welten und natürlich über das unmöglich Mögliche. Da die Geschichten absichtlich erlogen sind, hat der wissenschaftliche Aspekt eher unterhaltenden Charakter und wird immer wieder verwendet, um am scharfen Menschenverstand gemessen und mit listiger Lust der Heiterkeit übergeben zu werden.
Die einzelnen Geschichten müssen sich einer eifrigen Hinterfragung durch die Vier unterziehen. Dramaturgische und logische Besonderheiten werden in aller Genüsslichkeit seziert und jede Schwäche ins Rampenlicht gezerrt. Damit gelingt Gerhard Branstner der Trick, sich selbst jeglicher Kritik zu versagen, da er sie stets gleich mitliefert. Ebenso lässt er seine alten Helden die Moral der Geschichten finden, um ja keinem Leser zu verbergen, welche Pointen der Autor klug versteckte oder offen zu Tisch trug.

Der erste Abend beginnt stimmungsvoll mit der Frage, wie eine Lügengeschichte zu beginnen habe, um als solche zwar erkennbar zu sein, aber nicht durch ihre offensichtliche Unwahrheit für eine versteckte Wahrheit gehalten zu werden. Dieser Einstieg in die sich selbst beständig nivellierende branstnersche Logik, stellt uns die einzelnen Erzähler kurz und anhand ihrer argumentativen Tendenzen vor.
Die vier Helden werden als schlagfertige Kauze eingeführt, die zwar alt, aber nicht vertrocknet sind.
Der Himmelgärtner beginnt mit Die haarsträubende Rettung aus tödlicher Gefahr. Aus der tödlichen Falle fleischfressender Pflanzen entkommt man hier tatsächlich durch Haaresträuben und einer Reminiszenz an Wilhelm Buschs "Max und Moritz", vom Autor wohl nicht ohne Absicht gleich zu Beginn des Büchleins erwähnt.
Es dürfte wohl schwerlich eine andere SF-Geschichte geben, die ihren Plot auf Busch zurückführt. Branstner lässt den Leser auch gleich wissen, worin seiner eigenen Meinung nach das Besondere an dieser Geschichte besteht:

«Max und Moritz», erklärte Kraftschyk, «haben mit ihrem Streich ihren Witz bewiesen, nicht mehr. Wirsings Gefährten aber haben mit ihrem Witz die Überlegenheit des menschlichen Geistes über die Natur bewiesen.»

Stroganoff versucht mit Die Sonne im Schlepptau zu beweisen, wie ganz und gar unmöglich etwas sein kann. So fliegt ein unmöglich großes Raumschiff mit unmöglich großer Geschwindigkeit beständig über die Grenzen des Weltalls hinaus und kann erst durch das Einfangen eines Sternes mit Hilfe eines Netzes gebremst werden.
Doch Branstner lässt in der anschließenden Diskussion Kraftschyk argumentieren, das in einem unendlichen Weltall auch die Möglichkeiten unendlich seien. Der Beweis für eingefangene Sterne wird aber geschenkt - wer weiß ob dem Autor auch hier eine logische Spitzfindigkeit eingefallen wäre.

Der Automatendoktor darf in Der Narr im Waisenhaus eine Robotergeschichte zum besten geben, in der es, ähnlich einem Volkstheaterstück, um Verwechslungen und Verkleidungen geht. Ein Ulk, der aber mit einem Thema spielt, dem Branstner immer wieder nachgeht: Das Gedächtnis und dessen selektive Speicherung von Erinnerungen und Gefühlen. Wie in Der negative Erfolg stellt sich der Autor hier die Frage, wie wichtig das Vergessen für die geistige Gesundheit des Menschen ist. Und wie verhält es sich dem gegenüber mit Robotern?

Um Zeitdilatation und Relativität geht es in Kraftschyks Geschichte Die Begegnung mit dem wahren Irrtum. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich ohne größere Probleme von seiner zänkischen Frau zu trennen, verfällt ein Mechaniker auf die Idee, mittels Zeitdilatation deren Tod auszusitzen und als freier Witwer zurückzukehren. Seine Kollegen vom Müllentsorgungsraumschiff Dschunke versuchen ihm den Schmarren auszureden, aber vergeblich. Es kommt sogar noch schlimmer: Unterwegs gabeln sie den lebenden Beweis dilatierender Zeit auf.
Natürlich darf Kraftschyk in seiner eigenen Geschichte mehr flunkern als die Anderen und so bekommt er auch im Anschluss zu hören:

«Das ist ein starkes Stück!», rief Fontanelli.
«Erst singst du eine ganze Geschichte lang ein Hohelied des Möglichen, indem du alles Unmögliche verdammst, und am Ende gibst du, ohne mit der Wimper zu zucken, die ganze Geschichte als unmöglich preis.»

Der zweite Abend beginnt mit Der eiserne Schildknappe, in der Stroganoff eine rührselige Geschichte über seinen treuen Roboter Jimmi erzählt, der im Laufe der Geschichte an Stroganoffs Stelle die Großvaterrolle bei dessen Enkeln übernimmt.
Gerhard Branstner berichtete in einem Interview in diesem Zusammenhang von einer Lesung, in der die Stelle:

Kinder wollen nicht nur Kinder, sie wollen auch Enkel sein, wie sie später nicht nur Eltern, sondern auch einmal Großeltern sein wollen, weil ihnen sonst irgendetwas fehlt. Einem Tier würde nichts fehlen, weil das keinen Enkel oder Großvater braucht. Das ist wohl auch so ein Unterschied.

bei einer alten Dame zu trauriger Erregung führte.
Das Ersetzen menschlicher Funktionen durch Roboter führt auch in Bereiche, die so offensichtlich gar nicht sind.

Nachdem Kraftschyk die Erzählung unter besonderem Hinweis auf die branstnersche Technik der heiteren Verstellung in den Kanon der Lügengeschichten einreihte, legt er selbst mit Kumpelfings im Weltraum einen Scheit Skurrilität in das Feuer der Unmöglichkeit.
Kumpelfings picknicken nämlich nicht im Stadtpark, sondern fliegen mit ihrem Raumschiff Flaschenkürbis zum Rande des Sonnensystems, rollen eine Decke Schwerkraft aus, die vom Filius mit grüner Farbe eingefärbt und mit sechs Stunden Wetter, überwiegend heiter, zu einer bequemen Örtlichkeit veredelt wird.
Da an solch einem netten Familienausflug nicht wirklich etwas spannendes zu finden ist, endet die Geschichte auch sofort wieder nach etwas Büchsengekicke und Palaver.

Das die Geschichte recht dünn ist, bemerken auch die anderen Weltraumveteranen, deshalb geht es auch ohne große Umschweife weiter mit Die Kometenpost.
Der Weltraumgärtner berichtet von einer Rettungsaktion für eine verdurstende Welt, die er nur rechtzeitig erreichen und mit lebensnotwendiger Kulturerde versorgen konnte, indem er als Reisemittel einen vorbeiziehenden Kometen nutzte. Durch die ungewöhnliche Anreise, als höheres Wesen betrachtet, macht Wirsing dem Spuk ein Ende, indem er energisch nach Nahrung verlangt, was höhere Wesen eigentlich nicht tun. Da das nun schon die ganze Geschichte war, stößt Wirsing nicht gerade auf Begeisterung bei seinen Zuhörern. Jedoch lässt Branstner die Geschichte mit einem Witz enden, in dem er aus der Erde die mit der Kometenpost kam, den Kompost ableitet.

Fontanelli beschließt den Abend mit einer weiteren Robotergeschichte Der durchgebrannte Nothelfer, in der es um einen entflohenen Roboter geht, dessen Aufgabe es war, die Probleme seines Besitzers zu übernehmen. Dadurch aber wurde der Mensch recht träge und antriebslos. Da konnte nur ein Arzt helfen. Jedoch übernahm der Nothelfer logischer weise auch dieses Problem und ging an des Menschen statt zum Arzt. Der rät ihm, den Schwierigkeiten nicht mehr aus dem Weg zu gehen, also werden die Scheiben des Chefs eingeworfen und der Schwager verprügelt, wie Roboter es halt so tun.
Doch auch die unernste Drohung, die Ehefrau umzubringen, gerät nun in die möglichen Ziele des Nothelfers, was den Mann zur Polizei treibt, um seine Frau in Schutzhaft nehmen zu lassen.
Erneut wird in dieser Geschichte eine Stellvertreterfunktion des Roboters untersucht, trotz aller verwickelten Komik, eine hintergründig gruselige Sache, auch wenn die Pointe das alles wieder etwas entschärft.

Den dritten Abend eröffnet der Automatendoktor natürlich mit einer Robotergeschichte: Der verliebte Roboter. Zwar wird hier das künstliche Wesen tatsächlich als Werkzeug benutzt, doch die Grenzen maschineller Existenz und Fähigkeiten bringen einiges zum Krachen. Branstner sucht nicht die großen Konflikte, er wird in den kleinen fündig.
Dass sich die Stammtischexperten anschließend über die Fehlerhaftigkeit robotischer Nachahmung unterhalten und in ihr den Schlüssel zu Geschichte finden, ist der Geschichte nicht abträglich, macht sie nur noch amüsanter.

Stroganoff kontert diese hintersinnige Story mit Das entlaufene Perpetuum mobile, in der eine durchdrehende Klimamaschine mit dem Rezept für Streuselkuchen im Speicher fortläuft und die heißhungrigen Menschen zwingt, das Rezept neu zu erfinden.

Wie aber erfindet man etwas das zweite Mal, was das erste Mal gar nicht erfunden wurde?

Dieser Gedankengang ist typisch für die branstnersche Logik, die ihre Komik aus Fragen bezieht, die zwar einfach zu stellen, aber kaum zu beantworten sind, obwohl sie so tun, als ob es doch möglich sei. Selbst im Trivialsten liegt tiefe Philosophie, will uns der Autor hier zuflüstern.

Wirsing treibt hingegen ein anders Spiel: Das Königsspiel. Indem eine aus lauter Männern bestehende Raumschiffsmannschaft in einer matriarchalischen Gesellschaft landet und dort an jenem Spiel teilnehmen, dessen Gewinner König wird. Dieses Spiel aber ist ein Kartenspiel, in dem man gesellschaftliche Aufgaben und ihre Bedingungen zusammensammeln muss.
Jedoch es stellt sich heraus, das Männer für derlei Staatsgeschäfte gänzlich ungeeignet sind.

Die Liebe ist das Verbindende, und wenn es nichts Trennendes mehr in der Gesellschaft gibt, entspricht die Gesellschaft dem natürlichen Beruf der Frau.

Und wie ließe sich diese These besser beweisen, als mit einem Blick auf die eigenen Ehen?

Nach diesem Loblied auf die weibliche Herrschaft beschließt Kraftschyk den Abend und das Buch mit Vom Himmel hoch. Die Energienotleidende Menschheit beginnt den Bau gigantischer Sonnenkraftwerke, gegen die Rufe des einsamen Mahners, den man zum Mond schickt um ihn loszuwerden. Von da muss man ihn zurückholen, da er der Einzige ist, der das Projekt retten kann. Indem er es aber rettet, sorgt er auch für sein Scheitern. Die Aufhebung der Schwerkraft, die hier zur alternativen Energieerzeugung genutzt wird, nimmt Branstner als Anlass für die These, dass jegliche Wissenschaft nur eine bestimmte Stufe der Treppe zur Physik, jede Gesellschaftswissenschaft eine Stufe der Treppe zur Ästhetik darstellt.
Und mit der Feststellung, das nach der physikalischen Schwerelosigkeit die ästhetische Schwerelosigkeit den endgültigen Zweck des Menschen benenne, endet das Buch mit genau jener unfasslichen komischen Verwirrung, deren Auswirkung ein tiefes Grinsen im Gesicht des Lesers ist.

Man kommt nicht umhin, einen großen Anteil der Wirkung dieses Büchleins in den großartigen Illustrationen von Horst Bartsch (1926 - 1989) zu sehen. Verspielt und filigran, zumeist auf zwei Seiten verteilt, unterstützen sie das Unwirkliche der Lügengeschichten und setzen sie zum Teil auf einer bildlichen Ebene fort, die nicht einfach surreal ist, sondern darüber hinaus mit frappierender Einfachheit Spaß machen.

Eine derartige Verbindung von grafischer Ausstattung und literarischem Inhalt ist selten geworden. Umso schöner wird dieses kleine bibliophile Schätzchen: Vom Himmel hoch.

Branstner, Gerhard: Vom Himmel hoch. Das Neue Berlin, 2. Auflage 1975

Überlicht und Beamen wird von Elfen verhindert.

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#2 Thomas Sebesta

Thomas Sebesta

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Geschrieben 04 Februar 2005 - 09:52

Also, die Art der Besprechung gefällt mir - man bekommt richtig Lust drauf - hat was für sichGrußThomas

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#3 tichy

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Geschrieben 04 Februar 2005 - 11:26

"Käpt'n Blaubär im Weltraum", was? :lol:Klingt interessant!-- tichy
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#4 lapismont

lapismont

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Geschrieben 04 Februar 2005 - 11:28

Durchaus vergleichbar. Münchhausen geht auch in die Richtung.Erstaunlicherweise ist die Welt voll solcher Bücher, die irgendwie vergessen werden.Aber sich damit zu beschäftigen, macht Spass!

Überlicht und Beamen wird von Elfen verhindert.

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#5 sarah may

sarah may

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Geschrieben 04 Februar 2005 - 18:48

Da kann ich nur zustimmen, es macht Spass !Auch so schön von Gerhard Branstner ist für mich:"Die Reise zum Stern der Beschwingten"Ich habe die 6. Auflage von Hinstorff Verlag Rostock 1977, ich glaube aber die 1. Auflage war 1968, weiss ich aber nicht genau. Leider kann ich nicht so tolle Buchkritiken schreiben, wie mein Vorredner. Deshalb zitiere ich den Autor, was er unter den Titel geschrieben hat:Zitat"Schilderung der galaktischen Erfahrungen etlicher Erdenmenschen, die versehentlich in die Milchstraße geraten sind, nach mancherlei erlittenem Ungemach aber glücklich wieder daheim anlangen."Zitat/EndeDie Helden sind Piccolomini, Schimansky und Professor Hedderich, der Leiter der Expedition. Sein Lieblingskommetar ist: "Erinnere mich .... und dann erinnert er sich meistens an ganz kuriose Sachen. Ihr Raumschiff heißt übrigens "Bommel". Ist ein ziemlich altes Ding, so eine richtig gemütliche Kugel ...nun ja... Ihr seht schon, ich kann so was nicht schreiben. Solltet Ihr aber trotzdem mal lesen, wenn Ihr mögt. Ich find es immer wieder schön.Sarah


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